Gebrauchslyrik und Alltagsprosa

Mascha Kalékos „Kleines Lesebuch für Große“ und „Das lyrische Stenogrammheft“ erleben eine Neuauflage in einem gemeinsamen Band

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anno 1927 sorgte Bertolt Brecht in der Welt der schönen Künste für einen kleinen literarischen Eklat, als er die 400 Einsendungen für einen von der Literarischen Welt ausgeschriebenen Lyrikwettbewerb ausnahmslos mit der Begründung zurückwies, keine davon genüge dem Kriterium, den Lesenden irgendwie von Nutzen zu sein. Daher seien sie einfach nicht zeitgemäß. Mascha Kaléko hat sich vermutlich nicht an dem Preisausschreiben beteiligt. Dabei hätte eines ihrer Werke zweifellos gute Chancen gehabt, nicht nur angenommen, sondern auch mit einem Preis gekrönt zu werden. Doch leider begann sie erst zwei Jahre später, ihre Gedichte zu veröffentlichen. Publikationsort war die Kulturzeitschrift Der Querschnitt, deren Untertitel das Periodikum als Magazin der aktuellen Ewigkeitswerte auswies. Die der Gebrauchslyrik zugerechneten Gedichte Kalékos hatte dort fraglos ihren angemessenen Platz gefunden, waren sie doch stets aktuell und erweisen sich noch immer von Dauer, wie die nunmehr bei dtv erfolgte x-te Neuausgabe ihrer 1933 erstmals erschienenen Gedichtsammlung Das lyrische Stenogrammheft zeigt. Auf den ursprünglichen Untertitel Verse vom Alltag wurde diesmal allerdings unerklärlicherweise verzichtet.

Kein geringerer als Thomas Mann bescheinigte den literarischen Erzeugnissen der Autorin schon früh eine „aufgeräumte Melancholie“ und ein weiterer Literaturnobelpreisträger, Hermann Hesse, erinnerte die „Sentimentalität und Schnoddrigkeit“ ihrer Gedichte gar an Heinrich Heine. Aber selbstverständlich liegt auch der Vergleich mit dem pfiffigen Erich Kästner nahe. Anderes aus Kalékos Feder wiederum erinnert an Irmgard Keun. Dies gilt vornehmlich für ihre Prosa im 1934 erschienenen Kleinen Lesebuch für Große – einige Aphorismen von wunderbarer Paradoxie inklusive: „Viele Dinge können nicht aus uns heraus, weil wir noch zu tief in ihnen stecken“. So etwas hätte dem marxistischen Dialektiker Brecht sicher gefallen.

Erfreulicherweise entschied sich der Verlag – einen Herausgeber oder eine Herausgeberin scheint es nicht zu geben – das Lesebuch ebenfalls in die Neuausgabe aufzunehmen. Auch hier wurde der Untertitel der Erstausgabe Gereimtes und Ungereimte gestrichen. Im Kleinen Lesebuch für Große findet sich neben Gebrauchslyrik auch Alltagsprosa, etwa über einen langen Abschied am Fenster eines Eisenbahnwaggons, bei dem es zwei einander immer noch Liebenden aus Unsicherheit und der Furcht, sich verletzlich zu zeigen, misslingt, sich einander zu offenbaren. Dabei wechselt die Erzählinstanz fließend die Perspektiven, was vielleicht auch darum so gut gelingt, weil beide „einander ähnlicher“ waren, „als sie wußten“. Andere der kurzen Geschichten erzählen von Mädchen an der Schreibmaschine, beklagen einen vertrödelten Sonntag, an dem man seine Zeit „vernuschelt“, oder unternehmen einen Kleinen Abstecher nach Marokko. In einem der Gedichte wiederum wird einer Reisetante ein Brief gesandt, in einem anderen erhält ein Freund ein Abgangszeugnis ausgestellt. Die Schicksale von Kalékos Figuren sind dabei nur selten „auf Maß geschneidert“, sondern meist „billige Konfektionsware“.

Die Dichterin wird nicht nur von großen Namen der Literaturgeschichte gepriesen, auch sie selbst scheut große Namen nicht. So greift sie als Prätext ihrer intertextuellen Bezüge schon mal auf das Eigentum des einzigartigen Philosophen Max Stirner zurück, der sich bekanntlich seinerseits bei Johann Wolfgang Goethe bediente. Aber wer weiß, vielleicht hat Kaléko den alten Meister höchst selbst herbeizitiert. Der Titel des besagten Gedichtes Osterspaziergang lässt das sogar vermuten. Kalékos Lyrisches Ich allerdings stellt ihre Sach’ nur darum auf nichts, weil es mehr sich nicht leisten kann, und auch die Ostersonne wärmt bloß beinahe und wird schnell von heranziehenden Wolken „wegradiert“. Verlieben aber kann man sich erst, „wenn man frei auf Bänken sitzen kann“ und die Sonne freundlich wärmt.

Solcherart Verliebten scheint dann zwar allnächtlich der Vollmond, doch zeigt er sich nach einer Weile auch schon mal „schlechtrasiert und matt“. Dann lässt der recht unsentimental im Gewand der Neuen Sachlichkeit auftretende Abschiedsschmerz nicht mehr lange auf sich warten. Nach dem Ende einer Liebschaft bleibt schließlich „ein unbewohnter Raum/ In unserm sogenannten Innenleben“ zurück.

Die Leichtigkeit, die dem Lyrischen Stenogrammheft lange innewohnt, geht gegen Ende verloren und muss an Blassen Tagen einer tiefen Traurigkeit den Platz räumen. Sentimental aber wird es allenfalls mal, wenn das Lyrische Ich „einem Kinde im Dunkel“ tröstend die Hand reicht. Dieses Lyrische Ich der Dichterin muss keineswegs stets weiblichen Geschlechts sein, sondern kann ebenso wohl einem „‚reifen Mann‘ mit Amt und Pflicht“ oder einem Ledigen Herrn am 24. Dezember zu Stimme und Rede verhelfen.

Die beiden in dem Band versammelten Büchlein bieten Gebrauchslyrik und Alltagsprosa sowie ein er- und gegebenenfalls aufheiterndes Lesevergnügen an Blassen Tagen wie überhaupt für zwischendurch. Dass die Reime auch schon mal ins Holpern und Stolpern geraten, tut da rein gar nichts. Ein Vor- oder Nachwort, das dem interessierten Publikum Näheres über die Autorin und ihr Werk mitteilt, wäre allerdings wünschenswert gewesen. Aber für dieses Manko kann Kaléko schwerlich haftbar gemacht werden.

Titelbild

Mascha Kaléko: Das lyrische Stenogrammheft. Kleines Lesebuch für Große.
dtv Verlag, München 2016.
199 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783423280983

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