Zwischenwelten

Yoko Tawadas neue Prosaexperimente erkunden eine Poetik der Verwandlung

Von David WachterRSS-Newsfeed neuer Artikel von David Wachter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit knapp 30 Jahren wirkt die japanisch-deutsche Autorin Yoko Tawada als poetische Ethnografin der europäischen Alltagskultur. Bekannt geworden ist sie als Autorin literarischer Miniaturen und Essays (etwa im Band Talisman aus dem Jahr 1996) sowie von Prosaexperimenten (darunter die Erzählungen Tintenfisch auf Reisen von 1994). Ihre bei konkursbuch verlegten Werke stehen in der Tradition von Roland Barthes’ Mythen des Alltags. Gewöhnliche Gegenstände wie Ohrringe oder Weihnachtsbäume liest sie als Zeichen, aus denen sich kulturelle Symbolwelten konstruieren lassen. Leitend für Tawadas Beobachtungen ist ein fremder – oder besser: ein verfremdender – Blick, mit dem sie gewohnte Objekte und habituelle Verhaltensweisen hierzulande literarisch seziert. Ihre Texte bewegen sich über kulturelle Grenzen hinweg. Japanisch-deutsche Migrationen – wie in Das Bad (1989/2010) oft zweisprachig veröffentlicht – führen in kulturelle Schwellen- und Übergangszonen, wo sich vermeintlich stabile Identitäten auflösen und Fremdes sich mit Vertrautem verbindet. Tawada verfolgt eine Poetik der Verflüssigung, einer Auflösung fester Grenzen zwischen Ländern und Kulturen. Auf thematischer Ebene lässt sich diese transnationale Denk- und Schreibbewegung unter anderem an einer beständigen Faszination für Reisen erkennen; motivisch realisiert sie sich in einer Dauerpräsenz des Liquiden, die Tawada in ihren Hamburger Poetikvorlesungen Fremde Wasser von 2012 programmatisch als Movens ihres Dichtens und Reflektierens herausgestellt hat.

Literarisch interessant wird diese Poetik der Vervielfältigung, Verflüssigung und Verwandlung insofern, als Tawadas Texte überraschende Experimente mit Sprachspielen unternehmen. Indem sie Wörter in ihre Morpheme zerlegt und diese neu kombiniert, bringt sie eine der Sprache inhärente Bewegung zur Selbst-Verfremdung zur Geltung. Sichtbar wird dies etwa im Titel des Prosabandes Überseezungen aus dem Jahr 2002, wo sich das Wort „Übersetzung“ poetologisch zur exotischen Sprache verwandelt, deren fremder Körper ein Meer bewohnt und dieses zugleich überquert. Mit Texten an der Grenze von Lyrik und Prosa tritt Tawada ausdrücklich das Erbe von Surrealismus und konkreter Poesie an. Damit findet sie zunehmend die Aufmerksamkeit einer interkulturellen und transnationalen Literaturforschung. Dies zeigt beispielsweise die jüngste Arbeit der Hamburger Germanistin Julia Boog über das Anderssprechen im Medium von Witz und Sprachspiel bei Yoko Tawada, Emine Sevgi Özdamar und Felicitas Hoppe.

Nun hat Yoko Tawada mit der Essaysammlung akzentfrei sowie mit der poetischen Prosa Ein Balkonplatz für flüchtige Abende zwei neue Werke vorgelegt. akzentfrei führt die literarische Ethnografie früherer Bände wie Überseezungen oder Talisman fort. Erneut richtet sich Tawadas Blick auf Objekte und Materien des Alltagslebens. So wird etwa der Joghurt im Text „Setzmilch“ zum signifikanten Zeichen, das Einblick in Selbst- und Weltverständnis eines kulturell-sprachlichen Raums – der hiesigen „Joghurtkultur“ – gibt und zugleich für liquide Grenzen zwischen Japan, Bulgarien und Deutschland zeugt. In Texten wie „Akzent“ werden sprachliche Phänomene zu Orten des Kultur-Kontakts: „Der Akzent ist das Gesicht der gesprochenen Sprache, und ihre Falten um die Augen und in der Stirn zeichnen jede Sekunde eine neue Landschaft“. Im Medium der Selbstbeobachtung liest Tawada sprachliche Abweichungen aus immer neuem Blickwinkel als kulturelle Öffnungen, wenn sie etwa über die klangliche Nähe von „Seele“ und „Zelle“ im eigenen  Akzent reflektiert. Auch hier verfolgt sie die skizzierte Poetik der Verfremdung im Medium der Poesie, welche die Aufmerksamkeit auf vermeintlich marginale sprachliche Phänomene und Alltags-Objekte richtet und diese verformt, so dass überraschend neue Perspektiven auf den bekannten Alltag entstehen: „Man bleibt überall stehen und macht Nahaufnahmen der Details. Die Vergrößerung der Einzelteile ist verwirrend, weil sie vollkommen neue Bilder von einem vertrauten Objekt zeigt.“

Auf diese Weise verwandeln sich die deutsche, mit ihr aber auch die japanische Sprache bei Tawada in Netze aus Ähnlichkeiten. Klangverwandte Signifikanten verbinden Nicht-Zusammengehöriges und erzeugen semantische Bewegungen, bei denen einzelne Wörter, aber auch sprachliche Räume und territoriale Einheiten in Kontakt treten. Der Essay „Transsibirische Rosen“ erkundet diese grenzauflösende Dynamik auf exemplarische Weise:

Wenn das Wetter gut ist, geht das Wort ‚Syltrose‘ spazieren, findet falsche Freunde am Strand, zum Beispiel eine Schildkröte. Syltrose und Schildkröte haben Ähnlichkeiten, die für eine Freundschaft ausreichen, auch wenn sie für die anderen unbedeutend sind. Die Syltrose lernt später einen noch falscheren Freund, einen Sylt-mat-rosen, kennen und geht mit ihm auf eine Weltreise, landet in Neuseeland, erinnert sich dort, dass das Wort ‚Sylt‘ möglicherweise von ‚See-land‘ kommt. So hat sie einen weg von altem Seeland zu neuem Seeland gefunden.

Wie in früheren Texten besteht die literarische Qualität von Tawadas Miniaturen auch in akzentfrei in der Kreativität, mit der sie Sprachspiele inszeniert und als Form offenen Denkens ausstellt. An einer Stelle bezeichnet sie sich selbstironisch als „Wort-Fetischist“, wobei sofort wieder vervielfältigt wird, was überhaupt ein „Wort“ ist: „Worte schaffen Orte, aber an dem Ort, an dem man sich befindet, ist man immer bereits fort.“ Als „Schreiben im Netz der Sprachen“ – so ein weiterer Essay-Titel – will Tawadas Prosa sprachliche und kulturelle Räume im mehrfachen Wortsinn ‚kreuzen‘: „Historische Spuren und versteckte Strickmuster einer Sprache werden im Spiegel der Übersetzung sichtbar.“

Als „Witz der Differenz“ (Julia Boog) führen Tawadas Experimente im besten Fall zu einer literarischen Komik, die eingewurzelte Sichtweisen verändert und sich zugleich anregend liest. Nicht immer aber halten ihre Texte dieses literarische Niveau durch. Stellenweise wird leider die poetologische Selbstreflexion als transnationale Autorin doch etwas (zu) penetrant. So wird etwa recht hölzern vom eigenen Schreiben behauptet, dass in ihm „Elemente aus verschiedenen Kulturen und Bereichen in einer überraschenden Weise zusammenkommen“ – wo sie dies zeigt, überzeugt Tawadas Prosa mehr, als wo sie es nur sagt. An solchen Stellen wirkt die repetitiv bekundete Poetik der Verwandlung ermüdend. Auch dafür ein Beispiel:

Eher ähnele ich einem Netz. Ein Netz verdichtet seine Struktur, wenn neue Züge aufgenommen werden. Dadurch entsteht ein neues Muster. Es gibt immer mehr Knoten, Unregelmäßigkeiten der dichten und lockeren Stellen, unvollendete Ecken, Zipfel, Löcher oder Überlagerungen. Dieses Netz, mit dem man winziges Plankton fangen kann, bezeichne ich als mehrsprachiges Netz.

Dass sie solche holzschnittartigen Selbstbekundungen vermeidet, gehört zu den nicht geringen Vorzügen der lyrischen Prosa in Ein Balkonplatz für flüchtige Abende. Der Text erzählt von einem Ich und ihren Freunden Elsa und Chris, mit denen sie von Hamburg aus durch die Welt zieht. Eine eindeutige Handlung lässt sich aber gar nicht rekapitulieren, weil der Text von fließenden Bewegungen geprägt ist. Mitten in den einzelnen Sätzen öffnen sich Identitäten durch sprachliche Verwandlungen. Die Unterscheidung von Mensch, Tier und Ding wird ebenso aufgelöst wie die Konturen von Personen oder die Grenzen zwischen Ländern und Kulturen, die sich zu Serien von Nachbarschaften fügen. „Ich nenne Elsa Elbe, wenn der Hafen seine Leselampe anschaltet“, heißt es etwa im „Ersten Nachtgesang“. Bewegung der Einfälle, Metamorphosen der Figuren, Entstellung des gewöhnlichen Blicks: Überzeugend, weil performativ gelungen inszeniert Tawada surrealistische Schreibformen. Sie folgen dem Prinzip der Leichtigkeit als heiterer Entstellung:

Hier ein Libellenengel, dort ein/ Ameisenlöwe. Ein Fest der/ Mischwesen im Lexikon der Luft./ Ein launischer Wind blättert in meinem/ Skizzenbuch und nimmt es mit./ Papyrus, Papillon./ Der Schmetterling aus Papier/ fliegt auf, ich hinterher/ mit gestreckten Armen./ Ein Marienkäfer landet auf dem Rücken/ meiner Hand. Seine Maske/ macht aus dem Rücken/ ein Gesicht der Groteske.

Eine transnationale Poetik der Gegenwartsliteratur: In Yoko Tawadas Ein Balkonplatz für flüchtige Abende nimmt sie faszinierende Gestalten an.

Titelbild

Yoko Tawada: akzentfrei. Literarische Essays.
Konkursbuchverlag, Tübingen 2016.
140 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783887695576

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Titelbild

Yoko Tawada: Ein Balkonplatz für flüchtige Abende.
Konkursbuchverlag, Tübingen 2016.
125 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783887695552

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