Berlin entdecken

Klaus Kühnels Anthologie vermittelt in Lyrik und Grafik ein komplexes Großstadterlebnis

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einen poetischen „Mythos“, wie ihn Rom, Paris oder auch London besaßen, hat es im Fall von Berlin nie gegeben. Veränderungen und Erschütterungen erfolgten hier in so kurzen Intervallen, dass Berlin nie ein dauerhaftes, unverwechselbares Gesicht ausprägen konnte. Die Betrachtung Berlins erfolgte aus einer ständig sich verändernden Perspektive. Von der preußischen Residenzstadt wurde Berlin 1871 zur Hauptstadt des deutschen Kaiserreiches, dann der Weimarer Republik und der Nazi-Diktatur – und damit verbunden war die Zerstörung Berlins im Bombenhagel des Zweiten Weltkrieges –, nach 1945 Vier-Sektoren-Stadt, dann Land der Bundesrepublik, gleichzeitig Hauptstadt der DDR, seit 1990 Bundeshauptstadt. Niemals konnten sich hier räumliche und kulturelle Grundstrukturen herausbilden, die über längere Zeit konstant blieben.

Dennoch hat immer eine Faszination bestanden, die Berlin zum Gegenstand poetischer Betrachtung werden ließ. Welche Beobachtungsweise, Darstellungssituation, bildhafte oder metaphorische Verarbeitung des Großstadterlebnisses gewählt wurde, ob es sich um kritische Reflexionen, skizzenhafte Impressionen, verhaltene Sympathiebekundungen oder auch um eine Hassliebe dieser Stadt gegenüber handelt, dem nachzugehen, kann sich schon als ein spannendes Erlebnis erweisen. Wie wirkt die Großstadterfahrung auf die seelische Innenwelt des erlebenden Individuums, welche Bildwelten, Träume, Visionen und Phantasien weckt das Leben in der großen Stadt? 

E.T.A. Hoffmann, der am Gendarmenmarkt wohnte, über das Gewirr von Straßen und Plätzen schaute, erfundene wie reale Gestalten erblickte –  Figuren auch aus seiner eigenen Dichtung – forderte vom Dichter, er habe seine Anregungen „im bunten Gewühl der Stadt“ zu finden, denn „das lebendige Leben der großen Stadt, der Residenz, wirkt doch nun einmal wunderbar auf das Gemüt“.

Ein eindeutiges Ja oder Nein zur Großstadt gibt es nicht, immer ist das Berlin-Bild höchst zwiespältig, es ist weder ausschließlich Heimat, Geborgenheit noch Steinwüste oder gefährliches Babylon, sondern oft beides zugleich, „ebenso wohl die Höhepunkte als auch die großen Geschwüre der gegenwärtigen Kulturepoche Europas“, schreibt Friedrich Saß 1846 in seiner Studie Berlin in seiner neuesten Zeit und Entwicklung. Und der Naturalist Julius Hart klagt „Auf der Fahrt nach Berlin“ (in: Moderne Dichter-Charaktere, 1885) darüber, wie schwierig es sei, sich in Berlin zurechtzufinden, denn „zusammen liegt hier Tod und Lebenslust, und Licht und Nebel in den langen Gassen“. Vom charakteristischen großstädtischen Lebensgefühl, dem „Sausen und Brausen des Menschenozeans“, dem „kreisenden Wirbel von Vorstellungen und Empfindungen“, die der Schriftsteller und Pädagoge Joachim Heinrich Campe ein halbes Jahrhundert vorher in Paris wahrgenommen hat, kann Adolf Glaßbrenner in seinen „Schilderungen aus dem Berliner Volksleben“ (1841) noch nicht berichten: „das Rauschen der Luft hört man selten vor den Toren und in den Straßen Berlins“ und „die Zahl der uns besuchenden Fremden ist gegenwärtig noch nicht so hoch gestiegen, sie recht bemerkbar zu machen“.

Erst mit der Jahrhundertwende gibt es eine neue Perspektive in der lyrischen Wahrnehmung Berlins. Die Großstadt ist jetzt ein visuelles und akustisches Umfeld, das neue Seh- und Reaktionsweisen erfordert. „Welch ein Trommelfeuer von bisher ungeahnten Ungeheuerlichkeiten prasselt seit einem Jahrzehnt auf unsere Nerven nieder“, schreibt Kurt Pinthus, der Herausgeber der expressionistischen Gedichtanthologie Menschheitsdämmerung (1920), in seinem Essay „Die Überfülle des Erlebens“. Die mit der Wahrnehmung der Großstadt verbundene Reizflut auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung der in Berlin lebenden Menschen wird das jetzt dominierende Thema. Die Anonymität der Großstadt gewährt dem Einzelnen zwar auch ein neues Maß an persönlicher Freiheit und Unabhängigkeit, ist aber auch der Grund für seine Bedrohung. Die expressionistischen Lyriker haben das Problem der „Dissoziation“ (des Zerfalls von Bewusstseinsprozessen, der Auflösung von gesellschaftlichen Zusammenhängen), der Entfremdung des Individuums in der Großstadt thematisiert. Wirklichkeit existiert nur noch als eine Reihe verschiedenartigster, gleichzeitig einströmender Eindrücke, die selten noch einen thematischen Zusammenhang aufweisen. Die Literaturwissenschaft spricht von einer „Labyrinthisierung“ der Großstadtwelt.

Die jetzt vorgelegte Berlin-Anthologie Berlin ist auch eine schöne Gegend… versteht sich keineswegs als Geschichte, als geschlossene Chronologie der deutschen Großstadtlyrik. In einem dem Band beigelegten Faltblatt heißt es, es gehe „natürlich nicht um Vollständigkeit und lückenlose Wiedergabe aller jemals geschriebenen Berlin-Gedichte. Große, mit Berlin fast zwangsläufig in Verbindung gebrachte Namen wie Gottfried Benn, Johannes R. Becher und Bertolt Brecht fehlen – nicht nur, weil die Rechteinhaber hohe Lizenzgebühren fordern, sondern weil sie in anderen Anthologien hinreichend und fast dominierend vertreten sind“. (In Parenthese: Eine Argumentation, der man so nicht ganz zu folgen vermag, denn Gedichte, die der Berlin-Lyrik Ansehen und Bedeutung verliehen haben, die zu ihrem festen Bestand gehören, dürfen in einer repräsentativen Anthologie einfach nicht ignoriert werden.) Die Gedichte sind im Wesentlichen chronologisch geordnet, wobei vielfach auch thematische Aspekte eine Rolle spielen, wenn sich hier Zusammenhänge herstellen lassen und Motivverknüpfungen ergeben.

Der Herausgeber Klaus Kühnel, selbst Lyriker – zwei Gedichte von ihm befinden sich auch in der Anthologie –, zugleich Sachbuchautor und Publizist, verzichtet auf eine Kommentierung des Bandes bzw. der Gedichte, er beschränkt sich auf sparsame Sach-Erläuterungen in Form von Fußnoten und bio-bibliographischen Angaben im Anhang. Es ist also eine Lese-, keine Studienausgabe, dem Leser und Betrachter wird keine Unterweisung anempfohlen, wie er die Gedichte zu lesen –und die beigefügten Grafiken zu betrachten –hat, sondern dieser soll seine eigenen Erkundungen und Entdeckungen machen, kann die Seiten mal hier und dann wieder dort aufschlagen, ganz wie ihm zumute ist. Und dennoch wäre ein Minimum an Kommentar notwendig gewesen, um die Lyriker – und auch die Künstler – zu verorten, die Entstehungsbedingungen der Gedichte zu benennen, ihre Thematik zu erläutern. Allein ausführlichere Darlegungen in der Biographie der Autoren hätten schon Aufschluss über die thematische Vorlage, die sprachlichen und motivischen Besonderheiten oder den Ausdrucksgestus geben können.

In Adelbert von Chamissos „Berlin im Jahre 1831“ möchte man doch wissen, warum gerade der Flüchtling vor der bürgerlichen Revolution von 1789 in Frankreich ein „Berliner“, ein Repräsentant der deutschen Romantik und ein Verfechter des bürgerlichen Fortschritts geworden ist. Und warum verbindet er seine Dankbarkeit der deutschen Wahlheimat gegenüber ausgerechnet mit dem Jahr 1831? In diesem Jahr veröffentlichte der Verfasser der realistischen Märchennovelle von Peter Schlemihl (1814) seinen ersten Lyrikband.

Wären vielleicht Kapitelüberschriften zweckdienlich gewesen, denn die Sammlung beginnt mit Heinrich Heines „Himmelfahrt“, aus dem der Titel der Anthologie Berlin ist auch eine schöne Gegend… gewählt wurde (das Zitat ist im Kontext des Gedichtes ironisch gemeint, in seinem „Berlin“-Gedicht, das Ausdruck seiner Kritik am deutschen Militarismus ist, nennt Heine Berlin „du großes Jammertal“), geht dann mit drei Gedichten von Anna Louisa Karsch auf die Aufklärungszeit zurück, macht einen riesigen Sprung zu Richard Zoozmanns Stadt-Impressionen „Berliner Bilder“ Ende des 19. Jahrhunderts, setzt dann wieder mit Heines „Unter den Linden“ ein – warum dann noch einmal A. L. Karschs „Gegenden um Weißensee“?–, um dann mit Chamissos Dankgedicht „Berlin“, den hochbrisanten politischen Gedichten Ferdinand Freiligraths, Louise Franziska Astons, Adolf Glassbrenners und Ludwig Pfaus sowie den dann wieder entspannten „Wanderbildern 1852“ von Gottfried Keller fortzufahren. Aber das hätte nicht den Intentionen des Herausgebers entsprochen, ein solches Kapitel-Raster hätte den Leser in eine bestimmte Richtung gelenkt, ihm ein Denken vorgegeben, während dieser doch auf eigene Entdeckungen ausgehen soll. Die freie Wahl der Lektüre soll garantiert werden.

Diese Intention des Herausgebers ist zu respektieren. Aber – um es noch einmal zu wiederholen – das Aufmerksam-Machen auf inhaltliche Motiv-Komplexe und stilistische Formtendenzen, das Aufzeigen thematischer und stilistischer Querverbindungen, der Ausblick in größere Werk- und Epochenzusammenhänge hätte auch parallele und kontrastierende Texte herangezogen, hätte den Horizont über die ausgewählten Beispielgedichte hinaus erweitert, hätten den Leser damit in die Lage versetzt, diese Erkenntnisse durch kritische Lektüre an den einzelnen Gedichten selbsttätig zu erproben.

Ferdinand Freiligraths „Berlin“-Gedicht – „Lied der Amnestierten“ ist es untertitelt –, 1848 im Exil in London geschrieben, ist eine pathetische Anklage an den preußischen König: „Erst gestern ließ er schlachten dich – (das Volk – der Verf.) / Und heute deutscher Kaiser?!“ Das Gedicht, zuerst als Flugblatt erschienen, muss man im Kontext der Biographie seines Verfassers lesen. Freiligrath, der Achtundvierziger, floh ins Exil und appellierte an die Aufständischen, in ihrem rebellischen Impetus nicht nachzulassen. Doch 1868 kehrte er nach Deutschland zurück. Der „Kartätschenprinz“, der damals die Rebellierenden niederschießen ließ, war inzwischen preußischer König geworden und sollte schon bald darauf Kaiser des geeinten Deutschen Reiches werden – und nun bekam er den enthusiastischen Beifall des Dichters Freiligrath. Freiligrath wurde zum wortmächtigen Barden dessen, den er zwei Jahrzehnte vorher noch heftig attackiert hatte.

Julius Harts Gedicht „Auf der Fahrt nach Berlin“ von 1898 feiert pathetisch den Siegeslauf der Technik, den Rhythmus des Massenlebens, aber auch die Großstadteinsamkeit, die Einsamkeit in der Masse. Man mag schon bedauern, dass der Berlin-Kenner Theodor Fontane (etwa mit dem Gedicht „Lebenswege“), Arno Holz, der Pionier der deutschen Großstadtlyrik (mit einem Lyrik-Text aus dem Buch der Zeit, 1886) und Christian Morgenstern (mit seinem „Berlin“-Gedicht) nicht berücksichtigt werden, aber die Expressionisten sind mit Paul Boldt, Ernst Blass, Georg Heym, Alfred Lichtenstein und Alfred Wolfenstein gut repräsentiert.

Es gibt Paul Zech, Max Herrmann-Neiße, Oskar Loerke und auch Joachim Ringelnatz, der die Erfahrung des Einzelnen mit der Welt schlechthin zum Ausdruck bringt, aber auch Wiederentdeckungen – vorher bereits L.F. Aston, L. Pfau und R. Zoozmann –wie Werner Heldt, August Kunert oder Erich Ritter. Gottfried Benn (sein berühmtes „Berlin“-Gedicht) vermisst man ebenso wie die „Gebrauchslyriker“ Kurt Tucholsky, der seine eigene Entwicklung wie die der Epoche markiert und sich damit insgesamt als Tagebuch in Versen präsentiert, und Erich Kästner, der in seinen Berlin-Gedichten den Ton des ironischen Kommentators wählt – die Unlogik oder Ungereimtheit seiner Strophen ist nur „scheinbar“, weil Kästner hier auch den formalen Aufbau zum Ausdrucksträger der Ungereimtheiten werden lässt, die er in Berlin vorfindet – („Besuch vom Lande“, „Berlin in Zahlen“, „Sozusagen in der Fremde“). Hätte man nicht auch an Walter Mehring denken können, in dessen literarischen Collagen es um die verschiedensten Aspekte des hektischen Alltags- und Oberflächenlebens des Berlin der Weimarer Republik geht („Achtung Gleisdreieck!“) oder auch an Lion Feuchtwanger („Herr B.W. Smith besichtigt die Leipziger Straße“) oder Klabund, der den Brettl-Ton so meisterlich beherrscht?

Repräsentativ für die Berlin-Lyrik der Gegenwart – sie nimmt fast die Hälfte der Anthologie ein – sind dann nicht mehr so sehr die großen Stoffe und Themen, sondern das Alltäglich-Zufällige, das Spontan-Greifbare, das weitgehend als Momentaufnahme registriert wird. Immer wieder zerfällt das dargebotene Stadtbild in lauter Einzelheiten ohne inneren Zusammenhang. Neben dem freien Vers wird vor allem die Umgangssprache benutzt, um persönliche Erfahrungen zu vermitteln. Auch der virtuose Sprachgebrauch lässt keine Harmonie aufkommen, der schöne Schein wird immer wieder konsequent durchbrochen.

Unter der Oberfläche der mit viel Raffinement komponierten Gedichte kommen Seelenlandschaften und Bewusstseinsstrukturen zutage. Es sind Bilder der Stadt in unendlich vielschichtigen Einzelpartikeln und heterogenen Perspektiven, wobei der Leser häufig nicht mehr entscheiden kann, ob der lyrische Text noch auf einer rekonstruierbaren Wirklichkeit beruht oder aber bereits als phantastische Konstruktion zu verstehen ist, als eine digitale Simulation von „virtueller Realität“. Dabei bewegen sich die Gedichte von Gerd Adloff, Brigitte Fretwurst, Jürgen K. Hultenreich, Christine Kahlau, Klaus Körner, Ursula Kramm Konowalow, Klaus Kühnel, Peter Lachmann, Richard Pietraß, Helko Reschitzki, Bernd Wagner, Elisabeth Wesuls und Christine Wolter stets in einem literarischen Kräftefeld und sind sich der engeren literarischen Tradition, in der sie stehen, bewusst. Man stößt immer wieder auf Kontrafakturen, bewusste Negationen bestimmter Paradigmata, aber auch auf Anklänge gewollter Wiederaufnahmen und Entsprechungen, die Nachbarschaften signalisieren sollen.

Auch wenn man hier manchen Dichter, manches signifikante Berlin-Gedicht vergeblich suchen wird – etwa Günter Kunert („Fantasma“), Wolf Biermann, Uwe Kolbe („Berlin am Abend“, „Berlin“ oder „Berlin Anfang Dezember“), Wolfgang Hilbig („berlin, flaneur de la nuit“), Durs Grünbein („In Tunneln der U-Bahn“), Hans-Ulrich Treichel („Mythos Berlin 1987“) oder Elke Erb („Erfolg von vorgestern“) –, die Fülle poetischer Ausdrucksmöglichkeiten in der Berlin-Lyrik der Gegenwart vermag die Anthologie ausgezeichnet wiederzugeben.

Über die dem Band beigegebenen Grafiken eröffnen sich zu den Gedichttexten noch einmal eigene Betrachtungsmöglichkeiten und zudem in die bildende Kunst hinüberweisende Signale. Auf sie soll hier nachdrücklich verwiesen werden. Der Herausgeber fügt den Lyrik-Texten keine aus der gleichen Zeit stammende Abbildungen bei, sondern stattet den Band mit Grafiken Berliner Gegenwarts-Künstler aus: Manfred Butzmann, Dieter Goltzsche, Friedrich B. Henkel, Wolfgang Leber, Doris Leue, Rolf Lindemann, Michael Otto, Sabine Peuckert, Susanne Schüffel, Veronika Wagner, Elinor Weise. Die Arbeiten stehen nicht im thematischen Zusammenhang mit den Lyrik-Texten, sondern zeigen eigene Perspektiven und Sichtweisen auf Berlin.

Für Dieter Goltzsche wird seine Berliner Umwelt zum Fokus, zur Welt im kleinen Maßstab. Sie liefert ihm Anlass und Hintergrund, um heutige Großstadt-Erfahrung in der ganzen Spanne zwischen Unrast und Einsamkeit, zwischen visionärem Träumen und banaler Alltäglichkeit tagebuchartig einzufangen. Seine Formwelt entfaltet sich aus den ausbalancierten Bezügen der Texturen, aus dem Wechselspiel von Anpassung und Kontrast, aus assoziativen Zuordnungen. Der Improvisation, der Freiheit des Spiels folgt die zunehmende Begrenzung durch Definition, durch Form- und auch Farbentscheidung. Das Flüssige gerinnt zum Festen, das Diffuse zum Geformten, und dieses wiederum tendiert zur Auflösung. Was auch immer an Emotionen in seinen Arbeiten vorscheint, ist nicht expressiv, sondern zutiefst subjektive Darstellung.

Aquatinta-Radierungen – Stadtansichten in feinsten Abstufungen farbigen Graus – werden von Manfred Butzmann präsentiert. Er hat eine ganze Serie „Steinernes Berlin“ geschaffen. Ob es sich um Giebelwände, Grenzmauern, Dachaussichten, Baugruben, S-Bahn-Viadukte, menschenleere Hausdurchgänge oder stillgelegte Fabriken handelt, der Künstler arbeitet trotz der dunklen Farbtöne virtuos mit dem Licht, das den unscheinbarsten Dingen ein surreales Eigenleben verleiht. Wie ein Chronist hält er den Zustand historischer Bauten fest, wie ein Stadtarchäologe lauscht er den steinernen Zeugen Geschichten ab. Da ist viel Melancholie, Betroffenheit, aber ebenso auch Sarkasmus und kritischer Witz spürbar. „Was sich als Form gegen Form reibt, offenbart sich auch als inhaltlicher Bezug“, hatte der Künstler im Katalog Das steinerne Berlin geäußert. Das wie zufällige Zusammenrücken unterschiedlicher Elemente kann plötzlich zu einem Blick auf die „Verhältnisse“ werden. In seinen Arbeiten herrscht ein fragiles Gleichgewicht zwischen Idylle und Katastrophe.

