Genealogie des Monotheismus

Jan Assmanns „Totale Religion“

Von Wolfgang HerbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Herbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das semantische Dynamit, das in den heiligen Texten der monotheistischen Religionen steckt, zündet in den Händen nicht der Gläubigen, sondern der Fundamentalisten, denen es um politische Macht geht und die sich der religiösen Gewaltmotive bedienen, um die Massen hinter sich zu bringen. Die Sprache der Gewalt wird als eine Ressource im politischen Machtkampf missbraucht, um Feindbilder aufzubauen und Angst und Bedrohungsbewusstsein zu schüren. Daher kommt es darauf an, diese Motive zu historisieren, indem man sie auf ihre Ursprungssituation zurückführt. Es gilt, ihre Genese aufzudecken, um sie in ihrer Geltung einzuschränken.

Mit dieser Absichtserklärung legt uns Jan Assmann seine Beweggründe für sein Projekt dar. Sollte es tatsächlich gelingen, anhand einer genauen genealogischen und hermeneutischen Spurensicherung aufzuzeigen, dass die Sprache der Gewalt in den heiligen Schriften eine hyperbolische und metaphorische und mithin nicht wörtlich zu nehmen ist, dann würde ihr der Zündstoff genommen werden.

Das Buch „Totale Religion. Ursprünge und Formen puritanischer Verschärfung“ beruht auf einer Vorlesung, die der renommierte Ägyptologe Assmann 2004 im Wiener Rathaus hielt und die anschließend in der Reihe „Wiener Vorlesungen“ erschienen ist. Es stellt ein Sublimat und eine Präsentation von Thesen dar, die der Autor in zahllosen Schriften entwickelt hat. Sie werden hier in raffinierter Form zusammengefasst und mit rezenter Sekundärliteratur abgesichert. Außerdem erfahren sie eine Zuspitzung in der Bezugnahme auf Carl Schmitts „Ernstfall“ und eine Konkretisierung im Rückgriff auf die Geschichte(n) der „Makkabäerkriege“. Im Übrigen setzen sie die Linie fort, die Assmann seit eh und je verfolgt.

Folgen wir vorerst dem Titel: „Totale Religion“. Darunter versteht Assmann „einen Aggregatszustand oder Intensitätsgrad von Religion, den verschiedene Religionen annehmen können“. Wie an den darauf folgenden Ausführungen zu ersehen ist, befinden sich jedoch vor allem die Monotheismen in privilegierter Position, um diese Eskalationsstufe zu erreichen. Um aufzuzeigen, wie es so weit kommen kann, sollen einige zentrale Denkfiguren nachskizziert werden. Des Weiteren werden Ingredienzien aufgeführt, deren Synergie Assmann zufolge zur Totalisierung führen.

Wegbereitend und entscheidend ist, was Assmann die mosaische Unterscheidung nennt. Es handelt sich dabei um die Unterscheidung von „wahr und falsch“ im religiösen Sinne, somit zwischen wahrem (dem einen) Gott und falschen Götzen. Dabei unterscheidet er einen Monotheismus der Wahrheit und einen der Treue. Bei letzterem geht es um die Treue zu dem Gott, der zur Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft geführt und sein Volk zur Schließung eines Liebesbundes auserwählt hat. Bundesbruch bedeutet Apostasie, die Metaphern dafür sind „Ehebruch“ und „Hurerei“. Der Monotheismus der Treue erkennt die Existenz anderer Götter noch an, fordert aber absolute Loyalität zu dem einen Gott der Bundespartnerschaft. Die Sprache, mit der dies kodiert wird, stammt aus assyrischen Vasallenverträgen und übernimmt von dort eine Semantik extremer Gewalt gegen all jene, die Gehorsam und Untertanenschaft verweigern. Die angedrohten Strafen reichen bis zur gnadenlosen Vernichtung und Ausrottung. Diese Drohformeln werden nun aus der politischen Sphäre in die religiöse transponiert, das königlich-assyrische Despotentum auf die exklusive Beziehung zu Jahwe „umgebucht“. Damit soll gleichzeitig ein Akt der Befreiung aus der weltlichen Herrschaft gesetzt worden sein.

