Ein bisschen zu gut?

Martin Walser entwirft in seinem Roman „Statt etwas oder Der letzte Rank“ das Psychogramm des Walser’schen Helden

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der rätselhafte Titel Statt etwas oder Der letzte Rank von Martin Walsers aktuellem Roman wird durch das Motto bereits aufgelöst. Laut des vorangestellten Auszugs aus dem Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm handelt es sich bei „Rank“ um eine Wendung oder Drehung. In der Schweiz wird mit Rank auch die Krümmung eines Weges bezeichnet, in der Jägersprache hingegen bezeichnet das Wort die Wendung, die der Verfolgte nimmt, um dem Verfolger zu entkommen.

Verfolgt fühlt sich auch der Ich-Erzähler des Romans. Wie real seine Feinde sind oder ob nicht vielmehr aus der Selbstbeobachtung heraus das Gefühl einer Bedrohung entsteht, die aber objektiv betrachtet nicht existiert, hält der Text in der Schwebe. Sprechen darf das Ich nicht über das, was ihm wiederfährt und so bleibt ihm nur, über das Nicht-Sprechen-Dürfen zu schreiben. Der Text, der auf diese Weise entsteht, liest sich wie die Summe des Walser’schen Werks. Martin Walser erzählt lustvoll, wählt dabei aber nicht, wie der Untertitel glauben macht, die langatmige Form des Romans. Das Buch besteht aus 52 Kapiteln, die allesamt kunstvolle Miniaturen sind und auch für sich stehen können. Hat Walser mit der Autobiografie seines Alter Egos Messmer im Jahr 2013 eine grandiose Lebensbilanz in Aphorismen vorgelegt, so zeigt er sich auch in seinem jüngsten Roman als Meister der kleinen Prosaerzählung. Diese kurzen Texte enthalten alles, was sein Werk auszeichnet: Skurrile Erlebnisse, Traumsequenzen, scheiternde Liebesbegegnungen sind kombiniert mit den Versagensängsten und dem Fehlverhalten einer Figur, die eigentlich alles richtig machen könnte. Und so begibt sich der Leser zusammen mit dem Ich-Erzähler auf die Reise einer Selbstvergewisserung und Selbstfindung, die unter einem positiven Stern steht.

„Mir geht es  ein bisschen zu gut“ – ausgehend von dieser Selbstbeschreibung sucht der Protagonist nach einer Antwort auf die Frage, was das Dasein im Allgemeinen und seines im Besonderen ausmacht. Eine Antwort hierauf versucht die Erkundung zwischenmenschlicher Beziehungen zu geben, die eine zentrale Rolle im Œuvre Walsers spielt. Dabei sind es nicht nur die für den Spracharbeiter zentralen Fragen nach der Macht der Sprache und der Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks, sondern ihn beschäftigt dabei auch der Umgang mit Erwartungshaltungen. Diese, so zeigt das Werk Walsers, prägen nicht nur die Phase der Sozialisation, sondern bis ins hohe Alter sehen sich seine Protagonisten mit Erwartungen konfrontiert, gegen die sie sich behaupten müssen. Mit dem aktuellen Roman knüpft Walser so in gewisser Weise an die Figurengestaltung seiner mittleren Schaffensphase an. Die monologischen Überlegungen und Selbstbeobachtungen könnten auch von Gottlieb Zürn oder Anselm Kristlein stammen, Männerfiguren, die unter dem Männerbild ihrer Zeit leiden und daran scheitern, dass sie die an sie gestellten (realen und eingebildeten) Erwartungen nicht erfüllen können. Bei der Erziehung der Töchter versagen sie ebenso wie im beruflichen Umfeld. Aber versagt die Figur in Statt etwas oder Der letzte Rank tatsächlich?

