Das regulierte Selbst

Thomas Steinfelds Essay über Broder Christiansen zeichnet das differenzierte Porträt eines frühen Optimierungsfanatikers

Von Felix MaschewskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Maschewski und Anna-Verena NosthoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anna-Verena Nosthoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seltsame Orte gibt es, seltsame Gehirne, seltsame Regionen des Geistes, hoch und ärmlich. An den Peripherien der Großstädte, dort, wo die Laternen spärlicher werden und die Gendarmen zu zweien gehen, muß man in den Häusern emporsteigen, bis es nicht weiter geht, bis in schräge Dachkammern, wo junge, bleiche Genies, Verbrecher des Traumes, mit verschränkten Armen vor sich hinbrüten, bis in billig und bedeutungsvoll geschmückte Ateliers, wo einsame, empörte und von innen verzehrte Künstler, hungrig und stolz, im Zigarettenqualm mit letzten und wüsten Idealen ringen.

Noch eindrücklicher als Thomas Manns Einstieg in dessen Erzählung Beim Propheten ist vielleicht die Szenerie hinter den abgelegenen Mauern dieser dunklen Peripherie, in der sich ein Dutzend geladene Gäste, unter ihnen ein Spiritist von “martialisch und kränklich[em]” Aussehen, eine adelige, unverheiratete Mutter, ein känguruähnlicher Philosoph wie eine hinkende “Erotikerin” und nicht zuletzt ein Romancier versammeln. Hier hätte auch Broder Christiansen gut und gern einen Platz gefunden, der, folgt man Thomas Steinfeld, in vielerlei Hinsicht als eigentümliche und doch – wie der Essay Ich will, ich kann eindrücklich illustriert – vor allem zeithistorisch emblematische Figur der praktischen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts gelten kann.

Am Lebenslauf und den Veröffentlichungen dieses „Sonderlings“ orientiert, berichtet Steinfeld von einem merkwürdigen Charakter, dessen Schriften zwar heute weitestgehend vergessen sind, demungeachtet jedoch einen erhellenden, ‘epochalen’ Eindruck eröffnen: Christiansen war als Autor allerlei Handbücher (zum Beispiel von der Schulung des Gedächtnisses bis zur Handschriftendeutung), praktischer Lebensratgeber (über den guten Schlaf) und Sprachlehrbücher (etwa über die Kunst des Schreibens) nicht nur ein Vordenker des “self-growth” oder “life-hackings”. Als Nachbar und bis zu seinem Tode enger Vertrauter Rudolf Carnaps (er zog schließlich sogar mit dessen Ehefrau Elisabeth zusammen, mit der er ein Lehrbuch der Graphologie verfasste) hatte er maßgeblichen Anteil an der Entstehung des “logischen Empirismus” um den “Wiener Kreis”. Darüber hinaus lieferte seine funktionalistisch orientierte Philosophie der Kunst dem im Entstehen begriffenen russischen Formalismus bedeutende Stichworte. Kategorien wie die des “ästhetischen Objekts”, der “Differenzqualität” oder der “Objektsynthese” etwa sind maßgeblich auf ihn zurückzuführen, wobei, wie Steinfeld bemerkt, “es bislang als ausgemachte Sache gilt, daß zwar die Formeln übernommen wurden, nicht aber deren Kontext.”

Diese uneindeutige Wirkungsgeschichte scheint für den idiosynkratischen Grenzgänger Christiansen programmatisch und spiegelt sich auch in dessen Entwicklung vom neukantianisch geprägten Schüler Heinrich Rickerts hin zu einem lebenspraktischen Vitalisten. Christiansen war jedoch kein akademischer Dissident, sondern ging lediglich “von der Abstraktion zur Handlung” über – wobei er viele Schriften ab 1918 im Eigenverlag vertrieb. Sein erstes nicht-akademisches Werk Ich will! – ich kann! Eine Schule des Willens und der Persönlichkeit interpretiert Steinfeld dabei als signifikanten Beitrag angeleiteter Selbstoptimierung. Der Wille, heißt es darin etwa, könne “trainiert werden wie ein Muskel”; stufenartig vervollkommne er sich – und das klingt durchaus nietzscheanisch – bis hin zur “Bemeisterung der Affekte”. Wichtig erscheint Steinfelds Hinweis, es handele sich weder um antike Selbsttechnologien noch um die Bildungsidee des deutschen Klassizismus, geschweige denn um mönchische Exerzitien. Ersichtlich werde stattdessen eine praxisorientierte, realitätsverändernde, progressive Doktrin. Dass Christiansens Fokus auf das Wollen in die Geistes- wie Kulturgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts passt, belegt der Autor dabei anhand zahlreicher Verweise, wie etwa den auf Reinhold Gerlings Gymnastik des Willens oder auch auf Hesses (der noch eine positive Rezension zu Christiansens Das Gesicht unserer Zeit verfasste) Erzählung Demian. Die Entwicklung des Protagonisten Emil Sinclair vollzieht sich ähnlich prozesshaft wie von Christiansen ersonnen – und auch hier heißt es: Den Willen könne man “anspannen wie einen guten Gaul”.

Worauf Christiansens Willensbegriff in erster Linie verweist, ist, so Steinfeld, die ‘Emanzipation’ des Willens vom Wissen – die Rede ist nun von einem “Willen der den Willen will”. Dass sich dieser Wille zum Willen nicht zuletzt aus einem durch gesellschaftliche Vergleichslogiken potenzierten Gefühl des eigenen Mangels speist, war eine frühe Erkenntnis Christiansens, wobei eine Ausweichbewegung keine Option, das Ziel eindeutig war: “Der klare, wohlgeordnete, stahlharte Wille macht den Menschen zum Herrn seiner selbst, zum Herrn der Anderen und zum Herrn des Schicksals.” Anhand solch umfänglicher Willensbekundungen zeichnet Steinfeld dezidiert auf, wie Christiansen eine permanente Affirmation der Konkurrenz, der Herausforderungen und Grenzüberschreitungen etabliert. Dass “der Wille zur Herrschaft […] unweigerlich in Gewalt” gegen sich und andere zu eskalieren droht, dass der Schüler als angehender Herr mit seiner willentlichen Selbstoptimierung im andauernden Wettbewerb auch das Potenzial zur Selbstzerstörung befeuert, scheint Christiansen, wie Steinfeld klug kommentiert, genauso verborgen zu bleiben wie die dynamische Konsequenz: “Wenn einer aufrüstet, müssen auch die anderen aufrüsten, und wenn alle aufrüsten, kann keiner bleiben was und wie er ist.” Mit solchen Schlussfolgerungen legt Steinfeld frei, wie die eigentlichen Ziele der Lehrbücher Christiansens – seien es der ‘feste’ Charakter oder die ‘ausgeruhte’ Seele – gesamtgesellschaftlich gedacht zwangsläufig unterminiert werden, sodass aus dem Imperativ zur kompetitiven Bewegung kaum die von Christiansen angestrebte, charakterliche Beständigkeit erwachsen kann.

Was Christiansen also vor allem konzipiert zu haben scheint, ist ein inhaltsloser Wille, dessen mechanisch-tautologische Selbstreferenzialität – wie eine Black Box – auf äußerliche Steuerung angewiesen ist. Dass diese innere Leere das Subjekt überhaupt erst für Optimierungsimpulse empfänglich macht, mag ihm dabei evident gewesen sein – Steinfeld folgert jedenfalls, dass sich nur auf diese Weise “äußere Herausforderungen in innere Bestimmungen” verwandelten. Der Autor zeichnet Christiansens Selbst so als personifizierte “leere Funktion” einer inhalts- wie grenzenlosen Könnerschaft, die es um buchstäblich jeden Preis zu erreichen gelte – das Ich zahlt mit der Einbuße progressiver Imaginationskraft und der Reduktion der Fantasie auf eine bloß unreflektierte, horizontarme Akzeptanz des gesellschaftlichen Status quo.

In diesem Zusammenhang wäre sicherlich interessant gewesen, die Ausführungen zu Christiansens widersprüchlichem Selbst-Entwurf des “bewegliche[n] Objekt[s] […], das in einem fort nach vorne drängt” etwas nachdrücklicher im Kontext aktueller Debatten um das “unternehmerische Selbst” zu untersuchen, wenngleich das den Rahmen dieses schmalen, eher wissensgeschichtlich denn gegenwartsdiagnostisch angelegten Essays wohl überschritten hätte. Denn obwohl Christiansens “rückwärtsgewandte Phantasie” eines fest-gestellten Ichs am ‘kategorischen Komparativ’ eines beständigen Wandels fehl geht, erscheint auch die heutige, unternehmerische Version, die den technologisch aufgerüsteten, flexiblen Menschen ohne festen Kern zur Ultima Ratio erklärt, als sehr bedenklicher Blindgänger. Beide Zieloptionen der Selbstoptimierung – sowohl der willensbewusste Charakter Christiansens als auch der amorphe, neoliberale “Unternehmer seiner selbst” – scheinen auf dasselbe grundlegende ‘Methodenproblem’ zu verweisen. Denn wie Steinfeld in Hinblick auf Christiansen ausführt, gehorcht die Optimierung “einem Maßstab, der nicht im ‘Selbst’ liegen kann. ‘Optimieren’ kann man sich nur angesichts von Anforderungen, die von außen kommen. Daraus ergibt sich das Problem, daß ein von außen bestimmtes ‘Selbst’ im Grunde genommen kein solches mehr sein kann”. Das Können des avisierten Individuums aus Ich will – ich kann! übersetzt sich also in ein Sollen – und dies scheint gerade vor dem Hintergrund der weniger disziplinar- als kontrollgesellschaftlich verfassten Gegenwart eine durchaus bedenkliche Pointe in sich zu tragen.

