Vom Verschwinden in der Literatur

Michael Krügers Roman „Das Irrenhaus“

Von Kay WolfingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kay Wolfinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach vielen Jahren ist 2016 endlich wieder ein Roman von Michael Krüger erschienen, dem legendären Lyriker, Prosaisten und ehemaligem Hanser-Verleger, liegt doch die Veröffentlichung von Die Turiner Komödie. Bericht eines Nachlaßverwalters bereits gut ein Jahrzehnt zurück. Dieses Buch entführte den Leser in den literarischen Kosmos eines kruden Dichternachlasses, gescheiterter literarischer Bemühungen und hin zu der Spur, die ein skurriler Lebensmensch auf dieser wirren Welt hinterlässt. In Variationen und Permutationen beschäftigten diese Themen Michael Krüger sein gesamtes erzählerisches Werk hindurch. Auch in den 2015 erschienenen Erzählungen Der Gott hinter dem Fenster wimmelt es nur so von Autoren, Lesern, Manuskripten und den mühsamen literarischen Versuchen, die Komplexität und die Entgleisungen des Lebens irgendwie auf einen Nenner zu bringen.

In dieser Folgelinie steht nun auch Das Irrenhaus. In dem Roman geht es um einen Archivar, der ein Mietshaus erbt und darum in der Lage ist, seinen Beruf an den Nagel zu hängen. Er führte bisher ein stetiges und unspektakuläres Leben, das sich mit alltäglichen Gegebenheiten abfindet, und sieht sich nun mit der Möglichkeit zum Luxus konfrontiert, der Möglichkeit, den Büchern, der Musik und dem Nichtstun frönen zu können. Insgesamt sei er weder besonders schlau, wie er von sich sagt, noch mit besonders starken Meinungen gesegnet: „kaum feste Überzeugungen und fast keinen Glauben, nur ein flüchtiges Staunen darüber, wie rasch und unkompliziert sich andere Menschen den Launen anpassen, die auf geheimnisvolle Weise in die Welt treten, sie eine Weile beherrschen und dann wie von selbst wieder verschwinden.“ Im Grunde genommen handelt der Roman eben von einer solchen Laune, die sich mit der Literatur und mit der literarischen Welt verschränkt, um sich gegen Ende wieder in Luft aufzulösen und den Protagonisten ins Ungewisse zu entlassen. Das Irrenhaus ist ein Buch über einen unverschuldeten Bruch im Leben, denn durch den Einzug in die neue Immobilie wird der ehemalige Archivar mit den literarischen Erinnerungen konfrontiert, die in diesen Mauern noch gespeichert sind. „Ich war selber verblüfft, wie schnell eine bestimmte Lebensform durch eine vollkommen andere ersetzt werden konnte“, heißt es einmal, und dieser Schlüsselsatz wird Programm. Vormieter der Wohnung war der bekannte Schriftsteller Georg Faust, der unter ungeklärten Umständen verschwunden ist. Doch da der icherzählende Protagonist in ebendieser Wohnung seine neue Bleibe einrichtet, geht dies nicht, ohne der immer noch anwesenden Aura des Schriftstellers zu begegnen, sich mit dessen unbeglichenen Rechnungen zu beschäftigen und schließlich mehr und mehr in seine Haut zu schlüpfen.

„Man müsste ein Schriftsteller sein wie mein Vormieter, dann könnte man sich seine eigene, ideale Welt erfinden, eine grenzenlose Welt, in der das Geld keine Chance hatte“. Und tatsächlich lässt sich der Protagonist ganz in diese Welt der Literatur hineinziehen, zu der auch eine ganze Anzahl von Begegnungen und skurrilen Hausbewohnern gehört, welche die Relikte seines früheren Lebens allmählich vergessen lassen. Im Zuge der stetigen Verwandlung seiner Identität erwächst dem früheren Archivar im Kontext seiner in diesem „Irrenhaus“ angestellten Überlegungen der Wunsch, gewissermaßen Fachmann für unvollendete oder aufgegebene Werke zu sein. „Es gab ja offenbar einen lebens- und werkentscheidenden Punkt im Schaffen eines schöpferischen Menschen, an dem der unbedingte Wille zur Form versagte“, wie er meint. „Dann war es nicht mehr möglich, auf der Höhe des eigenen Anspruchs, noch eine Note aufs Papier zu bringen oder ein Wort einem angefangenen Roman anzufügen. Mittelmäßige Künstler kennen natürlich Tricks, wie man das ‚Dingʻ, oft genug ein Auftragsprojekt oder mit hohen Vorschüssen belastet, zu einem Ende bringen kann, irgendwie. Aber der Preis ist hoch.“

Von solchen Folgerungen, Zitaten und Reflexionen zum Charakter der Literatur ist die Handlung dieses vergnüglichen und klugen Literaturromans durchzogen. Krüger legt abermals ein Vexierspiel vor, das Lust macht, sich mit seinen anderen Erzählwerken zu beschäftigen, wie etwa mit seinem Anfang 2016 wiederaufgelegten Roman Himmelfarb. Doch es sei an dieser Stelle noch verraten, dass der in der Wohnung omnipräsente Autor den Protagonisten schließlich dazu zwingt, sich seiner Post anzunehmen und die Briefe einer Verrückten zu beantworten. Der Erbe des Hauses wird zum Erbe des Dichters. Schließlich heißt es einmal: „Ich musste zum Hausbewohner werden, so schnell wie möglich, sonst würde ich auf der Straße landen. […] Wir laufen alle in die Irre, dachte ich, aber wenn der einzige Unterschlupf für alle Irrenden mein Haus sein sollte, dann ist es ein Irrenhaus. Dann muss einer von uns weg, es oder ich.“

Dieser Vorsatz wird allerdings nur bedingt eingehalten, denn aus der schleichenden Übernahme der Identität resultiert die Notwendigkeit, regelmäßig zu schreiben wie ein Schriftsteller und sogar die Schrift von Georg Faust nachzuahmen. Konsequenterweise erreicht den Protagonisten dann auch die Nachricht, dass ihm als Georg Faust der Literaturpreis der Bayerischen Kulturstiftung zugesprochen worden sei, den er natürlich anzunehmen gedenkt. In welchem Zimmer Georg Faust denn eigentlich wohne, erkundigt sich die Polizei im Zuge ihrer Ermittlungen, „und ich sagte: In allen. Tiefe, Ratlosigkeit, Schweigen.“ Aus allen Gestalten der Literatur sind Kandidaten für das Irrenhaus des Archivars geworden, der zum Schriftsteller wurde und dann doch plötzlich Abschied nimmt. Verschwindet er in die Literatur? Zumindest flieht er aus dem Roman. Wahrscheinlich um im nächsten Roman von Michael Krüger als Widergänger erneut aufzutauchen.

Titelbild

Michael Krüger: Das Irrenhaus. Roman.
Haymon Verlag, Innsbruck 2016.
188 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783709972526

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