Die Geschichte einer Aneignung

Der Roman „Agaat“ der südafrikanischen Autorin Marlene van Niekerk ist eine Familiensaga, aber auch eine Boden-, Sklaven- und Geschlechterkampfgeschichte

Von Jeanne WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jeanne Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erst 10 Jahre nach seiner Veröffentlichung 2004 wurde der atemberaubende, auf Afrikaans geschriebene Roman „Agaat“ ins Deutsche übersetzt. In ihrem zweiten Roman erzählt van Niekerk die Geschichte vom komplexen Verhältnis zwischen einer Dienerin und ihrer Herrin, das sich während der Apartheid abspielt.

1996 steht Milla de Wet, geborene Redelinghuys, kurz vor ihrem Tod. Betreut von ihrer langjährig treuen Dienerin Agaat blickt sie auf die vergangenen Jahre zurück: Sie erinnert sich an das Leben mit ihrem Mann Jak auf dem Hof, an ihren Sohn Jakkie und sein Verschwinden, und an Agaat. Dies geschieht mittels einer komplexen narrativen Struktur, sowohl in Form eines Tagebuchs als auch in Form eines stream of consciousness.

Ende der 1940er Jahre lebt Milla mit Jak im südafrikanischen Overberg, wo sie die von ihrer Mutter geerbte Farm von Grootmoedersdrift leitet. Eines Tages wird sie als weiße, kinderlose Frau vom Schicksal eines kleinen, von seiner Familie missbrauchten und vernachlässigten, farbigen Mädchens berührt. Trotz der Vorwarnungen ihrer Mutter und ihres Mannes nimmt sie es auf und lässt es auf den Namen „Agaat“, „was ‚gut‘ bedeutet“, taufen. Als wäre die weiße Bäuerin von einer Mission berufen, versucht sie mit allen Mitteln, im traumatisierten Kind neuen Lebensmut zu erwecken. Sie erzieht Agaat – in mancher Hinsicht ist diese Erziehung eine Dressur – nach den Gesellschaftsnormen des weißen südafrikanischen Bürgertums und macht aus ihr „die perfekte Haushälterin“ und eine perfekte Bäuerin.

Doch Millas Verhältnis zu Agaat wird durch ein Zögern geprägt: Sie kann sich nicht entscheiden, ob Agaat ihre Tochter, ihre Dienerin oder eine Freundin ist. Allmählich erweist sich die Adoption weniger als Wohltätigkeit als vielmehr als eine Art Aneignung: „Und ich muss den Anfang aufschreiben, den Beginn der Geschichte, bevor ich vergesse, was ich empfand, als ich sie damals fand und wusste, dass sie die Meine würde.“

Und als Milla unverhofft – zwölf Jahre nach der Heirat – einen Jungen auf die Welt bringt, wird Agaat auf ihre eigentliche Situation, nämlich diejenige einer untergeordneten, farbigen Dienerin, zurückverwiesen. Nun kümmert sie sich um den kleinen Jakkie, als wäre sie seine eigene Mutter. Somit wiederholt sich die Geschichte: So wie sich Milla die kleine Agaat aneignete, so eignet sich wiederum Agaat das Kind ihrer Herrin an – der Mutter, die sie verstoßen hat: „Ich bin eine Sklavin, aber Du-bist-mein, flüsterte sie ihm jedes Mal ins Ohr, bevor sie ihn an seine Mutter übergab.“ Das Dienstmädchen, das weder bei seiner weißen ‚Familie‘, noch bei seinen ‚farbigen Mitmenschen‘ einen Platz findet, verkörpert eine hybride und ambivalente Figur.

Mit dem Ende der Apartheid kehren sich die Rollen um: Milla leidet unter einer neurodegenerativen Krankheit (ALS), ist gelähmt und stumm; sie ist nun von ihrer Dienstmagd völlig abhängig. Bald spiegelt Agaats Pflege ihren Groll und Hass, bald aber auch ihr Mitleid und ihre Dankbarkeit ihrer Herrin gegenüber wider. Das Pflegen von Millas krankem Körper durch Agaat erinnert an das Waschen – ein „weiß machen“ – des kleinen Mädchens durch Milla. Auf das damalige Schweigen des Kindes ‚antwortet‘ nun die Unfähigkeit der alten Frau, zu sprechen.

Agaat ist nicht nur eine untergeordnete Figur („subaltern“ im Sinne Spivaks); sie leistet den Mächtigen auch Gegenwehr. Die Dienerin wird nicht nur von ihrer Herrin erzogen und gedrillt, sondern sie wendet das Gelernte an und ahmt ihre Herren so gut nach – dem postkolonialen Begriff der „mimicry“ von Homi Bhabha zufolge – , dass sie allmählich eine gewisse Überhand gewinnt: „Sie [Agaat] manipuliert dich viel geschickter als ich, verzieht keine Miene, wenn ihr etwas gegen den Strich geht. Und sie lernt daraus, Milla, das sag ich dir heute, und vergiss es nicht: Die ganze Zeit lernt sie von uns.“ Die Kultur (Lieder, Erzählungen) der Weißen, mit der sie groß wurde, hat sie so gründlich aufgenommen, dass sie damit subversiv umgehen kann.

Besonders gern wandelt sie Reime, Lieder und Märchen, die auf die populäre Tradition der (weißen) Afrikaander verweisen, ab: „Sie hegt keinen Respekt vor der wahren Bedeutung der Sprichwörter, sondern macht sich ihren eigenen Reim darauf. Das ist ihre Art zu reagieren, wenn sie unsicher ist. Diese alte Papageien-Angewohnheit. Nachäffen mit doppeltem Boden.“ Auch ihre eigene Geschichte erzählt Agaat dem kleinen Jakkie immer wieder in der Form eines subvertierten Märchens, das auf Aschenputtel anspielt. Obwohl der Roman vor allem Millas Perspektive wiedergibt, ist der Text äußerst polyphonisch und es gelingt Agaat, die Macht Millas bzw. der Afrikaander in Frage zu stellen.

Marlene van Niekerk schildert auf eine subtile Art und Weise, jedoch kompromisslos, die Vielschichtigkeit und Komplexität zwischen den Menschen – Mann und Frau, Müttern und Kindern, Herren und Sklaven, Schwarzen und Weißen – unter der Apartheid. Jeder ist sowohl zart als auch brutal, manipulierend als auch manipuliert. Gewalt liegt den Taten jeder Figur zugrunde, ebenso wie der Geschichte Südafrikas. Der Zerfall von Millas krankem Körper geht mit dem Familienscheitern sowie mit tiefen politischen Umwälzungen einher, die im Land stattfinden. Die immer größere Ohnmacht von Millas Körper spielt dabei auf den Machtverlust der weißen Siedler an. Jakkies Flucht über die Grenzen Afrikas hinaus ist ein stummer, aber klarer Beleg für die Unerträglichkeit der Apartheid-Politik Südafrikas.

In Agaat geht es somit auch um die Geschichte Südafrikas und folglich um die Auseinandersetzung mit der Kolonisierung. Der Bauernhof, der den Hintergrund dieses Romans und einen für den afrikaansen Plaas-Roman typischen Ort bildet, an dem Konflikte und Missverstände entstehen, stellt einen wichtigen Teil der Identität der weißen Bauern dar. So lange Milla gesund ist, arbeitet sie sich am Hof ab. Auf ihrem Sterbebett wünscht sie sich nur noch eines: die Karten ihres Grundstücks zu sehen und sich somit ihres Platzes zu vergewissern. Im Vergleich zum traditionellen afrikaansen Plaas-Roman wird aber über das Problem der Bodenaneignung oft kritisch reflektiert: „Das Bodenproblem in den Hügeln ist weit bedenklicher als das sogenannte Hautfarbenproblem in unserem Land.“ Somit und dadurch, dass sich in Groodmoedersdrift eine matriarchalische Erbstruktur entwickelt, wird auch dieser Aspekt im Roman allmählich unterminiert.

So meisterhaft wie Agaat Millas Totenhemd mit zahlreichen Motiven bestickt, zieht auch van Niekerk die Fäden der Geschichte. Die Schriftstellerin gestaltet ihre Geschichte so akribisch wie Agaat und Milla den Plan ihres Gartenparadieses zeichnen. Über die Aneignung hinaus reflektiert der Roman also über das Schreiben und das Erzählen – und erzählt vom vitalen Bedürfnis, seine Identität auszudrücken.

Musik und Erzählen verbinden die Hauptfiguren eng miteinander. Auch bietet die Musik eine gewisse Hoffnung auf eine erlösende Versöhnung: eine Verbindungsmöglichkeit zwischen europäischer (romantischer) und einheimischer, südafrikanischer Tradition. Darum bemüht sich der nach Kanada geflohene Jakkie, der als Musikethnologe tätig ist und sich auch dadurch mit seinem komplexen Doppelerbe (seiner weißen und seiner schwarzen Mutter) beschäftigt. „Ein Lied. Die andere Antwort auf die Fragen. Fantasie für einen eingeschneiten Buren. Für Schilfrohr und Kindertrompete, mit Schnaufen, ohne Worte.“

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Marlene van Niekerk: Agaat.
Aus dem Englischen übersetzt von Stefanie Schäfer.
btb Verlag, München 2016.
815 Seiten, 12,99 EUR.
ISBN-13: 9783442713271

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