Die grausame Logik der Gewalt

In seinem Buch „Im Schatten von Auschwitz“ beschreibt und analysiert Daniel Brewing die deutschen Massaker an polnischen Zivilisten zwischen 1939 und 1945

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Ende seines Buches über die Massaker der deutschen Besatzer an der polnischen Zivilbevölkerung in den Jahren 1939 bis 1945 lässt der Autor den polnischen Dichter und Literaturnobelpreisträger Czeslaw Milosz zu Wort kommen. Der beschrieb in einem 1959 auf deutsch veröffentlichten Text (Der Westen vom Osten aus gesehen) eine das Bewusstsein der Polen prägende Erfahrung, „daß auf der Straße, die er so gut kennt, auf der Katzen schlafen und Kinder spielen, plötzlich ein Reiter mit einem Lasso auftauchen könnte, der die Passanten einfängt und abschleppt, um sie sofort zu töten oder an Haken aufzuhängen.“ Nichts anderes wollte der Dichter zum Ausdruck bringen, als dass die Polen eine Welt kennengelernt hatten, in der die Maßstäbe der Zivilisation keine Gültigkeit mehr besaßen. Sie hatten die Reiter mit dem Lasso kennengelernt: Sie trugen deutsche Uniformen. 2078 Tage, und damit so lang wie in keinem anderen Land, dauerte die deutsche Besatzung in Polen. 2078 Tage erlebten die Menschen eine nie zuvor gekannte Allgegenwart von Gewalt, die die Maßstäbe einer normalen Welt außer Kraft setzte.

In der Wahrnehmung des deutschen Gewalthandelns in Polen dominiert der Mord an den europäischen Juden. Auschwitz steht stellvertretend für dieses Verbrechen. Doch der nationalsozialistische Gewaltwahn in Polen erfasste in Polen nicht nur die jüdische Bevölkerung sondern alle Polen. Es ist das Verdienst des Historikers Daniel Brewing mit seinem Buch Im Schatten von Auschwitz erstmals systematisch die deutschen Massaker an der polnischen Zivilbevölkerung zwischen 1939 und 1945 zu beschreiben und als Teil der deutschen Gewaltherrschaft in Polen zu analysieren.

Bewusst benutzt der Autor den Begriff „Massaker“, mit dem er das massenhafte Töten polnischer Zivilisten konzeptionell zu fassen vermag und zugleich von anderen Formen der deutschen Gewaltherrschaft unterscheiden kann. Vor allem gelingt es ihm, die deutschen Massaker einerseits als entgrenzte Formen des Gewalthandelns zu beschreiben, sie aber zugleich auch als Ergebnis einer historischen Konstellation zu erklären, die einen „Bedingungszusammenhang“ entstehen ließ, in dem das massenhafte Gewalthandeln für die deutschen Besatzer „eine konstruktive Form sozialen Handelns“ werden konnte.

Diese grausame ‚Logik der Gewalt‘ findet ihre Begründung in typischen Klischees und Vorurteilen über ‚die Polen‘, die in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert entstanden. Polen, ein „Saisonstaat“, wie ein deutscher Reichskanzler noch 1922 abschätzig formulierte, war in dieser Sichtweise ein rückständiges Land, das dringend der Zivilisation – natürlich vermittelt durch die Deutschen bedurfte. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Klischee durch Feindbildkonstruktionen ergänzt. Dazu trugen vor allem, wie der Autor ausführt, die Freikorpskämpfe in den ehemals deutschen Grenzregionen bei. Die Freikorps wähnten sich im Verteidigungskampf gegen einen grausam und hinterhältig agierenden Feind, dem nur mit äußerster Gewalt beizukommen sei. Die polnischen Freiwilligenverbände waren aus ihrer Sicht heimtückisch agierende „Mörderbanden“ und ihre „Helfershelfer“ versteckten sich unter der polnischen Zivilbevölkerung.

