Der Tod, die Moderne und der Müll

Nachruf auf Zygmunt Bauman und seine kritischen Sozialtheorien

Von Matthias JungeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Junge

Ihm galt der Tod als eine Quelle von Kultur. Denn diese hat die Aufgabe der Bewältigung des Unvermeidbaren. Nun hat auch Zygmunt  Bauman das Unvermeidliche am 9.1.2017 im Alter von 91 Jahren ereilt.

Am 19.11.1925 wurde er in Posen geborenund fand nach vielen Wanderungsbewegungen 1971 in England einen endgültigen Ort. Hier, in Leeds, dachte er in vielfachen Anläufen sowohl über die Praxis der Bewältigung des Unvermeidbaren wie auch über die Herausforderungen der  Globalisierung nach.

Bauman hat dabei zu erfassen versucht, was Tod, Ambivalenz und Postmodernität für das soziale Leben bedeuten. Seine Interessen waren durchgängig auf die Kultur und die Geschichte der Arbeiterbewegung gerichtet. Und Inspirationsquelle für ihn war beständig ein unorthodox interpretierter Marxismus.

Die Frage „Warum ist Kultur überhaupt nötig?“ hat Zygmunt Bauman von Anbeginn seines Schaffens verfolgt. Schon früh begann er mit einer systematischen und vergleichenden Untersuchung verschiedener Kulturtheorien, die er aber alle zugunsten einer Praxistheorie der Kultur verwarf. Denn für ihn bestand Kultur in Praktiken der Aneignung und Nutzung kulturell verfügbarer Wissens- und Handlungsangebote. Wichtig war ihm der Angebotscharakter kultureller Ordnungen. Sie schreiben dem Nutzer nicht vor, was er oder sie tun sollen. Vielmehr stellen sie einen Möglichkeitsraum der individuellen Gestaltung zur Verfügung.

Kurze Zeit später befasste er sich erstmals mit einem Problemkomplex, der zu seinem zweiten Interessenschwerpunkt wurde. Am Beispiel der Geschichte der englischen Arbeiterbewegung und ihrer gewerkschaftlichen Vertretung konstatierte er  in einer für die Zwecke dieser Untersuchung fruchtbar erscheinenden und daher von ihm adaptierten systemtheoretischen Perspektive die Abkopplung der Arbeitereliten von den vertretenen Arbeitern. Methodisch benutzte Bauman hier wie auch in vielen anderen Studien das gesamte Spektrum verfügbarer Forschungsmethoden, wobei seine Vorliebe dem hermeneutischen Verstehen galt, weil es der Aufklärung diente und die Sozialwissenschaften an ihre Rezipienten band.

Bereits früh hatte sich in den kulturtheoretischen Schriften angedeutet, dass Bauman die Bearbeitung der Spannung zwischen Chaos und Normierung als Hauptaufgabe der Kultur begriff, die er in ihren unterschiedlichen Facetten in Arbeiten über den Tod, der historisch orientierten Untersuchung des Holocaust, der gesellschaftlichen Bedeutung von Ambivalenz und schließlich der Flüchtigkeit gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse und ihrer Bedeutung für die Lebenspraxis der Individuen zu erfassen suchte.

Der Kultur des Sterbens schrieb Baumann eine  große gesellschaftliche Bedeutung zu. Spätestens seit den Arbeiten von Ariès wissen wir um die kulturelle Prägung des Todes. Auch das Sterben ist Ergebnis kultureller Praktiken. Wie schon Ariès in seiner Geschichte des Todes feststellte, hat sich in modernen Gesellschaften das Sterben individualisiert, ist zu einem Anliegen gewählter Praktiken des Sterbens geworden. Und dabei verfolgt gerade der oder die Sterbende das imäginäre, unerreichbare Ziel der Unsterblichkeit. Seien es Enkel, Erben oder Festlegungen in Testamenten, ihr Ziel ist nach Bauman die Fortschreibung des eigenen Lebens oder zumindest die bleibende Erinnerung an dieses Leben, an seine Bedeutung „über den Tod hinaus“, indem andere  durch kulturelle Praktiken  zu dieser Erinnerung „gezwungen“ werden . Damit werden Sterben und Tod in die Gesellschaft hineingeholt und Gegenstand sozial normierter Praktiken.

Baumans Kulturverständnis  schloss auch den Holocaust ein. Denn gerade in der vom ihm aufgezeigten bürokratischen Organisation der Judenvernichtung in den Konzentrationslagern  der NS-Diktatur kam eine moderne „Kultur bürokratischer Rationalität“ zum Ausdruck und, wie er meinte, zur Vollendung. Die Judenvernichtung war ihm das Ergebnis der Vorherrschaft bürokratischer Regulierung an Stelle von Menschlichkeit und Mitleid.  Diese 1989 mit dem Amalfi-Preis ausgezeichnete Arbeit, die den Holocaust als eine wiederholbare Möglichkeit der gewaltsamen Vernichtung des Ausgeschlossenen in der Moderne beschrieb und damit auch die Aufmerksamkeit auf mögliche Wiederholungen richtete, war für ihn der Ausgangspunkt,um sich sozialtheoretisch vertieft mit der sozialen Bedeutung der Ambivalenz zu befassen, die etwa in der sozialen Figur des Fremden symbolysiert ist. Mit dieser bahnbrechenden, unkonventionellen Perspektiven begann das auch die Soziologie ansprechende Interesse an den sozialtheoretischen Überlegungen Baumans.

