Bruttonationalblues

Anna Weidenholzers „Weshalb die Herren Seesterne tragen“ wirft Fragen auf

Von Paul GeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Paul Geck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Weshalb die Herren Seesterne tragen? Wie so vieles bleibt die Titelfrage in Anna Weidenholzers wunderlichem Roman offen. Die junge österreichische Schriftstellerin mit Hang zu skurrilen Titeln (ihr Debütroman hieß Der Winter tut den Fischen gut) liebt das Ungefähre und Rätselhafte, und lässt den Leser auch zwischen den Zeilen vergeblich nach Antworten suchen.

Weidenholzers Hauptperson, Karl Hellmann, ein pensionierter Lehrer mit zu viel Zeit, möchte die „Gesellschaft“ besser verstehen. Möchte wissen, „woher diese Unzufriedenheit kommt, diese Angst, die manche in die falsche Richtung treibt.“ Durch Zufall ist er auf einen Fragebogen gestoßen, mit dem im südasiatischen Staat Bhutan – und das ist nun keine Fiktion – das „Bruttonationalglück“ der Bevölkerung erhoben wird.

Eines Morgens bricht Karl unvermittelt zu seiner Glücksforschungsreise auf – im Stile des Mannes, der mal eben Zigaretten holen geht. Sein Ziel: Ein namenloses Bergdorf, per Zufall ausgewählt. Dort angekommen, steigt er im Hotel Post ab, an dessen bessere und intaktere Zeiten ein schief hängendes Bild der Besitzerfamilie erinnert. Die nunmehr einsame Wirtin, welche für die exakt schiefe Hängung des Bildes Sorge trägt, wird zu Karls erster Testperson – F1. Ihren Namen darf sie dem Forscher nicht verraten, um die Neutralität der Befragung nicht zu gefährden. Vom Protagonisten wird sie prompt zur Hilfswissenschaftlerin ernannt: Sie darf ihm seine nächsten Gesprächspartner auswählen, indem sie ihren Finger langsam über das Telefonbuch fahren lässt, bis Karl „Stopp!“ sagt. So vergehen einige Wochen, während denen die kauzige Hauptfigur eine Handvoll Personen stundenlang befragt. Seine wissenschaftliche Objektivität gerät dabei vollends zur Farce, allein schon weil jeder der Befragten versucht, Karl zu manipulieren und ihn auf seine Seite zu ziehen.

Das Porträt des Dorfs, das dabei entsteht, ist furchtbar deprimierend: Dumpfe Biederkeit, Geheimnisse, Tratsch und soziale Kontrolle untereinander bestimmen das Leben der Dorfbewohner. Eine kaum unterdrückte Gewalttätigkeit. Und vor allem: die Langeweile. Karls Wirtin bezeichnet als den Höhepunkt ihres Jahres den „Lichtbildvortrag“ eines Weltreisenden, der stets im Herbst im Dorf Station macht. Ein anderer verbringt so viel Zeit wie möglich in seinem zur Strandlandschaft ausgebauten und mit Heizstrahlern versehenen Heizkeller. In der Tankstelle des Ortes, die keine mehr ist, treffen sich die trinkenden Männer und beobachten jeden mit Argwohn, der sich ihrem scheinbaren Idyll nähert.

Karl, der Glücksforscher, in einem Dorf, das zu seinem Forschungsgegenstand wenig beizutragen hat. Aber vielleicht ist es ja dennoch da, unsichtbar, darauf wartend, von Karl entdeckt und erhoben zu werden. Also stellt er seine Fragen: „Wie haben Sie Ihren gestrigen Tag verbracht? Wie sehr genießen Sie ihr Leben? Woher beziehen Sie politische Informationen? Kennen Sie die Namen Ihrer Urgroßeltern?“ Und viele, viele mehr.

Deutlich wird aber vor allem eines: Zu allererst sind es Karls Ängste und seine Marotten, die ihn bedrücken; sein Leben und seine Rolle, nach denen er auf der Suche ist. Oder ist Karl nur auf der Flucht vor seiner Partnerin Margit, ihrer Dominanz und seiner Unsicherheit? Margit, von Karl zu Hause zurückgelassenen, ist neben Karl die heimliche Hauptfigur, ohne auch nur einmal direkt im Buch aufzutauchen. Karls Grübeln „Margit würde jetzt“ und „Margit mag das“ oder „Margit hasst das“ beschwören ihre Präsenz auf beinahe jeder Seite des Romans. Kann das Liebe sein, oder ist das Furcht? Margit behält ihre Dominanz über Karl jedenfalls auch in ihrer Abwesenheit.

Weshalb die Herren Seesterne tragen ist ein melancholisches und langsames Buch, das den Leser in seinen trägen Fluss hineinzieht. Weidenholzer gelingt die Charakterzeichnung einer neurotischen und verschrobenen Hauptperson, die nach einem sicheren Stand in ihrem Leben sucht.

Die Suche nach dem Glück indes misslingt, es findet sich nicht einmal in den „kleinen Dingen des Lebens“, oder in Familie und Freundschaft, in Natur, Musik oder Essen. Wer Antworten will, greife also lieber zum Glücks-Ratgeber im Lebenshilfe-Regal.

Titelbild

Anna Weidenholzer: Weshalb die Herren Seesterne tragen. Roman.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2016.
192 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783957573230

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