Oberfläche und Tiefgang

Die Denkspiralen in Karl Ove Knausgårds Essayband „Das Amerika der Seele“ verleiten weniger zum Nach- als zum Weiterdenken

Von Lothar StruckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lothar Struck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Min kamp nannte der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård seine auf sechs Bände angelegte autobiografisch grundierte Reihe. Insbesondere der erste Band – eine Auseinandersetzung des Ich-Erzählers von der Pubertät bis zur Gegenwart mit seinem Vater –  erregte Aufsehen in Norwegen, wobei das positive Echo überwog. Auch in den USA reüssierten die Bücher. Im deutschen Verlag wird man gestutzt haben, aber Mein Kampf  Buch eins bis sechs konnte man die Bücher unmöglich nennen. Also erfand man Titel wie Sterben, Leben, Spielen, Leben, Träumen und Kämpfen, die, allesamt übersetzt von Paul Berf, zwischen 2011 und 2017 erschienen.

Das deutschsprachige Feuilleton, längst dem Gott der Authentizität huldigend, goutierte diese naturalistisch daherkommende Prosa, die zuweilen mit philosophisch-aphoristischen Reflexionen verknüpft wird. Zwar gab es auch in der deutschen Literatur mit Wolfgang Welt einen Schriftsteller, der die Unmittelbarkeit zum Vergangenen akribisch rekapitulierte, aber Knausgård trieb dieses Prinzip auf die Spitze. Seine Figur erinnerte sich noch an die Kleidung eines Busfahrers von vor 25 Jahren oder die Getränkefolge eines Gelages, das in einem Filmriss endete. Dass der Ich-Erzähler direkt mit dem Autor Knausgård identifiziert wird, ist nicht Ausfluss eines trivialen Literaturverständnisses, sondern programmatisch. Autor und Erzähler verschmelzen miteinander und versprechen dem Leser die Wahrheit. Inwieweit dieser naiv daherkommende Biografismus nicht auch nur ein fiktionales Spiel darstellt, wurde und wird erstaunlicherweise kaum befragt.

Es ist nicht erstaunlich, dass der unlängst auf Deutsch erschienene Essayband Das Amerika der Seele (neben Paul Berf übersetzte auch Ulrich Sonnenberg einige Texte) an dieses Prinzip des persönlichen Erlebnisses anknüpft. Knausgårds Interpretation des Essays ist stark mit der Person des Verfassers verknüpft. Es sind ausdrücklich keine wissenschaftlichen Texte; sie mäandern und manchmal wird ein Argumentationsstrang einfach nicht mehr aufgenommen. Der Band versammelt 18 Texte unterschiedlichster Qualität und Quantität (von knapp zwei Seiten bis zum titelgebenden Essay mit 53 Seiten), die zwischen 2000 und 2013 geschrieben wurden. Drei Essays sind Erstveröffentlichungen, ein weiterer Text war bisher nur in Ausschnitten erschienen. Die Publikationsliste der anderen Texte ist sehr heterogen: Mal ist es ein Vortrag in einer Volkshochschule, dann Katalogtexte zu Fotoausstellungen oder Artikel in norwegischen und schwedischen Zeitungen (einmal auch in der New York Times).

Immer wieder sagt er „Ich“ und manchmal hat man das Gefühl, er treibt sein Min kamp-Erzählwerk weiter, zum Beispiel wenn er in Der braune Schwanz seine Gewohnheiten und Idiosynkrasien beim „Scheissen“ erzählt – von der Not, die ihm beim Besuch im Supermarkt überkommt bis hin zur Lektüre auf der Toilette zu Hause, die tatsächlich unmittelbare Folgen auf sein Wohlbefinden zu haben scheint. Anders als Peter Handke, der in seinem Versuch über den Stillen Ort vom Rückzugsort Toilette erzählte, berichtet Knausgård zuweilen recht derb von seinen Verdauungsgewohnheiten.

