Fremdes Zuhause

Shumona Sinhas Roman „Kalkutta“ erzählt von einem Indien der Vergangenheit

Von Rosa EidelpesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rosa Eidelpes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Niemand kehrt heim“ – das sind die letzten Worte von Kalkutta, dem neuen Roman aus der Feder der indisch-französischen Schriftstellerin Shumona Sinha. Nach ihrem mehrfach preisgekrönten Buch über das marode Asylsystem in Frankreich, Erschlagt die Armen, liegt nun mit Kalkutta der dritte Roman der in Paris lebenden Autorin vor. Die von Lena Müller besorgte deutsche Übersetzung erschien im August 2016 im Nautilus Verlag. Stellte Erschlagt die Armen die Realität globaler Migration und die Absurdität westlicher Regulierungsversuche in aller Drastik aus, so nähert sich Kalkutta nun dem Thema Migration auf sehr persönliche und, so darf vermutet werden, zumindest teilweise autobiografische Weise.

Der Roman erzählt die Reise der Erzählerin Trisha in die titelgebende Stadt ihrer Kindheit – und in ihre eigene Vergangenheit. Nach langjährigem Exil kehrt die Protagonistin nach dem Tod ihres Vaters nach Kalkutta zurück. Die Bevölkerung boomt, die Stadt platzt aus allen Nähten. Trisha erlebt die Millionenstadt als beklemmend dichtgewobenes Fleckenwerk aus verfallen Bauten und emporstrebender neuer Architektur, als „Pythonschlange, die nicht verdauen kann, was sie gefressen hat.“ Im Haus ihrer Eltern angekommen, wird sie von Kindheitserinnerungen eingeholt, aus denen sich die Handlung des Hauptteils entspinnt: Kalkutta der 1970er-Jahre, Trisha wächst als einziges Kind von Shankhya, einem überzeugten Anhänger der kommunistischen Partei Indiens, und Urmila, einer depressiven Lehrerin, auf. Der Roman verknüpft die Familiengeschichte mit der Geschichte einer sich wandelnden indischen Gesellschaft, die sich in rasantem Tempo auf die Gegenwart zubewegt. Der Fokus liegt auf der politischen Entwicklung Westbengalens seit Mitte der 1970er-Jahre: Die politischen Hoffnungen des Vaters werden durch den Aufstieg des radikalen Hindu-Nationalismus und durch den sich zuspitzenden Konflikt zwischen den radikalmaoistischen Naxaliten und der staatlichen Regierung zerstört. In den 1970er Jahren-verfolgt und terrorisiert die Kongresspartei unter dem Vorsitz Indira Ghandis in Westbengalen zahlreiche Kommunisten, der Vater entgeht der Verhaftung nur knapp. Dessen Hoffnungen und Enttäuschung sind es auch, die im Mittelpunkt des Romans stehen.

Einfühlsam nähert sich die Erzählung aus der Perspektive des Kindes Trisha diesem Vater, der sich ebenso innig um Frau und Kind sorgt wie um die Revolution. Er ist die Identifikationsfigur seiner Tochter – und mit ihm bezieht der Roman Position gegen Religion, Nationalismus und die Politik der staatlichen Regierung. Angeklagt werden nicht nur die massiven Menschenrechtsverletzungen, die in Indiens „blutigen Jahren“ vonseiten der Regierung gegen die Kommunisten verübt wurden und die der Roman als „quasi-faschistischen Terror der Kongresspartei in Westbengalen“ geißelt. Auch die Partei Mamata Banerjees, die seit 2011 in Westbengalen regiert, wird als Unterstützer der von der Staatsmacht angeordneten paramilitärischen Offensivschläge gegen die Maoisten und Kommunisten in Westbengalen gebrandmarkt und als Wiedergänger der Gewalt der 1970er-Jahre angeprangert:

Vierzig Jahre, nachdem ihr Vater und seine Freunde bedroht, eingeschüchtert, ins gleißende Licht der Scheinwerfer gezerrt worden waren, während der Rest der Stadt in der Dunkelheit versankt, wird im Frühjahr 2011 die rechte Opposition wieder an die Macht kommen. Journalisten, die die Regierung von Mamata Banerjee kritisieren, werden eingesperrt, Karikaturisten damit bedroht werden, dass man ihnen die Hand abhackt, die Mitglieder der Kommunistischen Partei werden angegriffen, entführt, umgebracht werden. Wer weiß, vielleicht war es besser, dass Trishas Vater vor dem Blutbad gegangen war, vor dem neuen Regime, in der Zeit des Abwartens, des Zweifelns, des Zögerns.

Mit der politischen Auflösung Westbengalens einher geht die Auflösung von Trishas Familie: Der Vater zieht sich aus Verzweiflung über die politischen Entwicklungen zurück, Trishas Mutter ist bereits zum Zeitpunkt der Eheschließung depressiv, Grund ist ihre unglückliche Liebe zu einem in den politischen Wirren der 1970er-Jahre verschwundenen Wortführer der linken Studentenbewegung. Auch sie krankt also im übertragenen Sinne an der ausgebliebenen Revolution.

In seiner kritischen Reflexion über die jüngste Vergangenheit Indiens ist Kalkutta ein durchaus politischer Roman. Doch die kindliche Perspektive Trishas, aus der diese Ereignisse größtenteils erzählt sind, eröffnet eine ebenso subjektive wie leicht distanzierte Perspektive auf das Westbengalen der 1970er-Jahre. In ihrer hochpoetischen und bildhaften Sprache beschreibt Sinha vor allem die sinnlichen Eindrücke Trishas, die Düfte, Farben und Geräusche ihrer Kindheit. Weil es sich dabei um die Beobachtungen eines Kindes handelt, wirkt eine solche Schilderung Indiens nicht exotisierend, sondern gehört zur kindlich-magischen Weltsicht. Die kindliche Perspektive ermöglicht es auch, die Ambivalenzen der politischen Radikalität zu thematisieren:

Ihre langen Hemden aus Khadi, die sie über der Hose trugen, ihre zerzausten Haare, ihre verstreut herumliegenden Bücher, die Saris ihrer Freundinnen mit langen Zöpfen, der Teppich, alles verströmte einen starken Geruch. Den Geruch eines zweiten Lebens, eines geheimen, asketischen Lebens, das das Leben im Haus, den Alltag aus Curry und verbrannter Milch an den Rand drängte. Die Farben verblassten und vermischen sich zu einem monotonen, verwaschenen Sepiabraun. Es war, als hätten sie sich um ein unsichtbares, heiliges Feuer versammelt, als wären ihre Gespräche geflüsterte Mantras, erstickte Slogans. Ihre politischen Überzeugungen hatten etwas Religiöses, sie waren Missionare der modernen Zeit.

Der Roman zeichnet Kalkutta als eine politische Welt, die bereits dem Kind Trisha fremd bleibt. Dieses Gefühl der Fremdheit zieht sich wie ein roter Faden in die Gegenwart der erwachsenen Erzählerin. Es wird nun zum Gefühl der endgültigen und absoluten Entfremdung. Der Heimat ihrer Kindheit kann sich Trisha nur mehr über die Erinnerungsbruchstücke nähern, die in Proust’scher Manier beim Streifzug durchs Elternhaus über sie einbrechen. Die Erzählerin signalisiert diese Entfremdung, indem sie ihre Vergangenheit nicht aus der Ich-Perspektive, sondern in der dritten Person beschreibt. Für sie selbst, die ihr Zuhause einst als Migrantin verlassen hat, ist Fremdheit ein Zustand geworden, der auch durch die Rückkehr in die einstige Heimat nicht aufgehoben werden kann: „Niemand kehrt heim“. Der Titel Kalkutta ist in diesem Sinne konsequent gewählt, denn Kalkutta, das seit 2001 offiziell Kolkata heißt, gibt es nicht mehr.

Was bleibt also im Zustand der Fremdheit noch von der Heimat? Edmond Jabès, dessen Zeilen dem Roman vorangestellt sind, hat es so ausgedrückt: „Meine Heimat ist meine Sprache“. Schreiben, sich die eigene Vergangenheit erschreiben, das ist die einzige Möglichkeit, in der Fremde zu Hause zu sein.

Titelbild

Shumona Sinha: Kalkutta. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Lena Müller.
Edition Nautilus, Hamburg 2016.
192 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783960540106

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