Von Abendmahl bis Zeugenschaft

Das Handbuch „Literatur und Religion“ vermisst ein aktuelles Forschungsfeld

Von David WachterRSS-Newsfeed neuer Artikel von David Wachter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit einigen Jahren steigt das akademische Interesse an den Wechselbeziehungen zwischen Literatur(en) und Religion(en) kontinuierlich; gelegentlich ist sogar von einem „religious turn“ der Geistes- und Kulturwissenschaften die Rede. Vermehrt entstehen Untersuchungen zu religiösen Kontexten poetischer Werke sowie zu Gattungen und (Denk-)Figuren, die im Grenz- und Überschneidungsbereich von „Text- und Religionskulturen“ – so etwa der Titel eines gerade abgeschlossenen Forschungsprojekts am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin – prägend wurden. Für Nichtspezialisten kaum mehr überschaubar wirkt die Vielzahl an Methoden und Perspektiven, die in diesem interdisziplinären und hochdynamischen, mithin wandelbaren und offenen Forschungsfeld zur Diskussion stehen. Orientierung auf unübersichtlichem Terrain verspricht nun das von Daniel Weidner herausgegebene „Handbuch Literatur und Religion“. Der Herausgeber forscht als Kulturwissenschaftler und stellvertretender Direktor am ZfL Berlin; er ist ein anerkannter Experte auf dem Grenzgebiet von Religion und Literatur und besonders für seine Arbeiten über das Nachleben der Religionen im Zeichen neuzeitlich-moderner Säkularisierung (etwa zu Bibel und Literatur um 1800) bekannt. Für die Mitarbeit am vorliegenden Handbuch hat er renommierte LiteraturwissenschaftlerInnen wie Manfred Engel, Andrea Polaschegg oder Wolfgang Braungart, profilierte Theologen und ReligionswissenschaftlerInnen wie Johann E. Hafner, Angelika Neuwirth und Georg Langenhorst sowie einflussreiche Kultur- und Medienwissenschaftler wie Friedrich Balke oder Stefan Willer gewonnen. Somit lässt das Profil der Beiträger eine große Bandbreite an poly- und interdisziplinären Zugängen zum Thema erwarten.

Grundsätzlich vermisst das Handbuch die aktuellen Tendenzen der Forschung mit Bezug auf Diskurse, Konfessionen, Epochen, Gattungen und Figuren, mit denen literarische Texte an religiösen Vorstellungen teilhaben, auf diese reagieren oder auch ein eigenes Wissen von Religionen hervorbringen. Wie Daniel Weidner im Vorwort herausstellt, geht es dem ambitionierten Projekt weder um gelegentliche Kontaktstellen von zwei Forschungsgebieten, die sich distinkt gegeneinander abgrenzen ließen, noch um eine Historiographie religiöser Motive in der Literatur, wie sie etwa in klassischen Motiv- und Stoffgeschichten betrieben wird. „Vielmehr muss die enge Verflochtenheit und Durchdringung von Literatur und Religion deutlich werden: Es gilt, in der Literatur religiöse Problematiken und in der Religion literarische Verfahren sichtbar zu machen“. Um die religiöse Dimension der Literatur und zugleich die literarische Verfasstheit religiöser Texte und Praktiken übersichtlich zu erschließen, ist der Band nach fünf grundsätzlichen Aspekten des Themas strukturiert.

Im ersten Teil („Zugänge) entwickeln Beiträge des Kulturwissenschaftlers Daniel Weidner sowie der Theologen Johann E. Hafner und Georg Langenhorst theoretische Zugänge zum Verhältnis von Literaturwissenschaft und Theologie. Dabei bemühen sie sich um Definitionen des Gegenstandes. Während Hafner zwischen substanzialen, funktionalen und akzidentalen Begriffen von Religion unterscheidet und diese als eine „Possibilisierung von Welt“ deutet, bei der Kontingenz und Transzendenz komplex verwoben werden, erkundet Weidner den Ort der Religion in historischen und aktuellen Literaturtheorien, wobei im Rahmen einer kulturwissenschaftlichen Öffnung der Philologien ein vermehrtes Interesse an hybriden Phänomenen des Religiösen entsteht, die – wie etwa die Figur des Heiligen – in vermeintlich profane Kontexte eingewandert sind. Langenhorst wiederum resümiert das Interesse, das TheologInnen im 20. Jahrhundert wie Romano Guardini, Hans Urs von Balthasar oder Dorothee Sölle der Literatur entgegengebracht haben, und stellt die mögliche Relevanz literarische Texte für die praktische Theologie heraus.

Einen weiteren theoretischen Schwerpunkt entwickeln die Beiträge des zweiten Teils („Diskurse“). Hier geht es um die Frage, welche Bedeutung aktuelle kulturwissenschaftliche Diskurse über Erinnerung, Medien, Bild, Theater, Politik, Geschlecht und Postkolonialismus für die methodologische Profilierung des Forschungsfeldes Literatur und Religion einnehmen. Auch diese Beiträge lassen eine Wiederkehr der Religion in kulturwissenschaftlichen Perspektiven erkennen. Wie die Beiträge des ersten Teils sind sie prägnant und informativ geschrieben, wobei mitunter – etwa in den Aufsätzen über Erinnerung, Medien oder Bild – die Literatur gegenüber der Religion ein wenig zu kurz kommt.

Diese systematische Kartierung des Forschungsfeldes wird im dritten Teil des Handbuchs („Konfessionen“) durch spezifische Untersuchungen über die je besondere Stellung der Literatur in den großen Weltreligionen ergänzt. In knapper Form und mit vorwiegender Aufmerksamkeit auf historische Transformationen kommt der Ort der Literatur in verschiedenen Konfessionen in den Blick. So öffnet sich der Horizont auf interkonfessionelle und interkulturelle Aspekte des Themas. Mit Ausnahme des Buddhismus liegt der Schwerpunkt allerdings deutlich auf den monotheistischen Religionen; ein ethnologisch-religionswissenschaftlicher Beitrag zu kleineren (besonders auch außereuropäischen) Religionen fehlt und würde dieses Spektrum sinnvoll ergänzen.

Zur historischen Konkretisierung dieser systematischen Perspektiven wendet sich der vierte Teil („Epochen“) der Literaturgeschichte und mit ihr den Veränderungen zu, welche die religiösen Dimensionen literarischer Texte im Verlauf der Epochen zwischen Antike und Mittelalter, Barock und Aufklärung, Jahrhundertwende und Postmoderne durchlaufen haben. Zugleich wird in den Beiträgen zu Barock und Aufklärung exemplarisch erkennbar, dass auch die einzelnen Epochen häufig von heterogenen Tendenzen und synkretistischen Überblendungen unterschiedlicher Konfessionen geprägt waren. Dabei besteht kein Zweifel, dass in allen literaturgeschichtlichen Epochen intensive Austauschprozesse zwischen Religion und Literatur stattfanden, wobei der Blick auf diese Interaktionen häufig auch die wissenschaftliche Erforschung dieser Epochen geprägt hat. In beeindruckender Prägnanz und auf knappem Raum gelingt es den AutorInnen zu zeigen, dass das Verhältnis von Religion und Literatur im historischen Verlauf höchst veränderlich war. So liest man auch diesen Teil mit Interesse und Erkenntnisgewinn. Allerdings bleibt der literaturhistoriographische Parcours stark auf die deutschsprachige Literatur beschränkt, zumal die Beiträge mit einer einzigen Ausnahme alle von GermanistInnen verfasst worden sind. Komparatistische Bezüge zum europäischen Kontext (der englischen, französischen und spanischen Literatur) fehlen weitgehend, von außereuropäischen Literaturen ganz zu schweigen. In dieser nicht weiter begründeten Einschränkung besteht zweifellos ein Mangel dieses Abrisses; er führt dazu, dass wichtige Autoren etwa der Romania (Dante, Mallarmé, Baudelaire) nur marginal erwähnt werden.

Diese Schwäche lässt sich mit Einschränkungen auch am fünften Teil des Handbuchs („Gattungen“) beobachten. Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen hier einerseits die literarischen Merkmale religiöser Texte wie der Bibel oder des Korans, des Gebets oder des geistlichen Spiels, andererseits die religiösen Dimensionen literarischer Gattungen wie der Tragödie oder des Romans. Zugleich wird klar erkennbar, dass sich Religion und Literatur in Gattungen wie dem Gleichnis, der Hymne oder der Autobiografie geradezu konstitutiv überlagern. Dieser Teil überzeugt durchweg durch klar geschriebene, prägnante und theoretisch avancierte Beiträge, die zugleich den Bezug zu konkreten literarischen Texten suchen, mithin allgemeine Perspektiven an spezifischen Gegenständen fruchtbar machen. Exemplarisch hervorheben lassen sich die brillanten Aufsätze von Angelika Neuwirth („Koran“) oder Claude Haas („Tragödie, Trauerspiel“). Gleichwohl hätte auch diesem Teil ein  noch beherzterer Blick über den Tellerrand der deutschsprachigen Literatur gut getan.

Im Fokus des letzten Teils („Figuren“) stehen (Denk-)Figuren wie etwa Abendmahl, Blasphemie, Kunstreligion, Paradies oder Zeugenschaft, welche die Interaktion von Religion und Literatur exemplarisch konfigurieren und an denen sich poetologische und epistemologische Fragen und Probleme von größter Aktualität ausmachen lassen. Auch den so wohlinformierten wie zugleich originellen Aufsätzen dieses Teils gelingen elegante Übergänge von theoretischen Perspektiven zu interpretatorischen Praktiken, zumal hier verstärkt auch komparatistische Dimensionen vor allem der neuzeitlich-modernen Literatur bis in die Gegenwart hinein beachtet werden.

Die Vielfalt der Perspektiven lässt auf beeindruckende Weise erkennen, wie intensiv und nachhaltig sich Literatur und Religion seit jeher miteinander verschränkt haben und wie vielversprechend das interdisziplinäre Forschungsfeld Literatur und Religion weiterhin bleibt. Allerdings wäre es sinnvoll gewesen, die Definition dessen, was sich poetologisch sinnvoll als „Figur“ bezeichnen lässt, und die Auswahl dieser Figuren noch klarer zu begründen. Warum bekommt der „Kirchenraum“ einen eigenen Artikel, „das Heilige“ aber nicht? Inwiefern lassen sich „Schrift“ oder „Tradition“ sinnvoll als „Figur“ bezeichnen? Und warum bleiben die religiösen Figuren im eigentlichen Sinne vollkommen außen vor? Erstaunlicherweise sucht man Engel oder Teufel, Geister oder Dämonen, sogar Gott oder Götter in dieser Serie von ansonsten höchst informativen Schlaglichtern vergeblich. Mag sein, dass diese Abstinenz mit der ausdrücklichen Reserve gegen Motiv- und Stoffgeschichte zu tun hat, die sich aus der kulturwissenschaftlichen Anlage des Handbuchs ergibt. Gleichwohl treten Figuren des Religiösen wie Teufel, Dämonen oder Engel in der Literatur- und Kulturgeschichte nachhaltig als Brennpunkte poetologischer, ästhetischer und epistemologischer Probleme in Erscheinung und hätte daher diesen abschließenden Teil des Handbuchs bereichert.

Diese begrenzten Einwände ändern jedoch nichts an der eindrucksvollen Gesamtleistung des Handbuchs. Die zahlreichen Beiträge, alle von ExpertInnen auf ihrem Gebiet, sind sorgfältig verfasst und öffnen neue Perspektiven auf das Thema. So fügen sie sich zu einem Kompendium über die nachhaltigen Austauschprozesse von Literatur und Religion. Wer sich mit diesem Feld beschäftigen möchte, kommt um dieses Buch nicht herum und wird es mit großem Gewinn lesen.

Titelbild

Daniel Weidner (Hg.): Handbuch Literatur und Religion.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2016.
484 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783476024466

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