Die unerträgliche Leichtigkeit der Gewalt

Jan Philipp Reemtsma bringt in zwei Reden ein attraktives Phänomen zur Sprache

Von Nico Schulte-EbbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nico Schulte-Ebbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 10. Januar 2017 verurteilte eine US-Bundesjury den 22-jährigen Rassisten Dylann S. Roof zum Tode. Roof hatte im Juni 2015 neun Afroamerikaner während eines Wortgottesdienstes in der Emanuel African Methodist Episcopal Church in Charleston, South Carolina, erschossen. Mitglieder seiner Familie gaben am Tag der Urteilsverkündung eine Erklärung ab, dass sie „struggle as long as we live to understand why he committed this horrible attack, which caused so much pain to so many good people.“ Eine derartige, vollkommen nachvollziehbare Verständnisfrage, sprich: die Frage nach dem Warum, ficht Jan Philipp Reemtsma nicht an. In den beiden Reden, die nun in Reclams neuer Reihe „Was bedeutet das alles?“ erschienen sind, versucht er den Leser stattdessen für eine Meta-Frage zu sensibilisieren und ihm dadurch einen neuen Blick auf das Phänomen der Gewalt zu geben.

In seiner Abschiedsrede „Gewalt als attraktive Lebensform betrachtet“, gehalten am 5. Juni 2015 – nicht einmal zwei Wochen vor Roofs Massenmord – im Hamburger Institut für Sozialforschung, fragt Reemtsma, warum wir so fragen: „Warum meinen wir, die Soziologie, die Psychologie und in gewissem Sinne die Historiografie könnten uns etwas ‚erklären‘, soll heißen: uns sagen, was dahintersteckt, in Wirklichkeit passiert, die wahren Gründe/Motive/wasauchimmer sind – und so weiter?“ In „Gewalt und Vertrauen“, einem Vortrag, den Reemtsma gut siebeneinhalb Jahre zuvor am 24. Januar 2008 an selber Stelle gehalten hat, begegnet der 1952 geborene Hamburger Literaturwissenschaftler der aus seiner Sicht albernen Frage, warum oft ‚ganz normale Menschen‘ brutale Dinge tun, mit den provokativen Worten: „Die Frage ist darum albern, weil die Antwort auf sie auf der Hand liegt: Wer denn sonst?“ Und er fügt hinzu: „Das ist so; Menschen – nicht nur Männer – können das und tun es immer wieder. Menschen können auch Musik machen oder Bilder malen oder nett zueinander sein, und wenn wir das beobachten, fragen wir uns auch nicht, wie es denn bloß möglich sei, dass ganz normale Familienväter Klavier spielen.“ Diese Plattitüde zeigt das Wesen des Menschen: Er ist eine Kreatur – vielleicht die einzige –, die radikale Freiheit besitzt.

Die Frage, warum wir nach dem Warum fragen, durchzieht die beiden kurzen, 21- und 26-seitigen Meditationen, die unter dem Titel Gewalt als Lebensform zusammengefasst sind. Zudem weist Reemtsma explizit darauf hin, dass er sich nicht um Erklärungen für Gewaltausbrüche, um Ursachen und Motive kümmere, sondern dass es sich bei seinen Einlassungen schlicht um Betrachtungen handle: „Lassen Sie mich also an den Versuch gehen, Gewaltmilieus – grob schematisiert, zugegeben – zu beschreiben.“ Eine aggressive, gewaltvolle Lebensform – nicht im Sinne von Lebewesen, sondern als Lebensweise verstanden – mag eine gewisse Faszination ausüben. Dem Titel des schmalen Reclam-Bandes fehlt genau dieses ‚faszinierende‘ Adjektiv, das sich im Titel der zuerst abgedruckten Rede findet. Es lautet: ‚attraktiv‘. Denn Gewalt ist dasjenige, was zivilisatorische Fesseln sprengt, was durch entgrenztes Verhalten so verlockend ist: „Der (bzw. mancher) Einbrecher stiehlt nicht nur und säuft die Hausbar leer, sondern schlägt die Möbel kaputt, reißt die Vorhänge runter und – ja, natürlich scheißt er auf den Teppich.“ Es ist die große Stärke des Autors, seinen Gedankengang stets mit einer Fülle von Beispielen aus Literatur und Geschichte zu illustrieren. So zitiert er Thomas Mann und Victor Hugo ebenso wie das Kommunistische Manifest und William Shakespeare, er spannt den Bogen vom Lebensstil römischer Cäsaren über mittelalterliche Plünderungen bis hin zu den Unruhen in den Pariser Banlieus im Herbst 2005. „Das bürgerliche Leben“, so Reemtsma, „gewährt selten Grandiosität.“ Erst als Gewalttätiger sticht man aus der bürgerlichen Masse heraus, erst die Gewalttat erschafft das machtvolle Individuum.

