Nabokov vs. Don Quijote

Vladimir Nabokovs „Vorlesungen über Don Quijote“ erscheinen in Dieter E. Zimmers Prachtausgabe

Von Nils GelkerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Gelker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Frühjahrssemester 1952 hält Vladimir Nabokov, einer der größten Romanciers des 20. Jahrhunderts, eine Vorlesung an der prestigeträchtigen amerikanischen Elite-Universität Harvard. Gegenstand ist der Urknall des modernen Romans: Miguel de Cervantes’ Don Quijote. Um die 500 Studentinnen und Studenten sollen bei diesem wahrlich großen Moment der Weltliteraturgeschichte zugegen gewesen sein. Nabokov, noch nicht durch das Skandalfeuer um seine Lolita geläutert und auf den Gipfel des Parnass gestiegen, ist offenbar schon jetzt eine spannende Persönlichkeit: Vor der russischen Revolution ist er geflohen, aus dem zerbombten Europa des Zweiten Weltkriegs gerade noch entkommen. Seit einigen Jahren lehrt er an der University of Cornell und hat Vorlesungen über russische und europäische Literatur gehalten. Hat jemand der anwesenden Nabokovs englisches Erstlingswerk, Das wahre Leben des Sebastian Knight, zur Kenntnis genommen und sich deswegen unter das Publikum gemischt? Was können die ZuhörerInnen von dem genialen Autor, dem leidenschaftlichen Leser und ruppigen Kritiker erwarten? Sicherlich nichts weniger als literarische Einsichten erster Güte. Enttäuscht werden sie nicht, denn Nabokov, den Don Quijote mit scharfem Verstand sezierend und analysierend, versichert dem Publikum: „Tatsächlich stinken Schafe und Ziegen.“

Vielleicht sollte man die Erwartungen an Nabokovs Quijote-Vorlesungen doch behutsam korrigieren. Denn es handelt sich hierbei nicht um eine meisterliche hermeneutische oder literaturwissenschaftliche Leistung. Wem es voranging darum geht, sich mit Don Quijote vertraut zu machen, der ist hier nicht ganz und gar an der falschen Stelle, aber anderswo sicher besser aufgehoben. Wem es aber weniger um den Gegenstand der Vorlesung als vielmehr um den Vortragenden selbst geht, dem werden die Vorlesungen über Don Quijote ein interessantes Dokument und eine spannende Lektüre sein.

Freilich, um ein wirklich neues Dokument handelt es sich nicht. Fredson Bowers hat die Vorlesungen 1983 herausgegeben, begleitet von einem Vorwort, einer Einleitung von Guy Davenport und einer Reihe von faksimilierten Notizen des 1977 verstorbenen Nabokov. Das Projekt war in der Nabokov-Forschung umstritten. Brian Boyd merkt in seiner zweibändigen Nabokov-Biografie an, dass die Ausgabe „viele rätselhafte Auslassungen, Lesefehler, unrichtige Verbesserungen sowie pure Erfindungen des Herausgebers“ enthalte. Geboten wurden nicht nur die einzelnen Vorlesungen, sondern auch die Notizen, die der Autor als Vorbereitung für die Vorlesung angefertigt hatte. Dabei handelt es sich um kurze Inhaltsangaben, Exzerpte und eingestreute Kommentare, die sich mit mehr oder weniger Gewinn lesen lassen.

Die Vorlesungen selbst hingegen zeigen Nabokov als charmanten Besserwisser, der sich genötigt sieht, klarzustellen, dass Don Quijote keineswegs „de[r] größte[] aller je geschriebenen Romane“, ja „nicht einmal einer der größten Romane der Welt“ sei. Hauptsächlich gegen zwei Annahmen zieht Nabokov zu Felde: erstens, dass Don Quijote ein durch und durch humaner Text sei; zweitens, dass Don Quijote stets der Verlierer des Romans sei.

Die Ablehnung der ersten These wird heute niemanden wirklich überraschen. Der Quijote ist ein Text von teils drastischer Gewaltdarstellung und die Würde der Figuren wird mit Blut, Fäkalien und Auswurf mehr als nur ein Mal besudelt. Spannender – und für Nabokovs Lektürestil symptomatisch – ist es schon eher, den Ritter von trauriger Gestalt vor der Verleumdung zu retten, er würde in jeder Episode des Romans verlieren. Dem ist nicht so, wie Nabokov mit verblüffender Methodik argumentiert: Er stellt den Verlauf der Geschichte als Tennismatch dar und zeigt, welche Sätze an den Hidalgo gehen und welche er verliert. Professor Nabokov wird hier zum Sportkommentator. Er konstatiert, dass der Punktestand zum Ende des Spiels zwischen Don Quijote und der Welt ausgeglichen ist, der alles entscheidende letzte Satz kann wegen des Todes des beliebten Protagonisten nicht mehr gespielt werden. Nabokov deutet dies nicht als Niederlage, sondern als Matchabbruch. Eines der Faksimiles zeigt, wie Nabokov den Punktestand als Verlaufsdiagramm dargestellt hat. 1.500 Seiten Roman sind hier zu einer kleinen Zeichnung destilliert – penibel genau, der erste Fehlversuch wurde offenbar schwungvoll überkritzelt. Es sind eben dieser fast kindisch anmutende Ernst und die verbissene Detailverliebtheit, die Nabokov zu einem vorbildlichen Leser machen. Aber ist ein guter Leser auch automatisch ein guter Lehrer?

Nabokov selbst war offenbar nicht zufrieden mit seiner Vorlesung. Nach einer Durchsicht seiner Notizen im Jahre 1972, so erfahren wir aus Boyds Biografie, hat er seine Vorlesungen als „chaotisch und schludrig“ bezeichnet, zur Veröffentlichung waren sie wohl eigentlich nicht vorgesehen. Nabokovs Selbstkritik ist durchaus nachvollziehbar. An mancher Stelle wirken die Ausführungen unstrukturiert und sprunghaft. Statt einer systematischen Einführung oder Gesamtinterpretation reiht Nabokov ganz verschiedene Punkte aneinander, die ihm diskussions- oder kritikwürdig erscheinen. Flapsige Kommentare zu einzelnen Forschungstexten können nicht (und sollen wohl auch gar nicht) darüber hinwegtäuschen, dass Nabokov nicht die Perspektive eines Literaturwissenschaftlers einnimmt, sondern hauptsächlich die des Lesers – und zum Ende hin immer stärker die des Autors.

In der vorletzten Vorlesung kann Nabokov nicht mehr dem Drang widerstehen, Cervantes zu erklären, wie man es besser machen könne. Interessant werde der Roman nämlich gerade dann, wenn Fakt und Fiktion aufeinandertreffen. So wie im zweiten Teil des Don Quijote, bei dem eine nicht autorisierte Fortsetzung, ein gefälschter Don Quijote, Cervantes zuvorgekommen war. Hier lädt Nabokov seine HörerInnen dazu ein, sich vorzustellen, der ‚echte‘ Don Quijote kämpfe am Ende des Romans nicht gegen seinen Widersacher Carrasco, sondern gegen den ‚falschen‘ Don Quijote. Und Nabokov träumt laut weiter: Avellaneda, so das Pseudonym des Autors des falschen Quijote, „selber hätte sich im Spiegelkostüm als Cervantes erweisen müssen!“ In der Tat, das wäre ein fantastisches Ende für einen Roman Nabokovs!  In seinem Professoren-Roman Pnin hat er eine ähnliche Idee kurze Zeit später verwirklicht: Auch Pnin ist ein Wirrkopf, zwar kein Ritter, dafür ein Universitätsdozent, einer, der statt gegen Windmühlen zu kämpfen, seine Vortragsnotizen verschusselt oder seinen Schmierzettel nicht aus den Klauen eines böswilligen Lexikons freikämpfen kann. Pnin wird, ähnlich wie Don Quijote, von einem dämonischen Schatten verfolgt, einem Carrasco namens ‚N.‘, der sich, wie Leserinnen und Leser am Ende erkennen, als Nabokov selbst herausstellt. Er holt hier nach, was Cervantes seiner Meinung nach nicht geschafft hat. Genau diese aneignende, wertende und stark subjektive Grundhaltung Nabokovs ist es, was die Vorlesungen zu Don Quijote eher zu einem Buch für Nabokov-Freunde als zu einem Lehrbuch über Cervantesʼ Roman macht.

Wer sich trotzdem (oder hoffentlich: gerade deswegen) an der Lektüre der Vorlesungen erfreuen wollte, musste in den letzten Jahren die Antiquariate aufsuchen. 1985 erschien bei Fischer eine von Friedrich Polakovics besorgte deutsche Übersetzung der Vorlesungen, basierend auf Bowers Ausgabe. Diese Übersetzung ist mittlerweile natürlich längst vergriffen. Nun erscheint eine neue Übertragung – endlich – in den von Dieter E. Zimmer herausgegeben und zu Recht oft gelobten Gesammelten Werken im Rowohlt Verlag. Enthalten sind nach wie vor Bowers Vorwort (bei dem Zimmer teils stark korrigierend eingreift) und die Abbildungen; Davenports Einleitung wird nicht abgedruckt. Nabokovs  Texte sind von Zimmer neu übersetzt und um zahlreiche Anmerkungen erweitert worden, die dem hohen Standard der Ausgabe gerecht werden. Ein Nachwort hat Zimmer leider nicht beigesteuert, was aufgrund der von Boyd angemeldeten Zweifel an Bowers Ausgabe einen echten Mehrwert bedeutet hätte. Zimmer übersetzt im Vergleich zu Polakovics direkter: Wenn es etwa gilt, Nabokovs unglaublich platte Wortspiele zu übertragen – Original: „Spain as you will see spreads in terms of platitudes (sorry, latitudes), degrees 43 to 36 […].“ –, beweist Zimmer eine fast rührende Treue zum Wort – „Platitudengrad (Pardon, Latitudengrad)“ –, wo sich Polakovics Freiheiten erlaubt hat: „Pleitengrad (pardon, Breitengrad natürlich)“.

Nabokov hat übrigens selbst gestanden, dass seine Witze die Zuhörerschaft nicht zum Lachen angeregt haben. Immerhin stehen sie nicht symptomatisch für die Qualität der Vorlesungen. Die sind zwar teils chaotisch und auch philologisch sitzt nicht jede Pointe. Als Nebentext zu Nabokovs Werk allerdings sind die Vorlesungen über Don Quijote eine lohnende Lektüre – in Dieter E. Zimmers neuer Ausgabe mehr denn je.

Titelbild

Vladimir Nabokov: Vorlesungen über Don Quijote. Gesammelte Werke Bd. 19.
Übersetzt aus dem Englischen von Dieter E. Zimmer.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016.
460 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783498046576

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