Inselleben

Nathacha Appanah beeindruckt mit ihrem Roman „Tropique de la violence“ über das Leben auf Mayotte

Von Caroline MannweilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Mannweiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Auch wenn Du weißt, dass Hunderte von Menschen sterben in dieser Lagune, sagst Du es trotzdem: Das ist die schönste Lagune der Welt“. Der innere Monolog, dem der Leser hier lauscht, ist der eines „Kurzzeitentwicklungshelfers“ namens Stéphane, der sich für seinen einjährigen Einsatz in einer Nichtregierungsorganisation Mayotte ausgesucht hat. Nicht aus besonderem Interesse für den Ort, sondern weil Mayotte einfach noch frei war. Die kleine Insel im Indischen Ozean, zwischen Mosambik und Madagaskar gelegen, gehört offiziell zu Frankreich, was sie für Helfer unattraktiv mache. Diese wollten „richtige“ Armut sehen, auch Kriegsgebiete sind attraktiv, am höchsten im Kurs stehe Gaza in Palästina, in das man aber nur als sehr erfahrener Helfer geschickt würde. Stéphane musste also mit Mayotte Vorlieb nehmen, wo er allerdings anders als erwartet keineswegs „französische“ Verhältnisse vorfindet, sondern stattdessen ein ganz eigenes „Gaza“. So lautet der assoziationsreiche Name eines Elendsviertels in Mayotte, in dem abseits der Wohnorte für die Privilegierten der Insel nicht zuletzt viele verlassene Jugendliche leben.

Darunter auch Moïse, der nicht ganz zufällig diesen Namen trägt, denn seine noch jugendliche Mutter hat ihn in einem Krankenhaus in Mayotte mehr oder weniger ausgesetzt. Zum einen wohl deshalb, weil der Sohn ein grünes und ein schwarzes Auge hat, ein harmloser Fall von Heterochromie, den die Mutter allerdings als Zeichen der Besessenheit des Sohnes wahrnimmt. Zum anderen aber wohl auch, weil sie sich für ihren Sohn in Mayotte eine bessere Zukunft erhofft als in ihrer Heimat – sie kommt aus Anjouan, einer Nachbarinsel, die allerdings kein „französisches“ Departement ist, sondern zu den unabhängigen Komoren gehört. Wie viele andere hat sie den Weg nach Mayotte in einer kleinen Barke, den „kwassa-kwassas“, unternommen. Eine gefährliche Reise, denn die einfachen kleinen Bote sind häufig überfüllt – wie so viele Bote, die aus ärmeren Ländern in die EU führen. Denn im Grunde ist Mayotte ein Stück EU zwischen ostafrikanischer Küste und Madagaskar und die Einreise, auch für die Bewohner der benachbarten Komoreninseln, illegal.

Appanah vermittelt diese Zusammenhänge en passant und elegant in die inneren Monologe eingebettet, die die Sicht verschiedener Figuren vermitteln. Eine dieser Figuren ist Marie, eine französische Krankenschwester, die es der Liebe wegen nach Mayotte verschlagen hat, wo sie allerdings sehr bald ohne diese Liebe und auch ohne das so sehr gewünschte Kind leben muss. Moïse kommt für sie also „richtig“, sie nimmt ihn auf und zieht ihn groß. Doch wie allen Figuren in Appanahs Roman bleibt auch Marie das Glück verwehrt. Sie stirbt sehr jung, Moïse ist auf sich alleine gestellt. Auch er wird dem Unglück, das über dem ganzen Roman wie ein Fatum schwebt, nicht entkommen. Er gerät an „Bruce“, der, kaum älter als der Teenager Moïse, bereits in jungen Jahren jede Illusion verloren hat und sein Dasein auf der Straße, im besagten Gaza, fristet. Er überlebt dort mit Drogenhandel und roher Gewalt.

Bruce ist „böse“, aber Appanah beherrscht die große Kunst, dem Leser die Sichtweise einer solchen Figur zu vermitteln – was seine Boshaftigkeit nicht mildert, aber doch in gewissem Sinne nachvollziehbar macht. Denn aus Bruces Perspektive ist sein brutales Verhalten durchaus seiner Umgebung angepasst. Er muss der unangefochtene Herrscher in Gaza sein, wer nicht gefürchtet wird, hat schon verloren – wie der aus Bruces Perspektive verweichlichte, Bücher lesende Moïse. Doch ist es am Ende genau dieser sensible, eigentlich gar nicht gewalttätige Moïse, der Bruce tötet, wobei dieser Mord angesichts der erniedrigenden Foltern, die Bruce Moïse zufügen lässt, eher wie eine Art Notwehr erscheint. Eine zugleich notwendige und sinnlose Notwehr in einem Kosmos, in dem es keine Auswege, sondern nur früher oder später eintreffendes Unheil gibt.

Appanah gelingt eine fast unmögliche Balance zwischen der realistischen Schilderung hochproblematischer Verhältnisse auf der „französischen“ Insel Mayotte und der Evokation eines Ortes, in dem Gewalt, aber auch Schönheit Dimensionen annehmen, die den Realismus sprengen. Dass Appanah dieses Kunststück zu Stande bringt, spricht für ihre literarische Klasse. Nicht unerwähnt bleiben sollten aber auch die intensiven Recherchen, die Appanah für ihren Roman unternommen hat. Zwar kennt die aus Mauritius stammende, inzwischen in Frankreich lebende Autorin das Inselleben aus eigener Erfahrung, lebte von 2008 bis 2010 mit ihrem Mann auch in Mayotte. Doch um das Leben in „Gaza“ zu schildern, kehrte sie noch einmal nach Mayotte zurück, wo sie zahlreiche Gespräche mit Jugendlichen vor Ort führte. Die Namen ihrer Gesprächspartner erwähnt sie in einer Danksagung am Ende des Buches, in der sie auch den vielen Jugendlichen dankt, die lieber anonym bleiben wollten. – Anonym wie auch die vielen Opfer, die auf dem Weg nach Mayotte in den kwassa-kwassas ertrinken.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Nathacha Appanah: Tropique de la violence.
Französisch.
Éditions Gallimard, Paris 2016.
192 Seiten, 17,50 EUR.
ISBN-13: 9782070197552

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