„Gewalt und Vertrauen“, der zweite und ältere Text, ist ein Destillat der umfangreichen Reemtsma-Monographie Vertrauen und Gewalt, die ebenfalls 2008 erschienen ist. In dieser Rede versteht es der Autor, ein so komplexes Thema wie das der Gewalt gekonnt und überzeugend mit dem Vertrauensaspekt zu verquicken und beide Phänomene im Lichte der Moderne, in der Gewalt „an sich ein Problem ist“ und die Gewalt unter „besonderen Legitimationsdruck“ gestellt habe, zu betrachten. Das Zusammenspiel von Gewalt und Vertrauen – allein die Tatsache, dass Reemtsma die beiden Begriffe im Titel seiner Monographie umgestellt hat, zeigt, wie gleichwertig und gleich wichtig sie sind – erläutert Reemtsma mit der ‚I-Trias‘, bestehend aus Interaktion, Institution und Imagination:

„Das also ist das, was das Vertrauen in der und in die Moderne charakterisiert: die Unterstellung gewaltfreier Interaktion, das staatliche Gewaltmonopol als Institution, die diese Interaktion möglichst weitgehend kontrolliert (und wo das nicht funktioniert hat, die Ordnung symbolisch – durch Strafen – wiederherstellt), die gemeinsame Imagination, dass diese Moderne funktioniert, d. h. auf dem Wege in eine Zukunft ist, die immer weniger Gewalt möglich und nötig macht.“

Reemtsmas Attest, wir hätten verlernt, Gewalt als Kommunikationsmittel zu sehen und zu erkennen, folgt seine aufschlussreiche Gewaltphänomenologie, die – statt strukturelle Äußerungsformen zu untersuchen, wie dies etwa prominent der norwegische Friedens- und Konfliktforscher Johan Galtung Ende der 1960er-Jahre getan hat – den konkreten Körperbezug fokussiert: Zunächst nennt Reemtsma die ‚lozierende‘ Gewalt, die im Körper des Anderen lediglich eine verfügbare, störende Masse sieht; der Körper selbst ist also nicht von Interesse. Die zweite Form physischer Gewalt bezeichnet er mit dem Begriff ‚raptiv‘. Darunter will er eine Gewalt verstanden wissen, die am Körper des Anderen irgendwelche (meist sexuelle) Handlungen vollzieht. „Lozierende Gewalt will den Körper weghaben; raptive Gewalt will ihn haben.“ Schließlich kulminiert in der ‚autotelischen‘ Gewalt das brutale, grausame und sinnlose Zerstörungspotenzial physischer Exzesse. Erneut weiß Reemtsma seine theoretischen Überlegungen mit vielen abwechslungsreichen Beispielen aus unterschiedlichen Bereichen zu veranschaulichen, sei es Sport (Boxen), griechische Mythologie (Achill und Hektor), römische und französische Geschichte (Kolosseum, Guillotine) oder Film (Schindlers Liste). Vor diesem illustren Hintergrund wird deutlich, wieso Reemtsma das 20. Jahrhundert einerseits als „ein Jahrhundert der Kommunikation mit Gewalt“ bezeichnen, ihm andererseits auch bescheinigen kann, dass im Zuge der Modernisierung dieser Kommunikationsaspekt verloren gegangen oder einfach vergessen worden sei.

In seinem Schlussplädoyer sagte Dylann S. Roof: „I felt like I had to do it, and I still feel like I had to do it.“ Stets aufs Neue stehen wir fassungslos vor Grausamkeiten, die Menschen ihren Mitmenschen antun, und suchen nach dem Sinn ihres Handelns. Oftmals sprechen wir den Tätern die Zugehörigkeit zu unserer Spezies ab, indem wir sie als ‚Unmenschen‘, ‚Monster‘ oder ‚Bestien‘ bezeichnen. Ein banales ‚Ich musste es tun‘ ist weder eine befriedigende Antwort noch vermittelt es uns Trost. Jan Philipp Reemtsma ruft zur Lektüre auf: Wir sollten Bücher über den Holocaust, Hiroshima oder den Vietnamkrieg lesen, „dann weiß man, was es zu wissen gibt. Dennoch meinen wir immer wieder, vor einem Rätsel zu stehen.“ Die beiden kurzen Texte, aus denen der Band Gewalt als Lebensform zusammen mit einer abschließenden biografischen Skizze des Autors besteht, helfen nicht bei des Rätsels Lösung. Sie geben auch keine Anleitungen, wie Gewalt verhindert werden könnte. Stattdessen sensibilisieren sie den aufmerksamen Leser für eine differenzierte Sicht auf ein uraltes und allzu menschliches Phänomen, das zwar nie ausgelöscht, jedoch mit dem zivilisatorischen Rüstzeug der Moderne eingedämmt und beantwortet werden kann.

Titelbild

Jan Philipp Reemtsma: Gewalt als Lebensform. Zwei Reden.
Reclam Verlag, Stuttgart 2016.
64 Seiten, 6,00 EUR.
ISBN-13: 9783150193822

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch