Als Kunst und Religion autonom wurden

Über Wolfgang Braungarts Opus magnum

Von Lukas PallitschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lukas Pallitsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Religion in der Literatur wieder wichtig geworden ist, bedarf eigentlich keines großen Nachweises. Einen solchen hat allerdings Wolfgang Braungart mit einem Opus magnum Literatur und Religion in der Moderne geliefert und setzt dabei an jenem Punkt an, an dem Kunst und Religion autonom wurden: in der Moderne. Im Zeitalter der Aufklärung wird Kunst Selbstzweck und die Religion human. In vier Teilen und knapp zwanzig literarischen Streifzügen von der Aufklärung bis zur Gegenwart schärft Braungart ein Bewusstsein dafür, dass autonome Kunst für vieles in Anspruch genommen werden kann. Ihre letzte Würde verortet der Verfasser aber sehr konsequent in der Autonomie des Menschen und seiner „Funktionslosigkeit“. Damit ist der Einsatzpunkt dieser Studie benannt: der Verfasser untersucht, wie sich Kunst und Religion seit der Schlüsselzeit um 1800 zueinander verhalten, setzt aber nicht bei den Fragen nach Kunst- und Offenbarungsreligion und deren wichtigen Programmen (Friedrich Schleiermacher, Georg Wilhelm Friedrich Hegel) ein und fragt auch nicht nach dem Stellenwert der Bibel als heiligem oder poetischem Text. Vielmehr unternimmt Braungart in seiner Studie den Versuch, dieses Verhältnis über den fachwissenschaftlichen Diskurs hinaus mit interdisziplinären Fragen zu konfrontieren. Spätestens seit seiner Habilitationsschrift über Ritual und Literatur hat sich der Autor um das Spannungsfeld von Literatur und Religion wie nur wenige, darunter etwa Daniel Weidner und Georg Langenhorst als zwei Vertreter der jeweiligen Fachdisziplin, verdient gemacht. Trotz des monumentalen Umfangs ist das Buch nicht mit Detailfragen und Forschungsliteratur überfrachtet, im Gegenteil: Es besticht durch einen klaren Aufbau und sorgt mit zusammenfassenden Thesen an den vielen Kapitelenden für Leserfreundlichkeit.

Literatur und Religion in der Moderne umfasst drei große Hauptteile mit einer umfassenden Einführung und einem als vierten Teil konzipierten Epilog. Der stringente Aufbau kommt verschiedenen Lesergruppen zugute: Für den Theologen liefert das Buch durch die Orientierung an den literarischen Texten und den weitgehenden Verzicht auf Fachterminologie einen umfassenden Überblick vom 18. bis ins 21. Jahrhundert. Dem Literaturwissenschaftler kann es als Vertiefung und durch die interdisziplinären Fragen als Relektüre kanonischer Texte dienen. Da es hier nicht möglich ist, die Analysen der Studie im Einzelnen zu besprechen – obwohl gerade dort ihre Stärken liegen –, sollen im Folgenden nach einem Überblick mithilfe punktueller Vertiefungen die Stärken und Grenzen gezeigt werden.

Religion und Kunst sind auch ästhetische Ausdrucksysteme. Gerade weil sich Religionen in Gebet, Musik, Kult, Ritual und stabilen Narrationen ausdrücken, sind sie immer auch ästhetisch sinnenfältige Systeme und kulturanthropologische Konstanten. Wenn die Grenzen dieser Monografie, die zugleich ihre Vorstöße sind, darin liegen, die Konkurrenz gegenüber der Konvergenz im Verhältnis von Kunst und Religion zu vernachlässigen, so gehört zu den großen Verdiensten derselben, das von der Theologin und Germanistin Dorothe Sölle vernachlässigte Konzept der Realisation (1973) als Wirklich-Werden beziehungsweise der Verwirklichung „des Heiligen in der säkularen Welt, ihrer Sprache, ihrer Kunst“ wiederentdeckt und fruchtbar gemacht zu haben. Sölle spricht in ihrer 1973 erschienenen germanistischen Habilitationsschrift von der „Realisierung des Geistes“ und erkennt das theologische Potenzial in der Anerkennung der Kunst.

Weil das „unbedingt Angehende“ („the ultimate concern“) auch im Kunstwerk verborgen ist, steht die Theologie vor der Aufgabe, dieses zu entdecken. Dass die Theologie in der Sprache der Kunst eine nicht explizit religiöse Deutung religiöser Erfahrungen findet, ist ein zentraler Gedanke Sölles, den diese Untersuchungen leiten. Sie machen sich geradewegs zur Aufgabe, das religiös Verborgene im Kunstwerk zu entdecken.

Nach einer systematischen Einführung, die durch klare Gedankengänge besticht, versucht Braungart in drei Teilen das Einfallstor der Literatur für das Feld der Religion zu öffnen. In der historischen Perspektive kann die Kunstreligion ebenso wie die momentan so zentralen Begriffe „Weltliteratur“ und „Leben“ sehr präzise auf die Sattelzeit des 18. Jahrhunderts zurückgeführt werden. Erstmals wird umfassend durchdacht, was Religion und Menschenwerk ist, schließlich, dass Religion ein Konzept des Menschen ist: „Religion muß gemacht und hervorgebracht werden.“ (Novalis, 1799) Drei Fragen, die jeweils einen „historischen“ und einen „systematischen“ Aspekt stärker in den Blick nehmen, leiten die Untersuchungen dieser Studien: erstens die subjektive, zweitens die sozial-politische sowie drittens die ästhetisch-poetologische Frage. Im ersten Teil reflektiert Braungart die Frage nach der Sakralität des Menschen und der autonomen Kunst bei Gotthold Ephraim Lessing, Friedrich Schiller, Bertolt Brecht und Friedrich Dürrenmatt. Anhand von Lessings Ringparabel wird dies poetisch entfaltet. Zentral ist nicht der Gedanke, dass Religion möglichst tolerant sein soll, sondern die grundlegende Relativierung aller Fundamentalismen, weil sie unmenschlich sind und dem Konzeptcharakter widerstreben, den Menschen zu verantworten haben. Der Verfasser verdeutlicht zu Beginn des Lessing-Kapitels, dass Kunstwerke „ins Leben geholt und gedeutet“ – mit Sölle „realisiert“ – werden müssen. Sofern der Mensch selbst die Wahrheit der Religion ist, ist damit nichts über die Frage der Transzendenz gesagt, jedoch viel über Fundamentalismen aller Art. Die Lessing-Lektüre verdeutlicht, dass Religion nicht selbstgemacht ist, sondern gemacht werden muss. Darin liegt gewiss ein Fluchtpunkt für gegenwärtige politische Fragen.

Die zweite Lessing-Lektüre wendet sich Minna von Barnhelm zu. Der Name Minna ist programmatisch – die Hauptfigur verkörpert die Liebe und demontiert den Major hinsichtlich seines physischen (Krüppel), ökonomischen (kein Geld) und sozialen (Ehre) Kapitals. In Minna wird das Konzept des Subjekts in seiner „Umsonstheit“ am eindringlichsten realisiert, weil für sie alle drei Kapitalien uninteressant sind. Indem Minna den Major vollkommen abfragt, ihn seiner Kapitalien entledigt, bleibt der nackte Mensch, den sie liebt. Dass an dieser Stelle der Begriff der Würde aufgegriffen wird, verwundert wenig – bemerkenswert ist freilich schon, dass der Verfasser die Würde nicht mit dem Projekt der Europäischen Aufklärung verbindet, sondern mit der biblischen Ebenbildlichkeit.

Bedeutsam ist die Brecht-Lektüre, nicht nur weil Brechts Die heilige Johanna der Schlachthöfe auf der Folie der Schillerʼschen Johanna als Tragödie in einem anderen Sinne gedeutet wird, die das Opfer der Heldin verweigert und dadurch die Kohärenz des Buches stärkt. Dieses Kapitel ist ein schönes Beispiel für Interdisziplinarität, weil die Metaphorik des Schlachtens vor dem religiösen Hintergrund des Opferritus (René Girard) interpretiert wird und andererseits zeigt, wie ein biblischer Text zum Ferment der Gegenwartskritik wird. Dieses Kapitel nimmt mit der Säkularisierung einen weiteren großen Begriff auf und versteht darunter keine Trennungsgeschichte von Literatur und Kunst. Im Sinne Sölles interpretiert der Braungart das Mitleid im Drama als „wirkliches Weltlich-Werden des christlichen Grundgedankens“. So verstanden wäre Literatur als Prozess der Realisation zu beschreiben, weil sich in ihm die Spannung von Mythos und Logos realisiert.

Im zweiten Teil wird die relativierte Sakralisierung der Kunst in den Blick genommen. Braungart zeigt an Rainer Maria Rilkes poetischen Suchbewegungen, wie religiöse in poetische Fragen münden, das Suchen ins Scheitern führt und gerade darin aufgeht. Im Kontrastkapitel zu Rilke führt der Verfasser an Stefan George beispielhaft vor, wie Poesie ritualisiert werden kann. George instituierte den Maximin-Kult und festigte diesen sprachlich durch eine Abendmahl- und Bundesterminologie. Poesie wird sakramentalisiert, weil sie von einem „Kreis“ nicht nur rezitiert, sondern geradezu liturgisch psalmodiert wird. Indem das Ästhetische und das Soziale eine rituelle Einheit ausbilden, wird eine eigene (Gegen-)Öffentlichkeit konstruiert und werden romantische Diskurse der Kunstreligion fortgesetzt. Während dieses Verständnis bei Goerge sakramental geladen ist, konstatiert Braungart, dass diese bei Georg Trakl, Richard Strauß und Ruth Schaumann ebenfalls spannungsreich angelegte Beziehung von Kunst und Religion anders gelagert sei.

Der dritte Teil des Buches befasst sich mit den Überlastungen und Selbstkorrekturen des Projekts Literatur, dem sich die Religion in der Moderne zuwendet. Wo Kunst herausgefordert wird, sieht sie sich mitunter überfordert. Hier argumentiert Braungart differenziert und unterscheidet drei poetische Verfahren, mit denen sich Literatur auf das religiöse Pathos der Kunstautonomie konfrontativ bezogen sieht: Neben der bekannten romantischen Ironie (Friedrich Schlegel) sind dies vernünftige Beharrlichkeit (Lessing) und ästhetisch-soziale Geselligkeit (Eduard Mörike). Sofern Vereinseitigungen entstehen, läuft Literatur Gefahr, in Milieuästhetik zu gleiten.

Im Gang dieser Studie klingen immer wieder Substantive der Negativität oder Neologismen wie „Funktionslosigkeit“, „Umsonstheit“, „Unverdientheit“ oder „Unnötigkeit“ in einem ganz pragmatischen Sinn an, die mit biblischen Narrativen begründet werden. Hier liegen dann auch Grenzen der Lektüren, die sich zwar biblisch-literarischen Konstellationen der „jüdisch-christlichen Tradition“ verpflichtet wissen, aber eigentlich zwischen Katholizismus und Protestantismus oszillieren. Selbst die Kafka-Lektüre wird als einzig jüdischer Beitrag mit Bezug auf Johannes 19 einer soteriologischen Lesart unterzogen. Dies ist freilich dem Gesamtprojekt geschuldet, doch lässt sich darin ein kleiner blinder Fleck erkennen. Für den Exegeten ist sicherlich anderes fraglich: Ob etwa in Psalm 22 ein „Du“ angesprochen wird, das „sich auch selbst zum Du, zum Anderen“ wird, gebietet angesichts der konsequent personalen Adressierung der Psalmen auf den ganz Anderen zur Vorsicht. In diesen Grenzen liegt aber auch die Stärke, so vertraute und doch so fremde biblische Texte als eine bestimmte Form von Literatur in anderen Zusammenhängen nochmals (neu) zu lesen.

Es ist schwer möglich, dem Reichtum der Studie und den gedanklichen Wendungen derselben im begrenzten Raum einer Rezension weiter nachzugehen. Durch die vielfältigen Konzepte wie Ritualtheorie oder Performativität wird nicht nur die Anschlussfähigkeit an andere Disziplinen wie Anthropologie, Kulturwissenschaft, Kunstwissenschaft, Theologie und Religionswissenschaft deutlich. Vor allem in den literaturanthropologischen Lektüren verdeutlicht der Verfasser seine Meisterschaft: Literatur ist nicht funktionslos, sie ist nicht selbstreferenziell, sondern konstituiert auf ihre ästhetische Weise kulturelle und religiöse Bedeutungsordnungen mit. Braungart leistet zudem einen wichtigen Beitrag dadurch, die Kunstreligion nicht als Ersatz oder Religionsverfall zu beschreiben, sondern als Realisation. Gegen lineare und einseitige Säkularisierungsmodelle schreibt der Verfasser ihr vielmehr eine Erweiterung ästhetisch-religiöser Artikulationsmöglichkeiten zu. Weil die Lektüren den Blick konsequent auf das Subjekt richten, ist autonome Kunst ein symbolischer Diskurs der Würde des Menschen selbst. Der Mensch zählt jenseits aller Nützlichkeit und Brauchbarkeit. Gerade wegen seiner starken Thesen und weil Braungart das oft so Naheliegende und doch Vergessene, eben das Dritte wie den Heiligen Geist, stark macht, ist das Buch seitens der Literatur- und  der Religionswissenschaft zu begrüßen. Es bleibt zu hoffen, dass diese Untersuchungen das Gespräch beider Disziplinen weiter voranträgt.

Titelbild

Wolfgang Braungart: Literatur und Religion in der Moderne. Studien.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015.
555 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783770559497

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