Liebe und andere Unwahrheiten

Amanda Lee Koes aufwühlender Kurzgeschichtenband „Ministerium für öffentliche Erregung“

Von Sabrina WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabrina Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei Pferdekadaver, je einer an den beiden Ende einer Eisenstange befestigt. In der Mitte auf einen Drehmotor montiert, schleift der monströse Spieß die toten Körper über den Boden. Sie bluten aus, und ganz langsam, über Stunden wird das Fleisch bis auf die Knochen abgerieben – soweit die Installation namens „Karussell“ in einer Kunstausstellung. Woran der Künstler bei seiner Arbeit dachte? An „das unvermeidliche, zynische Scheitern von Beziehungen. Wie blutig es ist, wie ermüdend.“ Die Installation wird sich als unverwüstlich erweisen, der Künstler aber sowie die meisten seiner Vernissage-Besucher werden sie nicht überleben.

Dies ist nur ein kurzer Ausschnitt aus einer von insgesamt 16 Kurzgeschichten des Erzählbandes Ministerium für öffentliche Erregung der 29-jährigen Autorin Amanda Lee Koe. Doch schon hier ahnt der Leser, auf welche Lektüre er sich einlässt. Wenn auch weniger blutig, so wühlen doch auch alle anderen Geschichten dieses beeindruckenden literarischen Debüts gehörig auf. Zum exzentrischen Pferdekadaver-Künstler gesellen sich nicht minder tragische Figuren: Ein erfolgreicher Musiker findet als alter Mann seine Jugendliebe wieder – in einer Klinik an Demenz erkrankt. Beide tauchen noch einmal gemeinsam tief in die Vergangenheit ein. Eine nach einem Unfall verlassene Ehefrau, deren Mann ihr verstümmeltes Gesicht nicht mehr sehen wollte, entdeckt in ihrer Einsamkeit eine neue Freiheit. Ein indonesisches Hausmädchen liebt ihren Hausherrn – bis die Ehefrau dahinter kommt und die junge Frau verstoßen in ihre Heimat zurückkehren muss. Ein Waschsalon, der für die Bewohner eines ganzen Viertels in ihrer traurigen Vereinzelung unverhofft zu einem Ort der Freude und des Miteinanders wird, entpuppt sich als das soziologische Experimentierfeld eines Forschungsprojektes.

Mal mit schonungsloser Wucht, mal melancholisch leise erzählt Amanda Lee Koe von Liebes-, Hass- und Machtbeziehungen, von Alltäglichem und nicht selten vom Rand der Gesellschaft – genauer gesagt: der singapurischen Gesellschaft, des Geburtsortes und – neben New York – der Heimat der Autorin.

Man muss keine ausgewiesene Kennerin des südostasiatischen Kulturraumes sein, um die Bedeutung des Buchtitels zu ermessen: Ministerium für öffentliche Erregung. Die darin versammelten Geschichten müssen linientreuen Sittenhüter eines starren konfuzianischen Regelsystems in Singapur ganz gewaltig erregen, erzählen sie doch davon, was nicht nur die immer noch und wieder greifende staatliche Zensur, sondern auch die hohe Segregation im multiethnischen Inselstaat, in dem vor allem Chinesen, Malaien und Inder leben, mit den Menschen machen. Lee Koes Figuren brechen Tabus, indem sie die falschen Fragen stellen, den falschen Menschen lieben, die falsche Herkunft haben: so wie der mittellose, malaiische Musiker, dessen Liebe zu einer jungen Chinesin an den Konventionen scheitert; oder ein gutaussehender Kioskverkäufer, der sich prostituiert für eine zahlende Büroangestellte, die glaubt, in der gekauften Beziehung ihrer Einsamkeit entfliehen zu können.

Keine der 16 Episoden im Buch umfasst mehr als 20 Seiten, und doch verleiht die Erzählerin jeder einzelnen ihrer Figuren und Geschichten eine Tiefe und ein Facettenreichtum, dass sie einen Roman füllen könnten. Man kann sich ihnen kaum entziehen – und würde doch so gern. Mindestens für einen Moment. Um zu verschnaufen. Und um all diese menschlichen Abgründe, diese sehnsuchtsvollen Träume und schmerzhaften Enttäuschungen sortieren und verarbeiten zu können.

In einem Interview sagte Lee Koe, in der Literatur ihres Heimatlandes dominiere bis heute eine „chinesische heterosexuelle Perspektive alter Männer“, sie dagegen erzähle „Storys oft aus einer weiblichen Perspektive“. Ihre literarischen Figuren bekommen diese partriarchale Vormacht zu spüren, und nicht selten resignieren sie vor ihnen: „Als asiatische Ehefrau lernt man, den Mund zu halten. Der Ehemann hat immer recht – es lohnt nicht zu streiten.“ Doch Lee Koe geht noch einen Schritt weiter, indem sie ihren erzählerischen Blick auf die Traditionen und Riten ihrer Heimat auch über starre Geschlechterbilder und Beziehungskonstellationen erhebt: Da liebt eine junge eine alte Frau und lernt von ihr, die dem Tode geweiht ist, das Leben zu lieben. Auch ein fantastischer Zwittermensch, Kind eines Seemanns und einer Nixe, mit einer Art Vagina und einem Fisch-Schuppen-Penis darf die Liebe finden – ja, das ist mancherorts genügend Stoff mit Provokationen für ein ganzes Ministerium.

International wurde der bereits 2013 auf Englisch und in Singapur veröffentlichte Erzählungsband gefeiert, Lee Koe erhielt unter anderem 2014 den Singapore Literature Prize for English Fiction sowie 2016 den Singapore Book Award. In einer kraftvollen wie umsichtigen Übertragung der Übersetzerin und Schriftstellerin Zoë Beck ist er 2016 endlich auf Deutsch erschienen. Die große internationale Resonanz erschließt sich schnell. Denn auch wenn die Geschichten geografisch und kulturell eindeutig verortet sind, so sind die existenziellen Fragen, die sie aufwerfen, universell. Was alle Geschichten eint, ist die Suche nach dem kleinen, flüchtigen Glück zwischen alltäglichen Widrigkeiten, Trauer und Schmerz. Doch ein Happy End ist hier nicht vorgesehen. So heißt es beispielsweise über das junge indonesische Dienstmädchen lakonisch: „Zurotul war für die Liebe geschaffen, nur war sie geboren, wo es keinen Platz für Liebe gab.“ Und auch die verlassene Ehefrau resigniert: „Eine Beziehung bedeutet Entkräftung. Gefangenschaft. Ich habe keine Energie für diese Möglichkeit. Liebe ist keine große Wahrheit.“ Und dennoch – und das macht Lee Koes Blick auf die Welt und die Energie ihres Erzählens so außergewöhnlich – liegt über allen Geschichten ein starker poetischer Trost.

Titelbild

Amanda Lee Koe: Ministerium für öffentliche Erregung. Storys.
Übersetzt aus dem Englischen von Zoe Beck.
CulturBooks, Hamburg 2016.
221 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783959880183

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