Im rasenden Rad der Zeit

Irmgard Keuns Darstellung des Kinder-Alltags im Ersten Weltkrieg

Von Liane SchüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liane Schüller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Irmgard Keuns Geschichtensammlung Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften erschien erstmals im Jahr 1936 im Amsterdamer Verlag Allert de Lange, einem der renommiertesten Exil-Verlage. Eben im selben Jahr hatte die Autorin Deutschland verlassen und endlich eine Publikationsmöglichkeit gefunden. Denn nach ihren großen Erfolgen zu Beginn der 1930er Jahre waren Keuns Romane von den Nationalsozialisten in Deutschland als „Asphaltliteratur“ indiziert und auf die sogenannte Schwarze Liste gesetzt worden. Ihre Versuche, noch Anfang 1936 in die Reichsschrifttumskammer aufgenommen zu werden, scheiterten, sodass sie keine Existenzgrundlage mehr hatte.

Die kurzen Texte haben eine interessante Rezeptions- und Entstehungsgeschichte, nicht zuletzt dadurch, dass sie in der Nachkriegszeit (zum Teil mit Anpassungen der Autorin) vielfach wiederaufgelegt wurden. Auch ihre Einordnung in die Exilliteratur kann nicht eindeutig vorgenommen werden. Denn, dass ihre Erzählungen erst 1936 veröffentlicht wurden, lag nicht an Keun, die bereits seit 1933 an den Geschichten schrieb, um sie unabhängig voneinander in verschiedenen Zeitschriften noch im nationalsozialistischen Deutschland platzieren zu können. Dabei war ihr bewusst, was sich in diesen Zeiten besonders gut verkaufen ließ: „Allmählich komm‘ ich auch dahinter, was die einzelnen Zeitungen wollen. […] Irgendeine neckische Scheiße ist leichter loszuwerden“, schrieb sie 1934 in einem Brief an ihren Freund Arnold Strauss. Diesen Umständen mag es geschuldet sein, dass die Erzählungen so harmlos daherkommen, aktuell-politische Themen weitgehend ausblenden und das provokative Potential von Keuns frühen Arbeiten vermissen lassen, die gesellschaftliche Diskurse aufgegriffen und inhaltlich, aber auch formal reflektiert hatten. Auf den ersten Blick lässt lediglich der Titel einer Geschichte – Wir schreiben an den Kaiser – Rückschlüsse über die zeitliche Verortung zu. Aus der Perspektive der namenlosen Ich-Erzählerin (je nach Episode 11- bzw. 13-jährig) werden Themen aus der kindlichen Lebenswelt in der Zeit des ersten Weltkriegs verhandelt. Eher beiläufig ist zwischendurch die Rede vom „Scheißkrieg“, der dann unvermittelt irgendwann zu Ende ist: „Da kam der Frieden mit den Extrablättern, und er sollte zuerst nicht angenommen werden“. Kohärent sind die Erzählungen nur bezüglich des sich wiederholenden Figurenarsenals (Eltern, Nachbarn, Lehrer und Peer-Group) sowie des sozialen Milieus und Handlungsortes Köln, dessen Lokalkolorit sich an verschiedenen Stellen durch die Erwähnung populärer Orte und Straßennamen entfaltet. Die Texte bilden kein homogenes Ganzes. Jede Erzählung kann für sich gelesen werden. Allerdings verdichtet sich durch die Gesamtlektüre das Bild des kleinbürgerlichen Kölner Kosmos. Mit dem ständigen Wiederaufgreifen von Figuren, Motiven und Schauplätzen bedient Keun ein durchaus modernes Konzept der Serialität – mittlerweile in diversen medialen Formaten allgegenwärtige Normalität. Um die wenigen Möglichkeiten, die der damals radikal eingeschränkte Literaturbetrieb bot, gezielt zu nutzen, zog die Autorin schließlich eine Zusammenführung der Einzelgeschichten in Erwägung: „Von diesen Kindergeschichten mache ich auch mal eine Serie, die ich als Buch erscheinen lassen will“, schrieb sie im Jahr 1935.

Vom literarischen Wert der Texte war Keun keineswegs überzeugt: „[…] mich selbst kotzen die Sachen an, ich dachte, sie wären dumm und oberflächlich, für internationales Publikum uninteressant“, schrieb sie im Frühjahr 1936 selbstkritisch an Strauss. Umso erstaunter war sie, dass der Geschichtenband überwiegend positiv besprochen und sie gar mit Charles Dickens als „Meister des Humors“ verglichen wurde.

Nachdem im Frühjahr 2016 Irmgard Keuns Exilroman Kind aller Länder bei Kiepenheuer & Witsch neu aufgelegt wurde, ließ der Verlag pünktlich zur Buchmesse im Herbst die Geschichtensammlung über das neugierige, umtriebige Mädchen folgen. Im Kontext des oben skizzierten Entstehungshintergrundes, des lockeren Arrangements und der uneinheitlichen Präsentation der Texte verwundert allerdings das Label „Roman“, das auch in der Erstausgabe von 1936 nicht auftaucht.