In konsequenter Weiterführung seiner Arbeit zur amoralischen Rationalität der Judenvernichtung entwickelte Bauman eine an Emmanuel Lévinas und Martin Buber geschulte Ethik der Alterität, die die Spuren einer an Kant orientierten Vorstellung einer rationalen und regelorientierten Moralität mit ihrer impliziten Gewaltsamkeit endgültig hinter sich ließ und moralische Handlungen als Geschenk an den Anderen begriff. Allerdings wusste Bauman, dass sich Geschenke nicht erzwingen lassen. Deshalb konzipierte er solche Handlungen nicht als Ergebnis sozialer, sondern vorsozialer Impulse, die gerade durch die gesellschaftlichen Zwänge an Kraft verlieren.

Das ebnete ihm der Weg, sich angesichts schwindender sozialer und ethischer Ordnungskraft der klassischen Moderne mit der gegenwärtigen Flüchtigkeit sozialer Verhältnisse und ihrer Erzeugung einer gesellschaftlichen Bifurkation in einer Konsumgesellschaft zwischen Have und Have-Nots zuzuwenden und ihre Konsequenzen für die Lebenspraxis zu untersuchen. Das Konzept der Flüchtigkeit sozialer Verhältnisse und ihrer Konsequenzen begleitete seit 2000 seine Fragestellung nach den sozialen Verarbeitungsmustern dieser Flüchtigkeit.

Seine letzten Veröffentlichungen  über Liebe, Furcht und Angst in der gegenwärtigen Lebenspraxis drehten sich – im Blick auf Europa, die Globalisierung oder die Flüchtlingsproblematik  – vor allem um aktuelle Problemstellungen in Kultur, Gesellschaft und Politik   und ihre individuelle Verarbeitung. Sie alle versuchten zu zeigen, dass die flüchtige Moderne keine Skripts mehr für die individuelle Bearbeitung der genannten Emotionen anbietet. Vielmehr verbleibt ihre Bewältigung nun eine privatisierte Aufgabe, der sich jeder als Einzelner und zuletzt Vereinzelter stellen muss – ohne Hilfsangebote und ohne die Möglichkeit, Ähnlichkeit mit den Lösungen Anderer noch zu erkennen.

Besonders seine letzte im deutscher Sprache zugängliche Veröffentlichung  zur Migration brachte nochmals seine auch kritisch intendierte Haltung zur Gegenwart zum Ausdruck. Denn Bauman verband dort die Diskussion um Prekarität, in einer eigenständigen Veröffentlichung von ihm als „Müll“ kategorisiert, und Migration miteinander und verfolgte die sozialen Konsequenzen der Vorstellung, dass es immer noch jemanden in einer noch schlechteren Lage gäbe. In der Kategorie des „Müll“ tauchte nochmals die von ihm erkannte gesellschaftliche Bifurkation auf, denn Müll entsteht im Zuge des Konsums durch die Müllproduzenten. Ins Soziale transferiert erscheinen sodann kulturelle und gesellschaftliche Verhältnisse, die Konsumenten und Nicht-Konsumenten scharf unterscheiden und durch die Praktiken des Konsums und der Repression trennen.

Mit dieser Beschreibung fundierte er die Annahme, dass das Soziale in der gegenwärtigen Konsumgesellschaft einer grundlegenden und soziologisch  gut beobachtbaren Zweiteilung unterliegt und damit die Zukunft der gesellschaftlichen Entwicklung vorgezeichnet sei. Dieser pessimistische Ausblick auf die Zukunft von Kultur und Gesellschaft war jedoch immer begleitet von der Hoffnung, dass eine Veränderung der Verhältnisse möglich sei, wenn nur genügend Aktivität dafür entfaltet und Aufklärung angeboten würde. Zu diesen Aktivitäten gehörte bei Zygmunt Bauman insbesondere eine intensive internationale Vortragstätigkeit  und die Teilnahmen an Tagungen, so etwa an der 2011 ihm und Agnes Heller gewidmeten Tagung in Jena. Und seine gesellschaftstheoretisch und empirisch fundierte Zeitdiagnostik war ihm als Form von Aufklärung ein besonderes, aus der kritischen Intention seiner Sozialtheorie sich ergebendes Anliegen. Seine als Bücher veröffentlichten Schriften wendeten sich immer an eine breite interessierte Öffentlichkeit und boten dieser seine Diagnosen an, und zwar in einer Sprache, die keine Fachsprache und nur den Insidern verständlich war. Die von ihm gewählten Metaphern, etwa der „Müll“,  konnten in ihrer Eingängigkeit nicht übertroffen werden. Sein Ziel war die Aufklärung über die Gegenwart kultureller Verhältnisse, um zu einer möglichen Veränderung beizutragen.

Die Arbeiten von Zygmunt Bauman haben nicht nur der Soziologie gezeigt, was eine kritisch intendierte Sozialtheorie zu leisten in der Lage ist. Aber die Soziologie wird diesen originellen und eigenständigen Denker besonders vermissen.