In diesem Konnex hervorzuheben ist vor allem Steinfelds Hinweis auf Günther Anders, der dem Individuum angesichts der eigenen Unzulänglichkeit gegenüber dem industriell Gefertigten ein prometheisches Schamgefühl zuschrieb – er impliziert nicht zuletzt dringliche, zeitgenössische Schlüsse, die aus Christiansens konsequenzialistischen Imperativen der unbedingten Könnerschaft zu ziehen sind. Im gegenwärtigen Kontext einer andauernden (technischen) Optimierung und Regulierung des Individuums (Quantified Self etc.) wie des Sozialen (und Politischen) ist Christiansen nämlich – ein überzeugendes Argument Steinfelds – als “Proto-Kybernetiker” avant-la-lettre einzustufen, dessen Überlegungen und praktische Imperative in erster Linie einem “Ideal […] der abstrakten Regelhaftigkeit” folgen.

Das Verdienst von Steinfelds Essays liegt vor allem darin, nicht nur Christiansens merkwürdige Stellung zwischen Praxis und Theorie und die hiermit verbundenen Widersprüchlichkeiten, sondern besonders auch das fragwürdige Zusammenspiel zwischen einer vermeintlich technisch-abstrakten Logik und dem vitalisierenden Impuls einer ‘selbstbewussten’ Optimierung kenntnisreich nachzuzeichnen. Die heutige Relevanz des praktischen Denkers Christiansen ist deshalb wohl zuvorderst im Spiegelschein einer sukzessive voranschreitenden Implementierung der Kybernetik zu erkennen, die sich als vielleicht folgenreichste Vermittlungsinstanz zwischen Vitalismus und Formallogik begreifen ließe: Von Anfang an auf ihre lebensweltliche Umsetzung angelegt, speisen sich ihre Grundlagen gleichzeitig aus abstrakt-mathematischen Überlegungen (der Wiener Kreis etwa – insbesondere Carnap – hatte durchaus Einfluss auf Heinz von Försters Denken). In Broder Christiansens emblematischen Optimierungsfantasien werden folglich nicht nur die Vorläufer eines eigenverantwortlich wie wettbewerbslogisch zugerichteten Selbst, sondern gleichzeitig eine kybernetische Gouvernementalität anschaulich, die das Spröde, das Andere, das Nichtidentische nur als störendes Rauschen zu begreifen vermag und sich derzeit – im binär-algorithmischen Modus des Wenn-Dann – immer tiefer in den Imaginationshaushalt und das Fleisch der Gesellschaft einschreibt.

Übergeordnet macht Christiansens intellektuelle Biografie in dieser Hinsicht nachvollziehbar, dass sich so heterogene Theorie- und Praxiselemente wie der Vitalismus auf der einen und der logische Empirismus auf der anderen Seite ihrer scheinbaren Gegensätzlichkeit entziehen, sobald ihre praktischen Implikationen konsequent angewendet werden. Denn vereint scheinen diese nur vermeintlich antagonistischen Strömungen nicht zuletzt durch den Ausschluss des Metaphysischen beziehungsweise einer als schlechthin unverfügbar verstandenen Transzendenz. Stattdessen zeichnet sie ein folgenschweres Stürmen und Drängen in die Immanenz aus, die es fortan durch Techniken zu gestalten, zu regulieren und ganzheitlich zu formen gilt. Dass sich die Vereinigung von lebenspraktischem Empowerment, regulativ verstandener Formanalyse und logischer Abstraktion im Denken des frühen 20. Jahrhunderts vollzog, erscheint für die gesellschaftliche Entwicklung wie auch die Konstitution des Selbst so gegenwärtig beunruhigend wie historisch aufschlussreich. Denn neben den proto-kybernetischen sind auch proto-faschistische Bezüge zumindest nicht gänzlich zu negieren, auch wenn Steinfeld erklärt, bei Christiansen handele es sich um einen opportunistischen Mitläufer, der sein Lebensbuch von 1935 wohl eher aus Eigennutz zu einem “notwendig deutsche[n] Buch” erklärt hatte.

Welchem Herrn Christiansens reguliertes Selbst schließlich dient, bleibt somit fraglich – und doch augenscheinlich. Denn ein wirklicher Widerstand im Getriebe der Normalität – und das ist der vielleicht zentralste Punkt dieses Essays – aktualisiert sich in den Optimierungsspiralen nicht. Steinfeld schlussfolgert pointiert, dass der Wille zur Selbstoptimierung – heute wie damals – vor allem mit einem einhergeht: “der enthusiastischen Affirmation aller bestehenden Verhältnisse”.

Titelbild

Thomas Steinfeld: Ich will, ich kann. Moderne und Selbstoptimierung.
Konstanz University Press, Konstanz 2016.
110 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783862530854

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