Zwischen den Mahlsteinen der Zeit

Zum zehnten Band der Erich-Mühsam-Tagebuchedition

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jeder Tag dieser wahnwitzigen Epoche ist angefüllt von Ungeheuerlichkeiten, die in der Geschichte ihren bleibenden Platz finden werden; aber wir Mitlebende, zumal wir zwischen die Mahlsteine der Zeit Geratenen erkennen kaum in all dem Sterben und Werden, Schaffen und Zerstören die Drehpunkte des Weltgeschehens und müssen uns bei den täglichen Aufzeichnungen auf ein Sackgreifen beschränken, ohne zu wissen, ob wir nicht die allerbeträchtlichsten und umwälzendsten Ereignisse ganz übersehen.

Mit diesen Worten resümiert der 43-jährige Erich Mühsam am 8. März 1922, zu dieser Zeit im bayerisch-schwäbischen Niederschönenfeld in Festungshaft, eine große ihn umtreibende Besorgnis: im historisch entscheidenden Moment an den Umwälzungen der Zeit nicht selbst aktiv teilnehmen zu können, ja sie womöglich nicht einmal rechtzeitig zu registrieren. Denn die Tage sind lang und oft auch langweilig in der Festung. Jede von außen hereindringende Nachricht, wenn auch gefiltert, wird begierig aufgenommen und diskutiert. Innerhalb der Festung bemüht sich die Obrigkeit, die Häftlinge mit nicht enden wollenden Schikanen zu zermürben, und oft genug finden ihre Anstrengungen diesbezüglich dankbar Aufnahme in den kleinlichen Fraktionskämpfen der verschiedenen Häftlingsgruppen.

Erich Mühsam protokolliert dies alles und seine Gedanken dazu ausführlich. Das wiederum belegt eindrücklich der im vergangenen Jahr erschienene zehnte Band der Mühsam-Tagebuchedition, der zwei zwischen dem 21. Januar und dem 5. Juli 1922 entstandene Tagebuchhefte versammelt. Ein halbes Jahr an Aufzeichnungen auf nun beinahe 400 Druckseiten – die Relation belegt sowohl Mühsams Mitteilungsbedürftigkeit  als auch das Maß der ihm zur Verfügung stehenden Zeit. Wie bereits angedeutet, schließen die wichtigen Themen seiner Aufzeichnungen nahtlos an das Vorjahr an. Einerseits ist da der von Mühsam minutiös berichtete Haftalltag, mit einer Anstaltsleitung, die beständig unter dem Vorwand, die Disziplin erhalten und aufrührerischen Tendenzen vorbeugen zu müssen, die Haftinsassen drangsaliert, unter denen Mühsam als unbeugsamer Anarchist zwischen Sozialisten und Kommunisten oft genug auf wenig Solidarität stößt. Seine nüchterne Schlussfolgerung im Hinblick auf zu befürchtende weitere zwölf Jahre Haft: „Besser bekäme es mir aber wohl, wenn ich nicht ganz bis zum Juni 1934 der Arbeitsgemeinschaft der Kommunisten, Sozialdemokraten, Parlamentsnarren und Regierungsbüttel zur beliebigen Peinigung ausgeliefert bliebe.“

Die Möglichkeit einer Amnestie rückt andererseits durch äußere Ereignisse näher. Reichsjustizminister Gustav Radbruch bereitet eine entsprechende Vorlage vor, was sein einstiger Schulkamerad Mühsam wie alles, was er durch Presse und Besuche erfährt, zwischen Anerkennung und Enttäuschung schwankend aufnimmt. Die junge Republik ringt mit sich selbst, mit wirtschaftlichen Problemen, mit Streikwellen, mit den Siegermächten des Krieges und ihren Reparationsforderungen und mit ihren inneren Feinden, die in Bayern immer noch die Staatsregierung stellen. Als problematisch erweist sich angesichts seiner ausgedehnten Korrespondenz für Mühsam die zunehmende Inflation; 13 Briefe schreibe er pro Woche, rechnet er vor, ab 1. Januar 1922 koste das 24 Mark – bei insgesamt 35 Mark wöchentlichem Taschengeld. Mit der Konferenz von Genua und dem Rapallo-Vertrag findet Deutschland im Frühjahr einen Weg zurück an den Tisch mit den Siegermächten des Krieges. Im Juni schließlich wird Außenminister Walter Rathenau ermordet. Stets spiegeln sich die äußeren Ereignisse in Mühsams Aufzeichnungen wider, und doch fürchtet er, vielleicht das Entscheidende zu verpassen im Hinblick auf den Umsturz, den er, ob von rechts oder links kommend, erwartet.

Mühsams Aufmerksamkeit, seine Sensibilität, ja auch Hellsichtigkeit angesichts der Vorgänge außerhalb sind auch beinahe ein Jahrhundert später immer noch lesenswert. Der Tagebuchschreiber ringt mit der Wirklichkeit vor dem Hintergrund des so oft kleinlichen Wahnsinns des Haftalltags.

Wir dürfen ihn hier als Nachdenklichen erleben, aber auch als Kompromisslosen und Unbeugsamen. Medium des Weltbezugs und des Realitätsverlusts, so bezeichnet Chris Hirte in seiner Nachbemerkung diese Tagebücher. Man sollte sich freilich vergegenwärtigen, worauf Hirte ebenso hinweist: Zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt, hat Mühsam zu diesem Zeitpunkt gerade einmal drei Jahre seiner Strafe abgesessen. Und obschon die wechselnden politischen Stimmungslagen im Reich den Gedanken einer vorzeitigen Entlassung nicht unwahrscheinlich machen – seine Hoffnung richtet sich immer wieder darauf, und schließlich wird er ja auch Ende 1924 amnestiert werden –, gilt dasselbe auch für die düstere Alternative: für den Strick, wie er am 13. April in sein Tagebuch notiert. „Dunkles Vorwissen“ nennt Hirte, was da bei Mühsam immer wieder durchschimmert, obwohl es als das natürlich erst rückblickend verständlich wird, im Gegensatz zu den ebenso durchschimmernden Hoffnungen, die sich als vergeblich erweisen werden. In der Gegenwart des Jahres 1922 ist diese Zukunft allerdings noch nicht geschrieben.

Titelbild

Erich Mühsam: Tagebücher. Band 10. 1922.
Herausgegeben von Chris Hirte und Conrad Piens.
Verbrecher Verlag, Berlin 2016.
450 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426864

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