Geprägt von tiefer Menschlichkeit

Über Sempés „Freundschaften“

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist eigentlich ein Freund? Und wie entsteht so etwas wie Freundschaft überhaupt? Zufällig, durch intensive Suche oder entscheidet gar das Schicksal, wer mit wem befreundet ist und wer nicht? Schon seit Jahrtausenden zerbrechen sich die Menschen über Fragen wie diese den Kopf und kommen, wenn überhaupt, zu höchst unterschiedlichen Antworten. So stellte etwa Marie von Ebner Eschenbach im Vertrauen auf die Freundschaft fest: „Wirklich gute Freunde sind Menschen, die uns ganz genau kennen, und trotzdem zu uns halten“. John Steinbeck hingegen schien von seinen Freunden eher enttäuscht worden zu sein, denn er kam zu dem Schluss: „Es ist besser, sich mit zuverlässigen Feinden zu umgeben, als mit unzuverlässigen Freunden“.

Doch egal, wie man es dreht und wendet: Nur sehr wenige Menschen können sich ein Leben ohne Freunde vorstellen. Für viele von uns sind sie sogar wichtiger als die Familie, in die wir hineingeboren wurden. Dennoch ist es meist sehr schwierig, das Wesen einer wahren Freundschaft genau zu erfassen. Diesem Problem stellt sich Jean-Jacques Sempé, der französische Großmeister des Zeichenstifts, in seinem neuen Bildband „Freundschaften“. In einem Interview, das den Zeichnungen zugeordnet ist, befragte ihn der Journalist Marc Lecarpentier sensibel und feinfühlig zu seinen eigenen Erfahrungen und Ansichten rund um das Thema Freundschaft. Patrick Süßkind hat es für die  Ausgabe im Diogenes Verlag ins Deutsche übersetzt.

Was es zu einer echten Freundschaft braucht, fasst Sempé, der selbst in seinem Umfeld sehr vorsichtig mit dem Begriff „Freund“ umgeht, darin in einer kurzen Formel zusammen: „Freundschaft erfordert Zurückhaltung, Ehrlichkeit und Treue“. Angesichts einer solch schlichten wie wahren Erkenntnis und der sensiblen, empathischen Zeichnungen, die Sempé sein ganzes Schaffen hindurch auszeichnen, mag man kaum glauben, dass der geniale „Vater“ von ebenso vergnüglichen wie vergnügten Figuren wie dem kleinen Nick selbst keine wirklich glückliche Kindheit verlebte und die ersten Freunde tatsächlich die erfundenen Figuren seiner Zeichnungen waren.

Doch zur Freundschaft braucht es immer zwei, wie auch die poetischen Bilder in dem neuen großformatigen Band zeigen. Mit augenzwinkernder Empathie, einem guten Quantum heiterer Distanz und mitunter leichter Melancholie lässt Sempé die unterschiedlichsten Facetten des Freundseins darin lebendig werden: Da gibt es Freundschaften zu Büchern, zum Meer, zur geliebten Violine, zu einsamen Spazierfahrten in der Nacht. Oder auch zu Tieren: So zeugen etwa das treue Huhn, das seine Besitzerin auf den Markt zum Eierverkauf begleitet, der Bauer in stummer Zwiesprache mit seiner Kuh und die Dame, die dem zerstörerischen Treiben ihrer Katze am Sessel des Gatten wohlwollenden zusieht, von den engen und intensiven Beziehungen, die Mensch und Tier miteinander pflegen können.

Aber auch diverse Varianten zwischenmenschlicher Freundschaften finden in seinem Buch ihren Platz: beispielsweise die kindliche Kameraderie, bei der alle Freunde in einen Sessel gezwängt gemeinsam ein spannendes Buch lesen, das erwachsene Schachspiel zu zweit, das gemeinsame Gläschen mit dem Kollegen im Bistro oder auch nur die liebgewordene Gewohnheit, sich auf Distanz respektvoll zu grüßen. Wer vermag zu sagen, wo genau Freundschaft anfängt und Bekanntschaft oder Nachbarschaft aufhört?

Doch bei aller Freude, die die meisten Begegnungen den Figuren in den Zeichnungen offensichtlich machen, gibt es hier nicht nur eitel Sonnenschein. Mitunter erweist sich eine Freundschaft bei Sempé als nicht ganz ungetrübt von Gefühlen wie Neid, Missgunst, Hochmut oder Arroganz. So muss sich manche Figur verdutzt dreiste Belehrungen eines vermeintlichen Freundes anhören oder sieht sich im Regen der Häme des Schirmhändlers von gegenüber ausgesetzt, während gar eine Dame lieber den Feuertod riskiert, als im gleichen Kleid wie die Nachbarin auf dem Sprungtuch der Feuerwehr zu landen.

Trotz aller kleinen und großen Kümmernisse, die die Freunde ihnen bereiten, scheint aber allen Personen in Sempés von tiefer Menschlichkeit geprägten Bilderreigen eines gemeinsam: Egal, was auch passiert, sie suchen weiter nach emotionalen Banden, die das Leben in alltäglichen wie besonderen Situationen interessanter, tröstlicher und abwechslungsreicher machen.

Titelbild

Jean-Jacques Sempé: Freundschaften.
Übersetzt aus dem Französischen von Patrick Süskind.
Diogenes Verlag, Zürich 2016.
152 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783257021370

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