Die Revolution entlässt ihre Kinder

„Stadt der Lügen“ von Ramita Navai ist ein grandioses Psychogramm der iranischen Gesellschaft – wenn auch mit einem bedeutenden Manko

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein junger Basidschi, strammer Milizionär aus einer religiösen Familie, entscheidet sich dazu, eine geschlechtsangleichende Operation durchführen zu lassen, um künftig als Frau zu leben; eine betagte, konservative Ehefrau aus dem Süden Teherans entdeckt, dass ihr Gatte nicht islamische Wallfahrtsstätten, sondern als Sextourist Thailand besucht hat; ein älterer Mann, ehemals Richter, verfolgt einen jungen Mann und bittet ihn um Verzeihung, weil er dessen Eltern, Gegner der Geistlichen, vor Jahren ohne ordentlichen Gerichtsprozess zum Tode verurteilt hat.

Das sind drei, für westliche Leser ungewöhnliche Begebenheiten aus Teheran, von denen Ramita Navai in ihrem Buch Stadt der Lügen erzählt, das erstmals 2014 auf Englisch erschien. Wer einen der Wirklichkeit nahe kommenden, tiefen Einblick in das Teheraner Leben und damit in die iranische Gesellschaft nehmen will, der sollte City of Lies lesen, wie das Buch im Original heißt. Es enthält acht Texte, die mit fünf männlichen und drei weiblichen Vornamen betitelt sind.

Durch ihre Texte, die eine Mischung aus Porträt, Reportage und Milieustudie darstellen, macht die Autorin dem westlichen Leser Welten zugänglich, von denen er in den hiesigen Medien nur selten etwas erfährt. Navai hat ihr Buch freilich auch stark auf westliche Leser angelegt. Es geht, wie es im deutschen Untertitel heißt, um „Liebe, Sex und Tod in Teheran“, was natürlich Neugierde wecken, aber auch tradierte Iran-Klischees und populäre erotische Phantasien über „den Orient“ abrufen soll.

Navai hat es sich eben zur Aufgabe gemacht, den – um im Bild zu bleiben – Schleier zu lüften, den sie über der Islamischen Republik Iran liegen sieht. „Eines möchte ich von vornherein klarstellen“, schreibt sie im Vorwort: „Wenn man in Teheran leben will, muss man lügen. Das hat nichts mit Moral zu tun; in Teheran lügt man, um zu überleben. Die Notwendigkeit, sich zu verstellen, ist überraschend egalitär verteilt – sie existiert über alle Klassenschranken hinweg, und es gibt keine religiösen Unterschiede, wenn es um Lug und Trug geht.“ Und sie folgert daraus: „All diese Lügen bringen neue Lügen hervor, die in jeder Nische der Gesellschaft wuchern wie Pilze.“

Das Innovative an Navais Ansatz: Die Valiasr-Straße, die sich durch die gesamte Hauptstadt Irans erstreckt, vom reichen, liberal eingestellten Norden bis in den ärmlichen, konservativen Süden, verbindet die Geschichten, die sie erzählt. Eine Karte und der Prolog untermauern dies: „Die Valiasr ist die eine Straße, die für alle Einwohner der Inbegriff Teherans ist. Seit Jahrzehnten kommen die Iraner hierher, um zu feiern, zu protestieren, zu demonstrieren, zu gedenken und zu trauern.“

Das Material für ihr Buch hat Ramita Navai als Korrespondentin der Londoner „Times“ gesammelt, als sie von 2003 bis 2006 in Teheran gelebt hat, das gleichzeitig ihre Heimatstadt ist. Die familiären Hintergründe schildert sie im Nachwort: 1973 geboren, musste sie als kleines Mädchen zusammen zusammen mit ihren Eltern nach London fliehen, aus dem sie eben erst in die Heimat zurückgekehrt waren, um ein neues Leben zu beginnen. Ihr Vater hatte bei der britischen Marine eine Ausbildung gemacht. Doch die Revolution, die allmählich zu einer islamischen wurde, stoppte das Vorhaben.

Die acht Texte in Stadt der Lügen basieren auf Interviews, die Navai geführt hat. In den Quellen am Buchende macht sie ihre Vorgehensweise transparent: Namen der handelnden Personen wurden zum Schutz der Interviewten geändert, teilweise auch deren Berufe. Gelegentlich wurden reale Personen auch zu einer fiktiven vereint.

Navai hat die Fähigkeit, packend, weil realistisch und filmisch zu erzählen; man wird von Anfang an in die Geschichten hineingezogen: Beispielsweise in die von Leyla, einer Prostituierten, die Amateur-Sexfilme dreht. Sie stammt aus einer unteren Mittelschichtfamilie aus dem Nordwesten Teherans. Die Ehe der Eltern ist unglücklich. Die ältere Schwester flieht, indem sie einen Arzt heiratet. Leyla verliebt sich in den Rebellen Babak, der Mitglied einer Rap-Gruppe ist und eine operierte Nase hat. Sie heiraten. Sein Vater zahlt die Miete. Babak träumt, will Popstar werden. Als der Vater nicht mehr zahlt, nimmt der junge Ehemann mehrere Anläufe, um Geschäfte zu machen und Geld zu verdienen. Doch ohne Erfolg. Leyla wird Sekretärin, um seine Schulden zu begleichen. Als sie erfährt, dass er sie betrügt, zieht sie in eine eigene Wohnung. In ihrem neuen Umfeld wird getuschelt, sie sei eine Hure.

Als ihr Chef ihr Gehalt kürzt, zieht sie zu Parisa, die auch alleine wohnt und anschaffen geht, wie Frauen aus allen Schichten der Hauptstadt: Studentinnen, um den Abschluss ihres Studiums zu finanzieren; Frauen, denen die Gehälter aus ihren Jobs nicht genug einbringen, um die Miete bezahlen zu können und ihre Kinder ausreichend zu ernähren; Mädchen, die vor Missbrauch und aus kaputten Familien geflohen sind; wiederum andere, die sich teure Smartphones und Klamotten kaufen wollen.

Leyla folgt Parisa auf die Straße und lernt die Bigotterie und Brutalität von Polizei und Basidschis kennen. Sie drohen den Frauen, sie aufs Revier mitzunehmen. Um das zu verhindern, können die Frauen versuchen, Polizei und Basidschis zu bestechen. Oder die Unverheirateten unter den Frauen und ihre Freier, die verheiratet sein dürfen, gehen eine Sigheh ein, eine vom Staat anerkannte Ehe auf Zeit. Geschlossen wird eine solche – sie kann Minuten oder Jahre andauern – von Geistlichen.

Navai schildert an Leyla anschaulich die Subkultur der Prostituierten: Ein Richter verurteilt sie, nachdem sie bei einer Razzia festgenommen wurde, zu 92 Peitschenhieben. Bald muss sie wieder zu ihm, aber mit weniger Angst: „Eines der Mädchen, das sie kannte, hatte jemanden dafür bezahlt, sich für sie auspeitschen zu lassen. Leyla hatte bereits einen Deal mit einer Drogenabhängigen gemacht, die vor dem Gerichtsgebäude herumlungerte und 2000 Toman pro Peitschenhieb verlangte; die Drogenabhängige teilte sich das Geld mit dem zuständigen Auspeitscher.“

Leylas Situation ‚bessert‘ sich erst, als sie mit dem Richter eine Affäre beginnt. Es folgen weitere Männer, unter ihnen der reiche Besitzer eines exklusiven Juwelierladens auf der Valiasr-Straße und ein großer, schlanker, eleganter Geistlicher mit einem perfekt getrimmten Bart, mit dem sie eine Ehe auf Zeit eingeht. Ein anderer namens Taymour will Pornos mit ihr drehen, was sie ablehnt, bis er so viel bietet, dass sie unter der Bedingung annimmt, dass ihr Gesicht nicht zu sehen und sie mit dem Endergebnis zufrieden ist. Ihr Ziel: Eines Tages einen eigenen Schönheitssalon zu eröffnen.

Der Porno wird ein Hit. Es folgen weitere Filme mit Taymours Freunden. Kayvan, ein Sohn reicher Eltern, will sie unbedingt kennenlernen, macht sie ausfindig und scheinbar zu seiner Partnerin. Leyla lässt ihre Stammkunden fallen, unter ihnen den Richter und Geistlichen. Durch Kayvan lernt sie die Spitze der Teheraner Gesellschaft kennen und feiert mit ihr. Doch als eines Tages eine Kopie ihres ersten Pornos in die Hände der Cyberpolizei fällt, beginnt die Jagd nach der Darstellerin.

Worum geht es in den anderen Geschichten? Dariush ist ein Iraner, der in den USA aufgewachsen ist und sich eines Tages entscheidet, in seine Heimat zurückzukehren. Aus Liebe zu Arezou, die zu der sektenhaften Miliz der Volksmojahedin gehört, will er in Teheran einen ehemaligen Polizeichef ermorden. Doch das Ganze geht anders aus, als er es sich gedacht hat. Bijan, der aus dem Süden der Hauptstadt stammt, ist ein Drogenhändler und besitzt ein Labor zur Herstellung von Crystal Meth. Das Geschäft boomt. Er pflegt gute Beziehungen zu einem Polizeichef, den er in Japan kennengelernt hat, wohin viele Iraner nach dem Ende des Iran-Irak-Kriegs 1988 gegangen waren, um als billige Arbeitskräfte Geld zu verdienen.

Asghar, ein älterer Herr, war einst ein „Jahel“, ein Schläger und Gangster aus der Arbeiterschaft Südteherans, die sich bemühen, dem Image vom ehrenwerten Ganoven zu entsprechen. Doch auch sie erpressen Schutzgeld, unterhalten Glücksspiel- und Prostitutionsringe, kämpfen um Territorien. Nach der Revolution zieht sich Asghar zurück und versucht, auf ehrliche Weise Geld zu verdienen. Doch da die Wirtschaftslage des Landes schlecht ist, entscheidet er, eine Spielhalle zu eröffnen – ohne seine Frau einzuweihen, der er versprochen hatte, ‚sauber‘ zu bleiben. Farideh, eine ältere Frau aus dem Norden der Stadt, führt ein finanziell abgesichertes, aber langweiliges Leben. Die Leere versucht die Witwe durch Yoga, Spiritualität und das Christentum zu überwinden. Hätte sie vielleicht doch wie andere 1979 den Iran verlassen sollen? Sie geht nach London und kehrt ernüchtert zurück.

Navai gelingt auch deshalb ein vielschichtiger, aufregender Blick auf Teheran, weil sie gute Hintergrundinformationen liefert. Sie helfen, Umfeld und Schwierigkeiten der dargestellten Figuren greifbarer zu machen: Die wirtschaftliche Kluft zwischen Nord- und Südteheran; der Zusammenstoß des modernen mit dem traditionellen Lebensstil; die Unterdrückung der gesellschaftlichen Entwicklung im Zeitalter der Moderne und ihrer Errungenschaften; die hohe Bedeutung der Ehre und die Angst vor Gesichtsverlust; die politische Praxis, homosexuelle Handlungen zu bestrafen, Transsexualität aber zu akzeptieren – nach einer Fatwa von Ajatollah Chomeini, die geschlechtsangleichende Operationen billigt; Versuche, sich der Unfreiheit sowie der ökonomischen Zwangslage durch Sex, Drogen, Schönheitschirurgie und Kriminalität zu entziehen.

So grandios Stadt der Lügen als Psychogramm Teherans und der der iranischen Gesellschaft im Ganzen ist, weil Navai darin politische und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aspekte miteinbezieht, so unvollständig bleibt das Porträt. Denn die Multiethnizität und Multikulturalität der Hauptstadt und des Landes überhaupt, die auch eine zentrale Rolle für das Zusammenleben der Menschen spielen, thematisiert die Autorin nur indirekt – und das auch noch auf beschämende Art und Weise.

Navai erwähnt zwar das schwierige Leben von Afghanen, die nach dem Einfall der Sowjets in ihre Heimat 1979 in großer Zahl in den Iran geflüchtet sind und hier niedere Arbeiten verrichten. Doch reproduziert sie andererseits Klischees, etwa solche, die unter Persern über die Iran-Aserbaidschaner im Umlauf sind – vielleicht sogar, ohne sich dessen bewusst zu sein. So macht sich Navai in „Somayeh“ über einen gewissen Mullah Ahmad lustig, wenn sie schreibt, dass er nicht leicht zu verstehen war, „was nicht zuletzt an seinem starken aserbaidschanischen Akzent und seiner Vorliebe für Koranverse“ lag. In der Geschichte „Bijan“ gibt es einen Mann, der nur „der Kurde“ genannt wird. Weshalb er, der ebenfalls einer Minderheit angehört, namenlos bleibt, erklärt Navai indes nicht.

Über den turkisch-aserbaidschanischen Stamm der Kadscharen, die Iran von 1796 bis 1925 regierten, schreibt die Autorin in „Farideh“, dass es sich dabei um eine „türkische“ Dynastie handle. „Türkisch“ wird unter Persern gern als pejorative Bezeichnung für Iran-Aserbaidschaner verwendet, die heute 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Navai bezeichnet die Kadscharen ferner als „Unterdrücker“, „Hurenböcke“ und „Spieler“, „die sich an die Macht geklammert und die Reichtümer des Landes verschwendet hatten, während ihre Untertanen von Hungersnöten dahingerafft wurden.“ Die Autorin stellt diese Behauptungen auf, ohne sie jedoch zu belegen beziehungsweise weiterführende Literatur in ihren Quellen zu nennen, damit der interessierte Leser nachschlagen und sich ein eigenes Bild von dieser Dynastie machen kann.

Die Vernachlässigung und negative Darstellung der nichtpersischen Ethnien im Iran, in dem Fall vor allem der Aserbaidschaner, schmälern den hohen literarischen Rang von Ramita Navais Stadt der Lügen. Denn will eine Darstellung der Wirklichkeit, wie sie im Iran herrscht, gerecht werden, kommt sie nicht drum herum, das Thema der Multiethnizität und Multikulturalität in den Blick zu nehmen. Navai hat sich dem entzogen und letztlich ein durch ihre eigenen Vorurteile verzerrtes Iran-Bild entworfen. Das ist bedauerlich, gerade weil die Lektüre ihres Buches so fesselt, für einen iranischstämmigen Leser, der kein Perser ist, allerdings einen unangenehmen Beigeschmack hat.

Titelbild

Ramita Navai: Stadt der Lügen. Liebe, Sex und Tod in Teheran.
Übersetzt aus dem Englischen von Yamin von Rauch.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2016.
287 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783036957500

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