Die Erzählungen, für die Keun zum ersten Mal eine kindliche Erzählerfigur wählte, bedienen unterschiedliche Leseinteressen, die jedoch vor allem den unterhaltenden Lektüregenuss fokussieren. Für kindliche Befindlichkeiten zeigt die Autorin zwar ein gutes Gespür, merklich nutzt sie aber ihren erwachsenen Hintergrund, um das generationenübergreifende Lamento über die „verwahrloste Jugend“ und „verlorene Generation“ zu destillieren. Sowohl in ihren abenteuerlichen Streifzügen, als auch im Alltag üben sich die Kinder in der Reproduktion erwachsener Verhaltensmuster – man lernt bekanntlich durch Vorbilder. Dies wird in den Geschichten ins Komische verkehrt. So fragt sich die Ich-Erzählerin beispielsweise in der Geschichte Die Horde der rasenden Banditen, wie das „niedere“ Personal, für das sie als Banden-Hierarchie-Obere nun einmal verantwortlich sei (und welches sie in ihrer Position erst legitimiert), eigentlich auf Trab gehalten werden könne: „Manchmal ist es furchtbar schwer für uns, immer wieder was Neues für sie zu finden, und manchmal sind sie uns eigentlich eine Last“. Aus diesem Grund, folgert das Kind, lässt ein Befehlshaber seine Soldaten wahrscheinlich in den Krieg ziehen: „Niemals möchte ich später General werden, denn ein General hat tausend und abertausend Soldaten – ich wüsste nicht, was ich als General mit denen von morgens bis abends anfangen sollte. Vielleicht weiß es ein General auch nicht und lässt sie darum totschießen“.

Das burschikose Kind überschreitet in oftmals wohlgemeinten Streichen, aber auch aus Wut über die Ungerechtigkeiten der Erwachsenen permanent Grenzen, bis die anderen Kinder schließlich nicht mehr mit ihr „verkehren“ dürfen. Sie bringe nicht nur „Schande über die Familie“, sondern übe zudem einen äußerst schlechten Einfluss auf ihre Umgebung aus, bilanziert die Familie.

In den Geschichten werden erwachsene Verhaltensweisen im naiv-kindlichen Blick als irrational, unberechenbar und fremd gespiegelt. Durchaus in der Tradition von Erich Kästners ironisch-satirischem Typus kinderliterarischer Komik, die vor allem mit der Verschiebung von Sinnzusammenhängen und den darauf folgenden pointierten Schlussfolgerungen arbeitet, deckt Keun unter der Oberfläche fest zementierte stereotype Verhaltensmuster und scheinheilige Moralvorstellungen auf. Dabei macht sie nicht vor tradierten Rollenbildern halt und lässt ein facettenreiches, humorvolles Bild von einer Kindheit im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entstehen. Ihr kritisches Potential entfalten die Texte überwiegend im Verborgenen, wo subtil Vorurteile, Rollenklischees und überkommene Erziehungsmaßnahmen anklingen. Die Sprachmaske des Kindes bietet der Autorin eine Narrenfreiheit, die sie virtuos zu nutzen versteht: Wut und Ohnmacht entladen sich in der kindlichen Rebellion gegen (erwachsene) Autoritäten – ein Schelm, wer dahinter Kalkül und versteckte Seitenhiebe auf ein politisches System vermutet! Einen geschickten Kontrapunkt setzt die Autorin, wenn sie das ansonsten aufmüpfige Mädchen in flüchtigen Tableaus und leisen Momenten ihre Ehrfurcht vor einem Regenbogen äußern und mit ihrer Mutter chinesischen Wunderblumen beim Erblühen zuschauen lässt. Dann stoppt momenthaft das „rasende Rad der Zeit“, das Glück im Kleinen wird zelebriert und die – derzeit so viel beschworene − Achtsamkeit im besten Sinne erlebbar.

Als Nachwort greift die Ausgabe bei Kiepenheuer & Witsch bedauerlicherweise auf den gleichen Text von Volker Weidermann zurück, wie bereits bei der Neuausgabe des Romans Kind aller Länder im Frühjahr 2016. Einige erläuternde Worte zum Entstehungskontext der Geschichten hätten der Ausgabe gutgetan. Doch dass auch die weniger bekannten Texte Irmgard Keuns wieder aufgelegt und weitere Facetten ihres Schreibens, das Unterhaltung, Leichtigkeit und gesellschaftskritische Töne miteinander zu verbinden versteht, einer größeren Leserschaft zugänglich gemacht werden, ist äußerst lobenswert.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Irmgard Keun: Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften. Roman.
Neuauflage.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016.
208 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783462049916

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