Den Blick auf eine musterlose, weiße Wand gerichtet, sucht die Figur nach ihrem Weg. „Ich leide, also bin ich.“ – gegen diese Beobachtung wehrt sich die Figur. Das namenlose Ich möchte nicht auf der Seite der Verlierer stehen, bietet dem „Feuilletongewaltigen“ – so die Bezeichnung für den mächtigsten Kritiker – die Stirn, redet sich um Kopf und Kragen und fragt sich, warum es seit seiner Kindheit Erwartungen entsprechen muss, die an es gestellt werden. In Statt etwas oder Der letzte Rank führt Walser vor, wie sein Protagonist sich von solchen Erwartungen verabschiedet. Die Handlung des Romans ist daher weitgehend in die Psyche des Helden verlagert. Äußere Ereignisse werden kaum geschildert; wenn es doch zu einer längeren Erlebnissequenz kommt – wie zum Beispiel wenn die nächtliche Begegnung mit Franz Kafkas unbekannter Schwester Wilhelma oder der Besuch bei einer Schriftstellerkollegin erzählt werden –, dann sind die Ereignisse meist als fiktives Geschehen mit symbolischem Gehalt für den Entwicklungsprozess des Ichs gekennzeichnet. Das Unterbewusstsein spielt der Figur einen Streich, der vom Leser in seiner metaphorischen Qualität sofort erkannt wird. So erinnert die Figur in der Suche nach sich selbst an die Protagonistin von Monika Marons Roman Die Überläuferin, in dem die Frau mittleren Alters mit gelähmten Beinen in ihrer Wohnung sitzt und sich zwischen Traum und Wirklichkeit gefangen mit Szenen aus ihrem Leben konfrontiert sieht.

Mit der fragmentarischen Schreibweise dieses Romans, der auch aufgrund seiner Handlungsarmut nur schwer in dieses Gattungskorsett gezwängt werden kann, kehrt Walser gewissermaßen in sein von der Dissertation zu Franz Kafka geprägtes Frühwerk zurück. Allerdings führt er uns keine Auseinandersetzung mit Institutionen und der Realität vor, wie wir sie von Kafkas Helden kennen. Es gibt keinen Türhüter, der der Figur den Zugang zur Erkenntnis verweigert. Vielmehr ist die Figur von weißen Wänden umgeben, die ihm sein Leben und sein Ich spiegeln. Seine Imagination und das Verbot, nicht über Erlebtes sprechen zu dürfen, sind der Motor des Romans. Das Ich dreht sich um sich selbst und seine Erinnerungen und entwirft in dieser Suchbewegung ein Psychogramm des Walser’schen Helden. So ist dieser Text auch eine wahre Fundgrube für passionierte Walser-Leser. Wer sich im Werk auskennt, der wird auf Sätze stoßen, die ihm aus anderen Zusammenhängen bekannt sind und die neu gewendet werden. Die vertraute Sprachmelodie lässt auch hier Vielstimmigkeit zu und lädt den Leser ein, sich seinen eigenen Reim auf das Gelesene zu machen.

Die Jagd und die Kehre sind keine neuen Motive im Werk Martin Walsers. Sie sind eng mit der Figur des Maklers und Privatgelehrten Gottlieb Zürn verbunden. Mit Zürn hat der Autor eine Figur geschaffen, die nicht nur mit ihrer Männlichkeit kämpft, sondern auch immer wieder vor den Erwartungen anderer und seinen eigenen Entscheidungen flieht. Nachdem die Jagd bereits im gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1988 zum Thema wurde, steht der 2004 veröffentlichte Roman Der Augenblick der Liebe im Zeichen der „Kehre“. Diese führt Zürn nicht von sich weg, sondern zu sich und seiner Ehefrau hin, die ihre Liebe im Alter neu entdecken. In dieser Tradition ist auch Statt etwas oder Der letzte Rank zu verorten – ein Entwicklungsroman und die Selbsterkundung eines Ichs, das mit den gesellschaftlichen Erwartungen abrechnet und seine eigenen Handlungsweisen kritisch hinterfragt: „Ich war nichts als die Wiederholung dessen, was kein einziges Mal hätte passieren dürfen. Nur wer vergessen könnte, lebt.“ Ob der Figur der Ausbruch aus der Kreisbewegung der Erinnerung gelingt, wird erst am Ende des Romans beantwortet.

Titelbild

Martin Walser: Statt etwas oder Der letzte Rank. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017.
176 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783498073923

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