Das Eingeschworenwerden auf einen einzigen Herrn kommt einem Akt der Konversion gleich. Eine Abwendung von allen anderen Göttern und eine exklusive Zuwendung zu dem Gott, mit dem ein Bund eingegangen wurde, verlangt eine Entscheidung und Unterscheidung. Hier geschieht der Schritt von der Monolatrie (Verehrung eines Gottes ohne die Existenz anderer Stammesgottheiten zu negieren) zum exklusiven Monotheismus. Dieser „Monotheismus der Wahrheit“ ist es, der gegen den Bilderkult vorgeht und die falschen Götzen auszutreiben sucht. Sieht man diese Wende als eine kollektive Konversion, so richtet sich Gewalt und Ausgrenzung zum einen gegen die eigene Vergangenheit und zum anderen auf die noch nicht Konvertierten in den eigenen Reihen. Kanaan steht als Chiffre dafür: „Hinter dem ausgeprägten Anti-Kanaanismus des Deuteronomiums und dem in den späteren Texten immer ausgeprägter zutage tretenden Abscheu vor der Bilderverehrung steht also das Pathos der Konversion, die Leidenschaft einer lebenswendenden Entscheidung, die Angst vor dem Rückfall und die Entschlossenheit, den Heiden in sich auszurotten.“ Assmann sieht in der Wende zum Monotheismus einen kulturellen Sprung allererster Größenordnung. Und die Sprache der Gewalt hat ihren Sitz in der Rhetorik der Konversion, der Hinwendung zu einem ganz und gar neuen Leben. Dagegen jedoch erhebt sich Widerstand, Meuterei, Rebellion. Das äußert sich in den wiederholten Szenen des „Murrens“, die den Exodus begleiten und die in physische Gewalt ausarten können. Jedenfalls ist die Zumutung des Gottesbündnisses eine, die teilweise mit Gewalt durchgesetzt werden muss. Untreue wiederum wird vom eifersüchtigen göttlichen Bundesherrn mit Fluch und schweren Strafen belegt.

Der konterrevolutionäre Widerstand findet seinen literarischen Niederschlag in 14 Geschichten des „Murrens“, die auch Gewalt thematisieren. Das widerspenstige Volk verfällt immer wieder der Idolatrie, dem Unglauben, der Verführung zum Gesetzesbruch und dem reinen Materialismus. Paradigmatisch dafür steht die Geschichte mit dem Goldenen Kalb. Assmann geht auch der von Sigmund Freud aufgegriffenenThese nach, ob Moses nicht vielleicht umgebracht worden sei. Das werde heute nicht mehr ernsthaft vertreten, aber: „Der Punkt ist vielmehr, dass es im Alten und im Neuen Testament eine dichte Tradition über die Verfolgungen gibt, denen die Propheten mit ihrer monotheistischen Botschaft vonseiten ihrer Zeitgenossen ausgesetzt waren und über das Schuldgefühl, das sich im Volk mit dieser Überlieferung verbunden hat.“ Der Zorn Gottes und das Strafgericht sind aber auch Figuren einer Theodizee. Land, Königtum und Tempel sind verlorengegangen, doch Gott hält seinem aufsässigen und zur Abtrünnigkeit neigenden Volk die Treue und verheißt ihm ewige Gemeinschaft.

Assmann verschärft seine Thesen entscheidend, indem er das Konzept des „Ernstfalles“ nach Carl Schmitt aus dem Politischen in die Religion transferiert. Das Politische definiert sich nach dem zu Recht lange in Verruf geratenen Schmitt in der Unterscheidung zwischen Freund und Feind, den Ernstfall stellt der Krieg dar. Spitzt sich alles daraufhin zu, dann lässt sich leicht legitimieren, dass die Politik alle anderen Wertsphären, die sich im Zuge der Moderne mühsam ausdifferenziert haben (Recht, Moral, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Religion etc.), kolonialisiert und ihrer Hegemonie unterwirft. Werden nun alle Wertsphären und das gesamte Leben unter das Diktat der Religion gestellt, kommt es zu einer analogen Totalisierung. Der Ernstfall in der mosaischen Religion tritt ein, wenn Gott seinen Zorn auslässt. Daher wird Treue zu ihm und dem von ihm gestifteten Gesetz zum obersten Gebot. Der „deuteronomistische Puritanismus“ ist als konkreter Fall einer totalen Religion zu verstehen: „Eine totale Religion ist eine Religion, die einen hegemonialen Anspruch auf die Kultur und den Menschen erhebt, so wie Carl Schmitt das für den totalen Staat definiert und gefordert hat, und die diesen Anspruch mit dem Verweis auf den Ernstfall begründet“, schreibt Assmann. Hier gilt die mosaische Unterscheidung im Sinne von Treue, Reinheit, Heiligkeit, die so weit führt, dass „Mischehen“ gewaltsam aufgelöst werden. Die „Torah des Moses“, die Urfassung des Deuteronomiums, erhält den Rang absoluter Autorität. In ihr ist der göttliche Wille kodifiziert, dem es in allen Lebensbereichen zu folgen gilt. „Das ist etwas absolut Neues. Keine andere Religion der damaligen Zeit kennt einen Kanon heiliger Schriften, die unbedingte Befolgung, das heißt Umsetzung in Lebenswirklichkeit verlangen.“ Im Zuge dessen kommt es zur Aussonderung all dessen, was mit dem geoffenbarten Gesetz nicht kompatibel ist und kultische, ja gar genetische Reinheit werden verbindlich: „Der radikale Puritanismus – von Josia bis zum saudischen Wahhabismus – ist besonders anfällig für die tätliche Umsetzung sprachlicher Gewalt, wie sie in den kanonischen Texten kodifiziert ist.“

Eine zelotisch-puritanische Ausschreitung par excellence findet sich in der Geschichte der Makkabäerkriege, die Assmann mit großer interpretatorischer Sorgfalt aufgreift. Dabei ging es letztlich um den Konflikt zwischen einer exklusivistischen und einer universalistischen Interpretation der jüdischen Glaubenszugehörigkeit, einem Festhalten an einer deuteronomisch strikten Gesetzesobservanz und einer Liberalisierung im Sinne einer weltoffenen, reformbereiten Haltung. Eine Spannung im Übrigen, die in der gesamten Geschichte des Judentums bis heute anhält. Damals entspann sich

der Konflikt zwischen einer Reformpartei, die eine Öffnung des Judentums gegenüber dem koinos bios, der allgemeinen Lebensweise anstrebt, und einer konservativen Partei, die unter allen Umständen an den überkommenen Gesetzen festhalten will. Die mit dem Hellenismus aufkommende und sich in der ganzen Alten Welt verbreitende „gemeinsame Lebensweise“ entspricht in großen Zügen dem, was heute als westlicher Lebensstil verstanden und von den Fundamentalisten in Ost und West verabscheut wird. Fundamentalismus ist damals wie heute eine Reaktionsbildung auf eine Verwandlung der Welt in Richtung Modernisierung und Globalisierung, die von bestimmten (und gegenwärtig immer stärker werdenden Gruppen) als Bedrohung ihrer Identität empfunden wird.

Zelotentum als Reaktion, das seine äußerste Ausdrucksform im Martyrium findet. Leben und Sterben im Namen der Religion geschieht dann, wenn diese die totale Macht übernimmt. Der Ausbruch der Makkabäerkriege erfolgt zeitgleich mit der Entwicklung einer apokalyptischen Semantik im Buch Daniel. Weltende, Weltgericht, Heil oder Verdammnis stehen am unmittelbaren Horizont. „Apokalypsis bedeutet die Enthüllung des Ernstfalls […]. Unter dem ‚Ernstfall‘ im Sinne Carl Schmitts hat man keine reale geschichtliche Situation zu verstehen, sondern die Konstruktion von Bedrohungsszenarien durch interessierte Kräfte. […] Die Apokalypse stellt die äußerste Form eines solchen Bedrohungsszenarios dar. Sie ist die schärfste Waffe in der Strategie einer Sprache der Gewalt und bildet zugleich den gemeinsamen Nenner von westlichem und östlichem, christlichem und islamischem Fundamentalismus.“ Dieses und die davor zusammengestellten Zitate wurden bewusst ausgewählt, da sie aus den erstaunlich spärlichen Stellen stammen, an denen Assman explizit Bezug auf gegenwärtige Entwicklungen nimmt. Sonst finden sich kaum konkrete Beispiele auf laufende Ereignisse, Gottesstaat, Kaliphatsfantasien sowie Terror und Martyrertum als der vermeintlich sicheren Pforte zum Paradies in vorgeblich endzeitlichen Kampfszenarien. Die wenigen Hinweise genügen jedoch, um zu sehen, wie fruchtbar sich Assmanns These auf militante Sekten und kriegerische Auseinandersetzungen, die religiös legitimiert werden, anwenden ließe.

Es wäre lohnend und gewiss mühelos zu erweisen, dass die von Assmann aufgedeckte Konstellation am reinsten in Formationen zur Entfaltung kommt, die im anglophonen Raum als „cult“, im deutschen als „Sekte“ figurieren. Dies wäre umso gewinnbringender, als sich alle drei Monotheismen als eingeschworene Gemeinschaften in Abgrenzung zu ihrer Umwelt zu Großreligionen entwickelten. Eine Sekte ist gewissermaßen eine Religion in statu nascendi. Auch wenn es die meisten nicht zur Großreligion schaffen, kann hier nahezu unter Laborbedingungen Konvertitentum, religiöser Eifer und Radikalismus studiert werden.

In einer „Sekte“ kommen alle von Assmann genannten Elemente zum Tragen: eine scharfe Unterscheidung zwischen religiöser Wahrheit und Verblendung, eine uneingeschränkte Loyalität zum Guru, der gleichzeitig Stellvertreter Gottes ist, absoluter Wahrheitsanspruch, rigorose Sanktionen (Liebesentzug) bei Fehltritten oder Zweifel an der Lehre, ein Gefühl der Auserwähltheit, dem die Welt feindlich gegenübersteht, klare Unterscheidung und Segregation zwischen Sektenmitgliedern und Ungläubigen (Freund-Feind-Schema), permanente bis paranoide Angst vor Abweichung oder Abfall vom Glauben, komplette Vereinnahmung und Kontrolle der gesamten Lebensführung, somit „Phobokratie“ und „totale Mitgliedschaft“ im Sloterdijk’schen Sinne. Wird hier ein Ernstfall konstruiert im Stile eines Endgerichts oder Armageddons, mithin eine apokalyptische Zündschnur gelegt, kann die Gewalt explodieren und zwar nach außen (beispielsweise die Giftgasanschläge durch die japanische Paradesekte Aum Shinrikyô 1995) oder nach innen (zum Beispiel der Massenselbstmord der Anhänger des Peoples Temple in Guyana 1978). Damit ließe sich zugleich erweisen, dass es nur gewisse Formen des Monotheismus sind, die tatsächlich in Gewalt umschlagen, vor allem diejenigen fundamentalistischer Natur, welche die Rede von Gewalt wortwörtlich verstehen und als Aufforderung, sie auszuüben. Fundamentalismus kann in diesem Lichte auch als Rückschritt in das Sektenstadium gesehen werden.

Peter Sloterdijk hat sich mit einem eigenwilligen und wie stets vor Wortwitz strotzenden Büchlein („Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen“) in die Monotheismus-Debatte eingeklinkt. Er konstatiert darin, bevor er Assmanns Thesen nachdrücklich affirmierend vorstellt: „Der Ernst der Debatte entspringt aus dem inzwischen breit begründeten Verdacht, die vom Christentum und vom Islam zu verantwortenden Gewaltakte seien kleine bloßen Verkehrungen gewesen, die das Wesen dieser an sich gutartigen religiösen Lehren verfälschen, sie stellten vielmehr Manifestationen eines von ihrem Bestand untrennbaren polemogenen Potentials dar.“ Dieser Verdacht dürfte durch die Argumentationskette Assmanns als erhärtet gelten, wiewohl bei ihm der Fokus auf der Gewalt nach innen (intrakonfessionell), bei Sloterdijk auf der nach außen (interreligiös) liegt. Fragt sich nun, wie dieses polemogene Potenzial entschärft werden kann. Auch hier hat Assmann überdenkenswerte Wegweiser aufgestellt.

Aufgenommen werden Toleranzgedankengänge aus dem 18. Jahrhundert, notabene bei Gotthold Ephraim Lessing und seinem Freund Moses Mendelssohn, dem er mit der Figur des Nathan ein literarisches Testament vermacht hat. Von der im Theaterstück „Nathan der Weise“ aufgegriffenen Ringparabel sollen mittlerweile bis zu 30 Varianten bekannt sein, die älteste soll bis ins 8. Jahrhundert zurückgehen und nicht zuletzt auf dem islamischen Gedanken der drei Buchreligionen beruhen, durch den in muslimisch regierten Regionen den Juden und Christen via Kopfsteuer ein Sonderstatus verliehen wurde. Durch edle und gute Lebensführung mag sich die Wahrheit erweisen, die nicht einer singulären „positiven“ Religion „gehört“. Unter „positiven Religionen“ verstand Lessing die zur Konvention geronnenen, geoffenbarten Religionen im Unterschied zur „natürlichen Religion“, die einem Menschenbedürfnis folgend über die Vernunft einem höchsten Wesen nachstrebe. Eine analoge Unterscheidung im Sinne einer „Religio duplex“ traf Moses Mendelssohn: In gutem aufklärerischen Geiste postulierte er eine allgemeine Menschenreligion, die über die von Gott dem Menschen verliehene Ratio erschließbar ist und sich in einer allen Menschen gemeinsamen Religiosität äußert. Die Wahrheit, die sie birgt, ist eine ewige im Gegensatz zu der schriftlich fixierten, historischen Wahrheit von Gesetzesvorschriften und Glaubensartikeln. Letztere gilt zum Beispiel in Form der Moses geoffenbarten Gesetze für die Juden, erstere als alle Zeiten und Umstände transzendierende Wahrheit für die gesamte Menschheit. Mendelssohn differenziert somit zwischen partikularen Religionen (wie das Judentum, Christentum, Islam), in die man hineingeboren wird, und der allgemeinen Menschenreligion, die in Teilhabe an der Schöpfung Gottes und in Form einer universalen Weisheit allen Menschen zukommt. Somit kann der Mensch eine „doppelte Mitgliedschaft“ haben und wenn er sich diese bewusst macht, führe dies zu gegenseitiger Anerkennung und Frieden.

Assmann verweist auch darauf, dass in der katholischen Kirche mit der lateinischen Formel „et/et“ (sowohl als auch) eine Mehrwertigkeit und ein Inklusionsverfahren bestehen, die vor einem konfrontativen „Entweder/Oder“ schützen. So ist das europäische Rechtsdenken sowohl von christlichen als auch von römisch-philosophischen Prinzipien abgeleitet, wobei sich diese nicht ausschließen. Dies gilt insbesondere in Bezug auf die Menschenrechte, in denen Assmann eine konsensfähige, universale und säkulare „Religion“ sieht, die im Einklang mit den genuinen, transzendenzorientierten Religionen dieselben Ziele anstrebt: Humanität, Gerechtigkeit, Liebe, Frieden, Glück:

Da es Religionen nun einmal nur im Plural gibt und geben wird, ist „Sowohl/Als auch“ – sowohl Treue zum Eigenen als auch Respekt vor dem Anderen im Bewusstsein gemeinsamer Zugehörigkeit zum genus humanum – das Gebot der Stunde. Diese Form schafft die Distanz nicht ab, sondern respektiert sie im Hinblick auf etwas Übergreifendes, das man im 18. Jahrhundert „natürliche Religion“ nannte und das sich heute in erster Linie mit dem Begriff der Menschenrechte verbindet.

Im Weiteren ist eine mehrsinnige Lesung geoffenbarter Texte im Christentum seit Origenes etabliert und in der mehrstimmigen, auslegungsfreudigen Kultur des Judentums selbstverständlich. Eine Öffnung der hermeneutischen Spannweite ist ein wirksames Pharmakon gegen integristische und buchstabengetreue Verengungen. Polyphonie statt oktroyierter Monotonie. Grautöne statt Schwarzweiß.

Assmanns Argumentationslinie beruht auf einer methodischen, damit durchaus fruchtbaren Engführung. Er konzentriert sich auf den exklusiven Monotheismus, die kulturelle Semantik der Sprache der Gewalt, nicht auf deren konkrete Exzesse, und er geht kulturwissenschaftlich-historisch, nicht theologisch vor. Fokussierung bedingt immer Ausblendung. Daher darf hier daran erinnert werden, dass es in den monotheistischen Traditionen radikal andere Gottesvorstellungen als der eines eifernden Stammesgottes gibt: und zwar in der Kabbala (Judentum), in der Mystik (Christentum) und im Sufismus (Islam), die alle in monistische Höhen führen. Dort treffen sich die genannten mit östlichen Religionen (vorab Buddhismus und Hinduismus) im Sinne einer (philo)sophia perennis. Allen Monotheismen ist zudem die allzu anthropomorphisierende Rede von Gott unbehaglich geworden. Im Christentum ragt hier die negative Theologie heraus, die es da mit dem upanischadischen „neti, neti“ (nicht dies, nicht das) aufnehmen kann, das die Unbeschreibbarkeit des Höchsten zum Ausdruck bringen soll. Im Judentum gibt es die Warnung, Gott gegenüber allzu viel Lobpreis auszudrücken, da die Rede von Gott immer unangemessen und unzureichend bleibt und unter Blasphemieverdacht steht, ja, der Name Gottes selbst steht unter Artikulationsverbot. Im Islam ist die Überweltlichkeit Allahs als des ganz Anderen so absolut, dass Allah gerade deshalb unter keinen Umständen verbildlicht werden darf. Die mystischen Unterströme in den monotheistischen Religionen, die auch ein plotinisch abgestuftes Denken privilegieren, sind starke Antibiotika gegen fundamentalistische Infektionen. Eine gewisse Immunität gegen Radikalismen ist somit den Monotheismen immanent.

Da muss man nicht einmal mit Peter Sloterdijk in einer schon herzigen, ägyptomanisch-romantischen Weise auf eine Renaissance im Zeichen Ägyptens verweisen. Lassen wir uns den Denkanstoß dennoch geben:

Es impliziert einen Kulturvergleich, in dem sich die Intoleranzkulturen des Nahen Ostens und Europas mit dem Wiederkehrrecht einer vergessenen und verdrängten Tolaranzkultur ägyptischen (potenziell auch mittelmeerischen und indischen) Typs auseinanderzusetzen hätten – und zwar nicht nur in ethischer Hinsicht, sondern auch auf der Ebene der Ontologie und Kosmologie. Assmann hat für den virtuell renaissancefähigen (oder zumindest erinnerungsbedürftigen) Komplex den Ausdruck Kosmotheismus vorgeschlagen. Er bezeichnet einen religiösen Weltentwurf, der aufgrund seiner internen Qualitäten, insbesondere durch das Prinzip der multiplen Darstellungen des Höchsten, die Entstehung zelotischer Vereinseitigungen verhindert.