Dennoch (oder gerade deswegen?) gehören die ‚persönlichen‘ Essays von Knausgård zu den stärkeren Texten. In Bibelhelfer erzählt er von seiner eher zufälligen Teilnahme an einem neu konzipierten Bibelübersetzungsprogramm, das dem norwegischen Leser vor allem das Alte Testament „näher an das hebräische Original“ bringen sollte. Das Interesse des in seiner Jugendzeit „glühenden Atheisten“ Knausgård nimmt mit der Kenntnis der Problemstellungen enorm zu. Wie können die „physischen und körperlichen“ Texte des Alten Testaments erhalten und gleichzeitig für den modernen Leser, der diese Bildsprache häufig nicht mehr deuten kann, les- und verstehbar gemacht werden? Die letzte Übersetzung wurde 1935 vorgenommen. Was ist warum nicht mehr zeitgemäß? Das Dilemma: „Jede stilistische Wahl, die vermutlich in der Überzeugung getroffen wurde, gutes und adäquates Norwegisch zu formulieren, führt auch zu einer Bedeutungsentscheidung“. Es geht um buchstäblich jedes Wort und Knausgård führt hierzu beeindruckende Beispiele an. Er schildert dabei auch die Ernsthaftigkeit der Beteiligten, eine interdisziplinäre Lösung zu formulieren, und es gelingt ihm sehr gut, die Faszination dieser Sisyphos-Arbeit zu vermitteln.

In Das Leben in der unendlichen Sphäre der Resignation reflektiert Knausgård anlässlich einer Lesung in Beirut mit und über die Relevanz seiner aktuellen Lektüren, unter anderem Søren Kierkegaards Der Begriff Angst und Furcht und Zittern, definiert Unterschiede zwischen muslimischen und christlichen Fundamentalisten und entdeckt übereinstimmend bei beiden Gruppen eine Absage an die „Bürde der Komplexität“ der Welt. Gleichzeitig untersucht er mit Kierkegaard die Motivation des Glaubens – und dies ausgerechnet bei Abraham, der seinen Sohn opfern soll und auch dazu bereit ist. Ein Gehorsam, der uns heute fremdartig, ja pervers anmutet. Was macht den Glauben aus? „Im Ethischen ist der Einzelne dem Allgemeinen untergeordnet – in Abrahams Fall wäre das Ethische, seinen Sohn über alles zu lieben, schreibt Kierkegaard –, während es im Glauben umgekehrt ist, dort ist der Einzelne dem Allgemeinen übergeordnet.“  So ganz gelingt es Knausgård nicht, die Konsequenzen dieses Schlusses auszuloten, was er am Ende auch andeutet: „Die Oberfläche ist mein Leben, die Tiefe meine Sehnsucht“.

Wer will, kann in dieser Indifferenz eine Stärke erkennen. Knausgårds Denk- und Wahrnehmungsspiralen verleiten weniger zum Nach- als zum Weiterdenken. Manche Texte wirken eher wie Fingerübungen, etwa eine Auseinandersetzung mit Durs Grünbein (Alles, was am Himmel ist) oder eine Impression über Riesenfische im Berliner Zoo (Augen). Aber er scheut auch nicht die Konfrontation wie sich in seinem Text Der monofone Mensch zeigt, in dem er – ein Jahr nach den furchtbaren Verbrechen – über den Massenmörder Anders Breivik schreibt. Knausgård erzählt zunächst von einem unmittelbar entstandenen Wir-Gefühl in der norwegischen Gesellschaft („Ja, die Welt schien in  jenen Tagen offen zu stehen“), um danach einige (psychologische) Deutungen der Lebensumstände Breiviks in Bezug auf dessen Taten zu versuchen. Das hat teilweise den Duktus eines sozialtherapeutischen Aufsatzes, wird allerdings gegen Ende sehr interessant, wenn, an Hannah Arendt anknüpfend, sich Knausgård gegen die Dämonisierung oder gar Dehumanisierung des Täters wendet: „Nun ist es geschehen […] und das Grauen dieser Gewissheit dürfen wir nicht in Abstand auflösen, denn es ist dieser Abstand, der gefährlich ist.“ Noch deutlicher wird er in Gnade, ein Text, der gemäß Bibliographie 2010 geschrieben und bisher nicht veröffentlicht wurde. Hier verblüfft er mit einem emphatischen Plädoyer für „diese enorme, aber auch selbstzerstörerische Kraft der Vergebung“ und moniert, dass „wir“ Christus „vergessen“ hätten. Gnade ist ein berührender Text. Und er ist mindestens in einem Punkt noch nachträglich ergänzt worden, wenn es plötzlich heißt: „Breivik ist ebenso viel wert wie die jungen Menschen, die er brutal ermordet hat.“ 2010 waren die Taten noch nicht geschehen, aber Knausgård braucht diese Schlussfolgerung, um am Ende die Unrealisierbarkeit des Christentums zu verdeutlichen, also sich ein Stück weit selbst zu widersprechen. Gnade und Vergebung, so das Fazit, das sich für ihn aus der Literatur ergibt, ist nur dem Idioten, einer Figur wie Fjodor Dostojewskis Fürst Myschkin, möglich. Der Idiot, so Knausgård, „ist der Gegenpol des Zynikers. Zwischen ihnen beiden gilt es zu wählen. Der Zyniker fragt: Aber wer soll vergeben? Der Idiot antwortet: Das werde ich tun.“ Knausgård positioniert sich hier als „Idiot“.

Aufregend und fruchtbar ist Knausgård vor allem, wenn er über Literatur schreibt. Sein Essay Das Amerika der Seele ist eine leidenschaftliche Hommage an Knut Hamsuns Frühwerk und auch ein Versuch, dessen Zweifel und Unbehagen an der Moderne zu verstehen, ohne sie zu denunzieren. Auch in Die Literatur und das Böse nimmt Knausgård vehement Partei für den (politisch) widerständigen Schriftsteller, hält nichts von der „neomoralischen Welle“, die er über Skandinavien schwappen sieht, eine Welle, „bei der literarische Werke in vollem Ernst und mit großer Inbrunst danach beurteilt werden, ob das, was sie ausdrücken, richtig oder falsch ist, gut oder schlecht, nicht in Bezug auf ihre Qualität, sondern mit Blick auf ihre Moral“. Ein ganzes Kompendium von „bösen“ Dichtern und deren „Verwerfungen“ lässt er auftreten, von weniger bekannten Autoren wie Thorbjørn Egner, Henrik Hovland, Nikanor Teratologen und Jens Bjøneboe über Hergé (Tim und Struppi) bis hinein in die Hochliteratur wie Miguel de Cervantes, Charles Baudelaire, natürlich wieder Hamsun und schließlich Louis-Ferdinand Céline, James Joyce, Peter Handke und auch er selber setzt sich mit seinen moralisierenden Kritikern auseinander, die ihn aufgrund seiner Darstellungen in den Min kamp-Bänden der Unterdrückung seiner Frau bezichtigt hatten.

Sein Plädoyer fällt für den widerborstigen und womöglich auch „im Dienste des Bösen“ stehenden Schriftsteller aus, sofern dieser Literatur erzeugt und nicht nur Ideologie. Denn „allein die Literatur hat die Fähigkeit, ganz in die Welt des Einzelnen einzudringen, dorthin, wo der Überbau im Alltag einstürzt. Und diese Fähigkeit ist so unveräußerlich, nicht zuletzt in unserer Kultur, die jeden Tag mit der Ideologieproduktion aller denkbaren Medien gefüllt wird, dass wir es uns nicht leisten können, etwas darin abzulehnen, nicht einmal das, was wir verabscheuen oder am allermeisten fürchten.“ Mehr kann man dazu eigentlich nicht sagen.

Dagegen wirken die Texte zu den Fotokünstlerinnen Francesca Woodman (Willkommen in der Wirklichkeit), Cindy Sherman (Der Schweinemensch) und Sally Mann (Das unerschöpflich Präzise) bemüht-deskriptiv. Was soll man damit anfangen, das Sally Manns Fotos „sehr, sehr schön“ sind? Der Leser sollte die besprochenen Kunstwerke im Netz nachschlagen, ansonsten bleibt Knausgårds Begeisterung noch rätselhafter. Auch die Eindrücke zum Selbstbildnis in der Malerei anhand von Felix Nussbaums Portrait (Das für alle Gleiche) in Verbindung mit Jean Genets Essay Rembrandts Geheimnis überzeugen nicht in dem Maße wie die Beiträge zur Literatur.

So merkwürdig die Essay-Sammlung mit einem kurzen Text über den Ich-Erzähler Knausgård, der sich übergeben muss und dabei von einem Mann und einigen Elstern beobachtet wird, beginnt (Zehn Jahre), so schwärmerisch endet das Buch mit einem veritablen Hymnus auf den Lektor (Dorthin, wohin die Erzählung nicht hinkommt) und speziell die Beziehung zwischen Karl Ove Knausgård und seinem Lektor Geir Gulliksen, die sich so fundamental voneinander unterscheiden – und doch ist der Verfasser so voll des Lobes über die Dichtkunst seines Lektors (die man mangels deutscher Übersetzung derzeit nicht beurteilen kann).

Die Qualität der Beiträge über literarische Themen im weitesten Sinn wurde bereits konstatiert. Es gelingt dem Autor darüber hinaus, dass man seine Texte auch dann zu Ende liest, wenn man mit seinen Schlussfolgerungen aus welchen Gründen auch immer nicht folgen mag.

Titelbild

Karl Ove Knausgård: Das Amerika der Seele. Essays 1996-2013.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Paul Berf und Ulrich Sonnenberg.
Luchterhand Literaturverlag, München 2016.
492 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783630874555

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