Die Kerne des Granatapfels

In seinem Roman „Mary“ porträtiert Aris Fioretos ein Folteropfer aus der Zeit der griechischen Obristendiktatur (1967–74)

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie viel kann ein Mensch ertragen? Was macht die Angst mit ihm? Und wo endet die Solidarität? Autoritäre Regimes wie die Obristendiktatur, die von 1967 bis 1974 in Griechenland herrschte, wecken solche Fragen in aller Dringlichkeit. Wer immer sich gegen das Regime stellt, wird eingekerkert, drangsaliert, gefoltert, erpresst. Als im November 1973 eine Studentenrevolte in Athen niedergeschlagen wurde, nahmen die Obristen die zwischenzeitlich stillgelegte Gefängnisinsel Jaros wieder in Betrieb – ein unbewohntes kahles Eiland in der Inselgruppe der Kykladen, das nur die „Ratteninsel“ oder die „Hölle“ genannt wurde. Davon berichtet Aris Foretos‘ Roman Mary.

Die historischen Orte und Ereignisse treten darin jedoch in den Hintergrund. Die Geschichte der Studentin Maria, wie sie Fioretos in beeindruckender, zugleich beklemmender Weise erzählt, weitet sich zur universellen Passionserzählung.

„Ein Land kennt man erst, wenn man seine Gefängnisse erlebt hat“. Ohne viel eigenes Zutun erfährt es die 23-jährige Maria am eigenen Leib. Sie stammt aus einer regimetreuen Familie, der Vater ist Hauptmann, die Mutter betreut die berüchtigten „Schwarzen Archive“. Herzlichkeit findet sie kaum in ihrer Familie. Wegen einer Polioerkrankung hinkt Maria. So hat sie früh gelernt, dass Selbstbeherrschung die einzige Methode ist, „sich ein leidliches Dasein zu zimmern“.

Maria ist eine schweigsame junge Frau. Dimos, den sie in einem Automatenrestaurant kennen lernt, nennt sie „Mary. Die Reservierte“. Dimos ist ein Baum von einem Mann, und Mary liebt es, wenn er sich ganz auf sie legt, sie ihn allein trägt, ohne dass er Boden oder Bett berührt. Dann fühlt sie sich glücklich. Aber selbst Dimos vermag ihren harten Panzer nicht ganz aufzuschließen.

Im November 1973 gerät Mary ins Visier der Sicherheitsdienste. Sie weigert sich, die Identität von Dimos, der aktiv am Aufstand beteiligt ist, oder ihren eigenen Namen und ihre Herkunft preiszugeben. Sie bleibt stumm, wofür sie mit Verhören, Torturen und Haft bezahlt. Dafür lernt sie etwas Neues kennen: Solidarität unter den weiblichen Gefangenen, mit denen sie zuerst die Zelle, später einen zugigen Schlafsaal auf der Ratteninsel teilt. Hartnäckig lehnt sie jedes Angebot ab, um frei zu kommen. Sie plaudert nichts aus und unterschreibt keine Loyalitätserklärung. Mary verschweigt aber noch mehr. Sie spürt, wie seit ein paar Wochen in ihr ein neues Leben keimt und zur Größe einer Hagebutte, dann einer Aprikose, einer Pfirsich, einer Orange heranwächst. Je länger sie auf der Ratteninsel gefangen ist, umso mehr sorgt sie sich um die kleine Sonne in ihrem Bauch. „Trenne Schmerz und Person“, hat ihr ein Kommilitone einst geraten. So beherrscht sie sich: „Innerlich fühle ich mit kristallklarer Ohnmacht, dass ich nicht mehr aufhören würde zu reden“.

Nur die älteste der mit ihr inhaftierten Frauen, Ioulia, bemerkt die feinen Veränderungen. Bei der Arbeitszuteilung schont sie Mary. Diese Solidarität, in die auch die anderen Frauen einstimmen, ist eine prägende Erfahrung, die Mary mit zunehmender Haftdauer verändert. „Die Menschen, aus denen ich nun bestehe, heißen Zoe, Ioulia, Rita, Lule, Fani“. Diese helfen ihr über die täglichen Mühsal hinweg.

Doch „nichts ist provozierender als Unbestechlichkeit.“ Wegen ihrer Stummheit wird Mary von ihren Schergen speziell aufs Korn genommen. Sie erhält eine Strafe aufgebrummt, die sie in eine abgelegene „Kapelle“ verbannt, wo sie den Müll zu entsorgen hat. Die quälende Eintönigkeit in nasskalter Witterung dauert 80 Tage, die sie mit Reiskörnern aufaddiert, während sie mit Linsen das Wachsen des Fötus abzählt: „Eine Zeitrechnung für den Schmerz, eine andere für die Erleichterung.“ Aber Mary hält stand.

In dieser Bucht wird sie später aufschreiben, was ihr alles widerfahren ist, seit sie verhaftet wurde, und woran sie sich in diesem Zustand der Angst und Ungewissheit erinnert hat: an ihre unerträglichen Eltern, an den vermissten Bruder, an die Folter, die euphemistisch „Teestunde mit Gebäck“ genannt wird, und vor allem an Dimos, der vom Militär vielleicht gar nicht gefasst worden ist. Zu ihrem Schutz wird Mary äußerlich hart wie ein Granatapfel – so wie in ihr Dimos einmal beschrieben hat: „Wenn du diesen Apfel teilst, findest du nicht einen Kern, der wichtiger ist als ein anderer. Alles ist klar geordnet, aber der Mittelpunkt ist überall.“

All das hält Mary mit pingeliger, nüchterner Genauigkeit fest. Der elend sich hinziehende Alltag auf der feuchtkalten Ratteninsel ist trist und beschwerlich. Selbst der Krankensaal bietet keinen Schutz, solange darin eine bedrohliche Elektroschockapparatur steht. Dem Zynismus ihrer Schergen hält sie ihre verschwiegene Beherrschtheit entgegen, die nur manchmal entgleist, wenn die Schmerzen unerträglich werden und sie in eine taumelnde Ohnmacht fällt. „Es ist nicht ganz einfach zu beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn man ein Telefonbuch an den Kopf kriegt. Die schwere, stumme Explosion pflanzt sich durch den Körper fort.“ Das Schlimmste ist nur zu erahnen.

Es ist erstaunlich, mit welch feinen Antennen Aris Fioretos die unsäglichen Ereignisse berichtet, die chaotischen Empfindungen seiner Heldin auslotet und ihnen eine Sprache verleiht. Der Autor erspart ihr nichts: weder Tage und Wochen des grausamen Schweigens, noch qualvolle Augenblicke des Schmerzes. Im Zentrum dreht sich alles um die Angst und die Ungewissheit. Doch viel mehr wiegt die Würde, mit der Mary widersteht. Die Erinnerungen an Dimos, seine Haut auf der ihren oder kleine Glücksmomente wie der fast nur erahnte erste Fußtritt in ihrem Bauch halten Mary aufrecht.

Aris Fioretos setzt nicht auf grelle Effekte. Das Schrecklichste bleibt im Kern unaussprechbar. Was sein Buch höchst ungemütlich macht – im besten Sinn –, ist die Konsequenz, mit der er die Erzählspirale unaufhaltsam anzieht und nach unten dreht.

Schliesslich entdeckt auch der Kommandant Marys Schwangerschaft. Jetzt ist sie erst recht erpressbar. In letzter Konsequenz hilft ihr gegen diesen Terror keine Selbstbeherrschung. Der Vater oder das Kind. Mary entscheidet sich. Dafür erhält sie nochmals 40 Tage Schweigehaft.

„Erzähl“, wird ihr von der sterbenskranken Ioulia am Schluss aufgetragen. Mary tut es, und berichtet, „wie ich endete“, mit nüchterner Exaktheit und im historischen Präsens, als wollte sie sich das Geschehene wie eine zweite Haut umlegen. Oder wie ein Leichentuch? Alles bleibt offen. Das Erzählen ist das einzige, was ihr bleibt. Das Erzählen ist das einzige, was bleibt.

Titelbild

Aris Fioretos: Mary. Roman.
Aus dem Schwedischen von Paul Berf.
Carl Hanser Verlag, München 2016.
352 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783446252707

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