Wer der ausgesprochen diffizilen Exegese Assmanns folgt, wird in der Tat erkennen, dass die Sprache der Gewalt in den sakrosankten Texten, wenn sie entsprechend „historisiert“ wird, in keiner Weise tatsächliche Gewalt legitimiert oder gar dazu aufruft. Auch wenn dies so geschieht und geschah. Die entsprechenden Textstellen sind den Gelehrten der monotheistischen Traditionen schon seit langem peinlich und von ihnen interpretatorisch entschärft worden. Bereits eingangs warnt Assmann, wie um sich gegen vergangene oder künftige Kritik zu wappnen: „Die Sprache der Gewalt ist kein Spezifikum des Monotheismus.“ Wie immer bleibt dagegen die Gefahr bestehen, dass die Rezeption nicht so differenziert geschieht wie die Exposition erfolgt ist. Zu hüten hat man sich vor Vergröberungen und schlagzeilenhaften Kurzschlussverfahren wie: „Monotheismus führt zu Gewalt!“ Das Potenzial dafür birgt er, ja, aber in dieser monokausal-apodiktischen Weise stimmt dies schlechthin nicht. Gerade eine genaue Lektüre des Assmann’schen Werkes erweist ebendies. Und selbst Auswege aus dem Dilemma, die das “polemogene Potential” schafft, weiß er zu benennen. Seinen nuancierten Darlegungen zu folgen, erfordert flexible Denkarbeit und undogmatische Reflexionsbereitschaft. Eine Befürchtung sei noch ausgesprochen: Es ist zu vermuten, dass – nennen wir sie beim Namen (was bei Assmann nirgends geschieht) – zum Beispiel die desperaten ISIS-Krieger, für exegetische Feinheiten und apokalyptische Abrüstung taub sein dürften. Dazu Sloterdijk:

Dabei werden die Gemäßigten die Beobachtung machen, daß ihre jeweiligen Eiferer und Endzeitkrieger in der Regel nur flüchtig angelernte Aktivisten sind, bei denen der Zorn, das Ressentiment, die Ambition und die Suche nach Empörungsgründen dem Glauben vorhergehen. Der religiöse Code dient ausschließlich zur Vertextung einer sozial bedingten, existentiellen Wutspannung, die auf Abreaktion drängt. Auf sie wird mit religiösen Mahnworten nur in den seltensten Fällen dämpfend einzuwirken sein.

Assmanns Thesen haben weltweit Aufsehen erregt und zu einer heftigen Debatte geführt, die teilweise im Perlentaucher ablief und dort re-evaluiert und nachgelesen werden kann. Assmann hat sich nicht gescheut, auf alle kritischen Anwürfe (beispielsweise des Antisemitismus) geduldig, wohlgesonnen und eingehend zu antworten. Viele Gegenargumente hat er positiv gewendet, in seine Denkrichtung integriert und damit seine Thesen einer erneuten Destillation unterzogen und mit gestärkter Plausibilität präzisiert. Die erstaunliche Kritikresistenz darf als Beweis dafür gelten, dass Assmanns Ausführungen in die ‚richtige‘, seit David Hume vorgeschnitzte Kerbe schlagen. Die Heftigkeit der ablehnenden Reaktion vonseiten der Alttestamentler und Theologen spricht überdies weniger dagegen, als vielmehr dafür. Wer die von Assmann lebenslang bearbeiteten und durchdachten Thesen in stringenter, kompakter und versöhnlicher Form kennenlernen will, dem sei dieses Buch nachhaltig empfohlen.

Titelbild

Jan Assmann: Totale Religion. Ursprünge und Formen puritanischer Verschärfung.
Picus Verlag, Wien 2016.
184 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783711720450

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