Individueller Ausnahmezustand und gesellschaftliche Verantwortung

Hans-Albert Walters Essay „Gib dem Herrn die Hand, er ist ein Flüchtling“

Von Carsten RastRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carsten Rast

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die aktuellen Migrationsbewegungen stellen die Weltgemeinschaft vor neue Herausforderungen. Auch Deutschland ist mit einem merklichen Anstieg der Asylverfahren konfrontiert. Der Integrationswille im Land wird erneut auf die Probe gestellt. Dabei zeigt sich ein Grundkonflikt an der Schnittstelle zwischen demokratisch etablierten Rechtsnormen und kultureller Aufnahmebereitschaft. Nicht erst durch die aktuellen Flüchtlingszahlen seit 2015 mehren sich kritische Stimmen, die den Staat in der Pflicht sehen, mit regulierenden Maßnahmen auch rechtlich gegenzusteuern. Indem er die deutsche Emigration der 1930er-Jahre bis 1945 in Gestalt von Schriftstellern und Politikern zu Wort kommen lässt, erinnert ein wiederaufgelegter Essay Hans-Albert Walters an die kulturelle Verantwortung Deutschlands gegenüber rechtlichen und gesellschaftlichen Schutzmechanismen.

In kenntnisreicher Leichtigkeit kreist Walter in Gib dem Herrn die Hand, er ist ein Flüchtling Probleme der deutschen Emigration (1933–1945) aus der Sicht von Betroffenen ein. Er beschreibt die soziale Deklassierung von Fliehenden, die Klischees, mit denen sie konfrontiert werden, und die bürokratischen Hürden des Ankommens. Zugleich skizziert er die Heimatrekonstruktionen in der Fremde, das problematische Bemühen, etwas vom alten Leben ins Exil mitzunehmen. Von einem wirklichen Ankommen ist hier selten die Rede. Eine instinktive Verunsicherung wie beispielsweise bei Ludwig Marcuse, der stets seinen Pass bei sich getragen habe, macht dies deutlich. Ähnliches bringt Hannah Arendts Essay Wir Flüchtlinge zur Sprache: „Pässe oder Geburtsurkunden, und manchmal sogar Einkommenssteuererklärungen, sind keine Unterlagen mehr, sondern zu einer Angelegenheit der sozialen Unterscheidung geworden.“

Walter erkennt in der deutschen Emigration eine „Schicksalsgemeinschaft“, die sowohl Autoren wie Thomas Mann und Johannes R. Becher als auch Politiker wie Willy Brandt und Bruno Kreisky umfasst. Ihr vollständiges Ankommen war ebenso schwierig wie die Möglichkeit einer einfachen Heimkehr. Als Migranten blieben sie verdächtig, dem Staat, der Menschen zur Migration zwang, den asylgewährenden und sogar den eigenen Heimatländern bei der Rückkehr nach dem Krieg.

In biografischen Sequenzen entwirft der Essay ein Panorama unterschiedlichster Fluchtschicksale, welches das tatsächliche Erdbeben der Migrationserfahrung, sowohl für den Einzelnen als auch für Gesellschaften, begreiflich macht. Zugleich zeigt sich: Wie aufnehmende Gesellschaften mit einer steigenden Migration umgehen, sagt mehr über sie selbst als über die Ankommenden. Ihr Verhalten ist ein Indikator für „gesellschaftliche Druckverhältnisse“. In diesem Sinne liest sich die Widmung des Bändchens als Beschwörung demokratisch-rechtlicher Fundamente; Walter lobt den Parlamentarischen Rat für dessen Regelungen zum Asylrecht nach dem Zweiten Weltkrieg, die ins Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland eingingen. Die Darstellung einer wechselseitigen Abhängigkeit gesetzlicher und gesellschaftlicher Normen bringt die Verantwortung Deutschlands durch diese Beschlüsse von 1949 erneut zur Sprache.