So verfestigte sich die Legende von der durch Übergriffe der „polnischen Untermenschen“ allzeit bedrohten deutschen Bevölkerung. Sie dienten auch zur Rechtfertigung der Gewalttaten des „Volksdeutschen Selbstschutzes“, die nach dem Einmarsch der Deutschen in Polen massiv einsetzten. Hier erkennt der Autor ein typisches „Kennzeichen nationalsozialistischer Herrschaft in Polen“: die kalkulierte Entgrenzung des (staatlichen) Gewaltmonopols. Sie bedeutete eine „Ermächtigung zur Gewalt“. Was im Falle des Volksdeutschen Selbstschutzes als eine Form „institutionalisierter Ermächtigung“ gesehen werden kann, entspricht den individuellen Ermächtigungen für die Kommandeure der Einheiten, die sich im Kampf gegen die „polnischen Banden“ ‚bewähren‘ mussten. In beiden Fällen der Ermächtigung war die Folge eine Ausdehnung des Gewalthandelns, wobei zusätzliche Motive wie Rache, Mordlust, Wut, Grausamkeit und andere zur konkreten Ausprägung der Gewalt beitrugen.

Die Ausweitung der Gewalt bestimmte die „Sicherheitspolitik“ der deutschen Besatzer. Die „Partisanenbekämpfung“ trug unmittelbar dazu bei, wie der Autor am Beispiel der Versuche, den Kommandeur der ersten organisierten polnischen Partisanengruppe Henryk „Hubal“ Dobrzański zu fassen, beschreibt. Die vergeblichen und zum Teil auch dilettantischen Aktionen der SS- und Polizeieinheiten führten zu Verunsicherung auf Seiten der Deutschen, die zugleich auch eine unbestimmte Angst vor den „Banden“ steigerte. In jedem Dorf vermuteten die Häscher „Helfershelfer“. Bewusst überließ man es den Kommandeuren, in dieser Situation zu entscheiden, was zu tun sei. Die Folge waren hysterische Razzien, gezielte Erschießungen der männlichen Bevölkerung, Ausschreitungen aller Art gegen die restliche Zivilbevölkerung und das Niederbrennen der Häuser.

Das Debakel der „Bandenbekämpfung“ verschärfte sich mit Fortgang des Krieges. Aus der Perspektive des deutschen Besatzungsapparates“, so schreibt der Autor, „verzahnte“ es sich „mit einer Intensivierung des bewaffneten Widerstands infolge der ‚Aktion Zamość‘“. Die gewaltsame Umsiedlungsaktion im Bezirk Lublin war 1942/43 gescheitert und hatte zudem den Widerstand der polnischen Bevölkerung erheblich verstärkt. Die Deutschen intensivierten daraufhin ihren „Bandenkrieg“. Mit den „Kategorien der Härte und Rücksichtslosigkeit“, versuchten sie, so resümiert der Autor am Beispiel der „Aktion Sturmwind“ gegen polnische Widerstandsgruppen, „eine in jeder Hinsicht krisenhafte Gesamtkonstellation maximalistisch zu überwinden: durch den Einsatz von noch mehr Truppen und die Anwendung von noch mehr Gewalt gegen unterschiedslos jeden Einwohner.“ Im „Bandenkampfgebiet“ waren die Zivilisten von nun an „vogelfrei“. Den schrecklichen Höhepunkt der Gewaltexzesse stellte die blutige Niederschlagung des Warschauer Aufstandes 1944 dar.

Bemerkenswert ist, dass einer der Hauptverantwortlichen für die Massaker in Warschau, Heinz Rheinefarth, von 1951 bis 1964 Bürgermeister von Westerland (Sylt) und zeitweiliges Mitglied des schleswig-holsteinischen Landtags werden konnte. Das ist ein Indiz dafür, dass die Morde an der polnischen Zivilbevölkerung weitgehend ‚vergessen‘ wurden. Zudem blieben sie, wie Brewing in einem Schlusskapitel ausführt, ungesühnt. Dabei wurden in der missglückten juristischen Aufarbeitung auch immer wieder die alten Wahrnehmungsmuster relevant. Gerichte verharmlosten die Gewaltexzesse als bloße „Repressalmaßnahmen im Rahmen einer militärischen Operation“ und machten Täter zu Opfern polnischer Taten, um sie so zu entlasten. Auf verhängnisvolle Weise bestätigten solche Urteile die Langzeitwirkung der Legitimationsstrategien der Täter.

Daniel Brewings Buch ist ein gut recherchierter und klug gegliederter Beitrag zum Verständnis der deutschen Gewalttaten in Polen während der Besatzungszeit. Sein Erkenntniswert geht jedoch darüber hinaus, denn die schreckliche Logik der Gewalt funktioniert bis heute.

Titelbild

Daniel Brewing: Im Schatten von Auschwitz. Deutsche Massaker an polnischen Zivilisten 1939-1945.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2016.
363 Seiten, 89,95 EUR.
ISBN-13: 9783534267880

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