Als eine sensible Sucherin nach Spuren urbanen Lebens stellt sich Sabine Peuckert in ihren Aquatinta-Radierungen, Kohlezeichnungen und Aquarellen vor. Es fehlen in ihren Stadtansichten nicht Dächer, Fensterblicke, Industriebrachen in der dieser Künstlerin eigenen zarten Farbigkeit und intimen Verhaltenheit. Die Beschränkung auf das Wesentliche bringt jene Klarheit hervor, die Sabine Peuckerts Arbeiten so poesie- und stimmungsvoll machen. Ihre Zeichnungen erhalten Dichte und Mehrschichtigkeit, die Blätter werden regelrecht zu Reliefs.

Wolfgang Lebers Radierungen und Kaltnadel-Arbeiten, Zinkografien und Linolschnitte scheinen „nur“ Modelle der räumlich-architektonischen Umwelt auf der Fläche zu sein. Jedes persönliche Erinnerungsstück, das als Attribut eines Menschen verstanden werden könnte, ist hier vermieden. Seine Räume haben eine anonym geometrisierende Form, sie sind Spiegelungen, Brechungen, Krümmungen, Reflexionen – Abbild und Sinnbild – der psychischen und geistigen Existenz des Menschen, vermögen aber durchaus auch die Last sozialer Bedeutungen zu tragen. In diesen Räumen müssen sich die Menschen vereinsamt, sich ihnen wie ausgeliefert fühlen. Die tragenden und lastenden, fallenden und stürzenden, ziehenden und stoßenden Flächen seiner Berlin-Arbeiten stellen letztendlich doch ein Gleichgewicht aus elementaren Spannungen her, das auch durch Dissonanzen nicht völlig aufgehoben wird. Die Spannung zwischen Expressivem und Konstruktivem, Hell und Dunkel, Schwermütigem und Heiterem, Position und Negation, Intuition und klarer, geistiger Kontrolle hält sie zusammen.

Die Aquatinta-Grafiken Rolf Lindemanns, eines absoluten Einzelgängers, geben einen Einblick in sein vielfältiges Schaffen, seine Philosophie des Ursprünglichen, Unverbildeten, Spontanen, und bezeugen seine Leidenschaft für das Normale, Alltägliche, ja Banale. Dabei hält er sich nicht an die herkömmlichen Darstellungsprinzipien und kümmert sich nicht um Proportionen und Perspektive, sondern hat eine eigene Handschrift erfunden. Wie der Franzose Jean Dubuffet in seinem „Jahrmarkt der Inkonsequenzen“ will auch Lindemann das „Willkürliche“ und das „Wunderliche“ zelebrieren und kann dabei abwechselnd mit dem Zufall und dem künstlerischen Einfall spielen – immer auf der Suche nach einer visuellen Ausdrucksform, bei der die Urkräfte der Kunst wirken.

Seit 1970 hat Michael Otto in Grafiken, seit 1980 zunehmend in Ölbildern Stadtlandschaften des damaligen West-Berlin dargestellt. Sein Schwerpunkt lag dabei auf übersehenen Aspekten, wie etwa Abbruchhäuser, Baulücken, Friedhöfe, die Berliner Mauer, Stadtautobahnen, S-Bahn-Unterführungen und Bauwagen. Seine im Buch abgebildeten Radierungen und Kaltnadel-Arbeiten geben charakteristische Stimmungen im Vorwende- und Nachwende-Berlin wieder und stehen in der Tradition eines kritischen Realismus.

Die gleiche Entdeckerfreude wie beim Lesen der Gedichte empfindet man auch beim Betrachten dieser Grafiken.

Titelbild

Klaus Kühnel (Hg.): Berlin ist auch eine schöne Gegend…. Die Metropole in Gedicht und Grafik.
Mit 59 Grafiken verschiedener zeitgenössischer deutscher Maler und Grafiker.
trafo verlag, Berlin 2016.
244 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783864650758

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