Walters Essay hat an Aktualität und Wichtigkeit gegenüber der Erstauflage noch gewonnen. Angriffe gegen Migranten, die wie in Bautzen seit 2017 wieder häufiger dokumentiert werden, sind kein neues Phänomen. Die Reaktionen der Politik auf steigende Spannungen in den Jahren 1992 und 2015 ähneln sich. Als am 24. August 1992 in Rostock-Lichtenhagen Asylbewerberheime und ca. 100 vietnamesische Gastarbeiter angegriffen werden, reagiert die Politik mit einem „Asylkompromiss“. Man einigt sich auf Gesetzeserweiterungen zu sicheren Dritt- und Herkunftsstaaten, auf das Asylbewerberleistungsgesetz sowie auf juristische Regelungserweiterungen zum Status von Kriegsflüchtlingen. Es folgen Dublin I und II zur Regelung von Asylprüfungsverfahren.

Infolge eines deutlichen Anstiegs der Flüchtlingszahlen im Jahr 2015 – schnell betitelt als „Flüchtlingskrise“ – ergänzt die Politik diese Regelungen um die Asylpakete I-II. Neue Herkunftsstaaten kommen hinzu, die Mobilität von Migranten und der Familiennachzug werden eingeschränkt, Abschiebungen in besonderen Fällen erleichtert, Aufwendungen für alleinstehende Leistungsberechtigte angepasst. Walters Essay kann dabei helfen, die Auswirkungen der Ergänzungen zum Artikel 16 des Grundgesetzes einzuschätzen. Über die lockere Verbindung einzelner Ereignisse aus dem Leben deutscher Migranten zwischen 1933 und 1945 werden Probleme sichtbar, die eine demokratische Begründung von Eingriffen ins Asylrecht implizit hinterfragen.

Eines dieser grundlegenden Probleme der Emigration ist die Unsicherheit über eine Bleibeperspektive. Für viele Migranten wird das Provisorium zu einem ‚Zwischenzustand auf Dauer‘. Über die eigene Zukunft zu bestimmen wird durch bürokratische Hürden erschwert, Migration als Zustand des Wartens erkennbar. Eine treffende Beschreibung dieses schwebenden Zustands liefert die deutsch-israelische Schriftstellerin Jenny Aloni in ihrem Roman Der Wartesaal von 1969: „Auf jeder Liegenschaft ein Ich, das sich verliert, in schon allzu langem Aufenthalt vergessen hat, daß es auf eine Fortsetzung der unterbrochenen Reise harrt, auch wenn manche meinen, daß sie wartend ihre Rückkehr vorbereiten.“

Alonis Figur ist Patientin in einem Frauenkrankenhaus. Zwischen Leben und Sterben wird der Zustand des Wartens selbst zum Problem. Er täuscht die Betroffenen darüber, dass sie vermeintlich aktiv an ihrer Genesung arbeiten. Dagegen verlieren sich Einzelne im passiven Übergangsstadium zwischen „Reiseabschnitten“. Es fällt nicht schwer, im Ort des Frauenkrankenhauses auch eine Allegorie auf Migrationserfahrungen zu erkennen. Aloni selbst floh im Alter von 21 Jahren 1939 nach Israel. Weibliche Stimmen wie diese hätten die Perspektivenvielfalt des Bändchens zusätzlich erweitert.

Hans-Albert Walter ist Begründer der Exilforschung in Deutschland. Sein Wissen um entsprechende Schicksale, die historischen Hintergründe und literarischen Verarbeitungen machen auch diesen kurzen Essay zu einer Fundgrube. Er liest sich zugleich wie ein Resümee seiner fünfbändigen Studie Deutsche Exilliteratur 1933–1950, die mit dem Satz einleitet: „Emigration – Ein sozialer Ausnahmezustand“. Dieser entsteht, auch bei den gegenwärtigen Migrationsbewegungen, oftmals durch eine furchtbare Zwangslage. Menschen fliehen vor Gewalt und Terror: „Extremes Unrecht und Gewalt stellen eine Anomalie dar, sie widersprechen jeder unversehrten Welterfahrung.“ (Carolin Emcke) Emigration ist beides, Ausnahmezustand und Anomalie. Walters Essay trägt dazu bei, sich dies erneut bewusst zu machen. Vor dem Hintergrund deutscher Exilerfahrung fordert er zugleich eine aktive Verantwortlichkeit für Schutzsuchende aus eigener Erfahrung ein.

Titelbild

Hans-Albert Walter: Gib dem Herrn die Hand, er ist ein Flüchtling.
Mit einem Nachwort von Herbert Wiesner.
C. W. Leske, Düsseldorf 2016.
100 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783946595007

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch