In der Fremde unerwünscht

In sieben Geschichten lässt Petros Markaris moderne Nachfahren des klassischen Irrfahrers Odysseus auftreten

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den meisten Lesern hierzulande ist der griechische Autor Petros Markaris (Jahrgang 1937) als Verfasser von Kriminalromanen bekannt. Insgesamt neunmal ließ er bisher seinen Athener Kommissar Kostas Charitos ermitteln – zuletzt im Rahmen einer Trilogie zur Griechenlandkrise, der er noch einen vierten Band nachschob, als die Misere länger dauerte als geahnt. Aber Markaris ist auch Dramatiker, arbeitete als Ko-Autor des Filmemachers Theo Angelopoulos und übersetzte Goethes Faust und Stücke von Bertolt Brecht für das griechische Theater. Wer zudem den 2008 auf Deutsch erschienenen, autobiografische Züge tragenden Band Wiederholungstäter. Ein Leben zwischen Istanbul, Wien und Athen kennt, weiß, dass Markaris als Sohn eines armenischen Vaters und einer griechischen Mutter jeglicher Fremdenhass suspekt ist und er sich immer auf die Seite derjenigen stellte, die in der wechselvollen Geschichte der Balkanstaaten als Minderheiten verfolgt wurden. In Istanbul geboren, hat er dort die Schule besucht und lebt nach Studienaufenthalten in Wien und Stuttgart seit Längerem in Athen.

Markaris’ neuer Erzählband Der Tod des Odysseus – nach Balkan Blues (2005) seine zweite auf Deutsch veröffentlichte Geschichtensammlung – enthält sieben Texte, die sich, ganz der europäischen Aktualität unserer Tage verpflichtet, mit den Themen Heimat und Fremde, Geschichte und Gegenwart, Flucht und Vertreibung auseinandersetzen. Zweimal darf auch der den Lesern inzwischen vertraute Kommissar Charitos wieder auftreten. Die bewegendsten Erzählungen des Bandes aber gehen in die Historie zurück und zeigen, welche Tragödien für den Einzelnen aus Nationalismus, Fremdenhass und Intoleranz im gesellschaftlichen Miteinander resultieren können.  

Die geheime Referenzfigur aller versammelten Texte ist Odysseus, jener antike Held, der zehn Jahre der Irrfahrt benötigte, um nach dem Trojanischen Krieg wieder nach Hause zurückzukehren. Seinen Namensvetter aus unseren Tagen, dem man in der Titelerzählung des Bandes begegnet, einen Athener Daunenkissenverkäufer, der in den 1960er-Jahren mit seinen Eltern in Istanbul aufgebrochen war, um ein besseres Leben in Griechenland zu finden, zieht es nach dem Tod seines Vaters und seiner Mutter wieder dorthin zurück, wo er als Kind glücklich war.

Den Traum des Mannes, „im Altersheim der Auslandsgriechen“ in Istanbul, der Stadt, die für ihn und seinesgleichen nach wie vor den Namen Konstantinopel trägt, zu sterben, kann Markaris’ Ich-Erzähler, den eine jahrzehntelange Bekanntschaft mit Odysseus verbindet, nicht verstehen.Und doch besucht er ihn an seinem letzten Aufenthaltsort und sieht mit Freude, welch neue Lebensgeister die Rückkehr in seine alte Heimat in dem Mann geweckt hat. Beim nächsten Besuch aber muss er erfahren, dass der Alte in der Zwischenzeit verstorben ist. Wie der klassische Odysseus sich nach seiner Rückkehr nach Ithaka mit den Freiern seiner Frau Penelope herumschlagen musste, um wieder Herr im eigenen Hause zu werden, hat sich sein Nachfahre mit einer Gruppe der rechtsextremen „Grauen Wölfe“ angelegt, die das Altenheim und seine Bewohner attackierte. Dem mutigen Versuch, sich gegen Fremdenfeindlichkeit und nationalistischen Wahn zur Wehr zu setzen, war allerdings sein schwaches Herz nicht gewachsen.

Die längste Erzählung des Bandes, Drei Tage, ist zugleich seine beste. Sie führt zurück in das Jahr 1955, in dem es in Istanbul und anderen Städten der Türkei in der Nacht vom 6. auf den 7. September zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen nichtmuslimische Minderheiten, vor allem Griechen und Armenier, kam. Der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen der vorangegangenen Jahre wurde damit ein nationalistisch-religiöses Ventil geschaffen. Hinzu kam der gerade in diesen Tagen eskalierende Zypernkonflikt. Als sich deshalb am 6. September 1955 die Nachricht verbreitete, das Geburtshaus des türkischen Staatsgründers Kemal Atatürk in Thessaloniki sei Ziel eines Anschlags griechischer Separatisten gewesen, konnte das als Initialzündung für eine Pogromnacht missbraucht werden, die offenbar bereits von langer Hand vorbereitet war. Marodierende Massen zogen durch die von Christen bewohnten Viertel der größeren türkischen Städte, plünderten, zerstörten, töteten und vergewaltigten.

Markaris lässt seine Leser jene Tage aus der Sicht des griechischstämmigen Istanbuler Tuchhändlers Vassilis Samartsis erleben. Inhaber eines kleinen, sich seit Generationen in Familienbesitz befindlichen Ladens in einer gut besuchten Einkaufspassage, ist er sich der Gefahr, von der die in der Türkei lebenden Griechen nach den zypriotischen Unruhen bedroht sind, wohl bewusst. „Immer, wenn irgendwo auf der Welt Griechen etwas anstellen, kriegen wir die Rechnung präsentiert“, lautet sein Kommentar zu den Nachrichten am Vorabend des 6. September.

Doch obwohl ihm ein Freund rät, am nächsten Tag sein Geschäft verschlossen zu halten und zu Hause zu bleiben, steht er am Morgen nach der Zerstörungsorgie vor den Trümmern seiner Existenz. Wie die Läden der meisten Istanbuler Griechen ist auch der seine vollständig ausgeplündert und anschließend zerstört worden. Doch Glück im Unglück: Hinter einer losen Wandverkleidung entdeckt Samartsis bei den Aufräumarbeiten den Zugang zu einem Kellerraum, dessen Existenz ihm bisher verborgen geblieben war. Es ist offenbar der Zufluchtsort seines vor Jahrzehnten verschollenen Großvaters – und außer dem Skelett des Ahnen findet sich dort unten auch ein Goldmünzenschatz, der die finanziellen Verluste des Enkels mehr als ausgleicht. Angehäuft wurde er in weiser Voraussicht von einem, der aus eigener leidvoller Erfahrung, wie unsicher es um das Schicksal der Griechen in der Türkei zu jeder Zeit bestellt war, Vorsorge für all seine Nachkommen betrieb.        

Mit Der Tod des Odysseus kehrt Petros Markaris an die Stätten seiner Kindheit und Jugend zurück. Wenn er über Menschen schreibt, die ihre Heimat verloren haben und in der Fremde gestrandet sind, schwingt darin auch die Erinnerung an das Schicksal der eigenen Vorfahren mit. Barmherzigkeit und Nächstenliebe werden eingefordert in einer Zeit, in der diese zentralen christlichen Gebote zwar weiterhin in den Kirchen verkündet, von allzu vielen Menschen aber kaum mehr gelebt werden.

Der Pater, der in der Erzählung Liebe deinen Nächsten die ihm anvertrauten Menschen in seiner Sonntagspredigt dazu aufruft, vom eingeschlagenen Weg „des schnellen Geldes, des leichten Lebens und des Eigennutzes“ um ihrer selbst Willen abzuweichen, liegt am nächten Morgen mit eingeschlagenem Schädel im Presbyterium seiner Kirche. Und während Kommissar Charitos den Mord an einem prominenten griechischen Filmregisseur in der den Band beschließenden Geschichte Poems and Crimes schnell aufklären kann, bleibt das gesellschaftliche Verbrechen an dem obdachlosen und zu Unrecht in Verdacht geratenen Rosenverkäufer, in dessen Abstieg sich die aktuelle Misere Griechenlands widerspiegelt, ungesühnt. Denn um dessen Situation, in die er nicht durch eigenes Verschulden geriet, zu verbessern, wäre wohl eine gewaltige gesellschaftliche Anstrengung nötig, deren Protagonisten Petros Markaris im Moment nirgendwo zu entdecken vermag.

Titelbild

Petros Markaris: Der Tod des Odysseus.
Übersetzt aus dem Neugriechischen von Michaela Prinzinger.
Diogenes Verlag, Zürich 2016.
214 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783257069792

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