Expressionistisch wuchernd, eiskalt und abstrakt

Nicola Lagioias Roman „Eiskalter Süden“ entwirft ein böses Bild von Italiens Süden

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Kanalratte starrte sie aus ihren kleinen Augen an. Ihre Schneidezähne waren so lang, dass sie gezwungen war, die Schnauze stets halb geöffnet zu halten. Sie warf sich auf sie. Bevor sie ihre Zähne in sie schlagen konnte, machte die Katze einen Sprung in die Luft, streifte den Leib der Ratte, und als sie aufs Gras zurückfiel, hatte sie die Krallen ausgefahren.“ Und dann wird sie zum Raubtier und schlug zu: „Sie hatte die Vene gefunden. Sie war erregt, elektrisiert. Sie spürte das letzte Zucken des Gegners unter den hellen Strahlen des Mondes.“

Vittorio Salvemini ist ein mächtiger Mann. Ein Bauunternehmer vom Land, der nach Bari kam und jetzt Großprojekte in drei Ländern betreibt. Ein Patriarch, ein Herrscher, ein Pragmatiker ohne Gefühle. Seine Frau Annamaria ist innerlich tot und hält sich an Konventionen fest, sein Sohn Ruggero ist Onkologe und von Huren abhängig. Seine 35-jährige Tochter Clara, mit einem Ingenieur verheiratet, war drogenabhängig und trieb es mit der halben Stadt. Und jetzt liegt sie mit zerschmettertem Körper vor einem Parkhaus, und die Familie redet von Selbstmord. Ihr Tod rettet Vittorio, denn die Justiz war grade dabei, sein neues Projekt, eine Villensiedlung auf der Gargano-Halbinsel, wegen des verseuchten Untergrunds zu stoppen. Mit dem Tod seiner Tochter kann er mehrere ihrer Liebhaber, die der High Society angehören, erpressen, ihm zu helfen.

Nur ihr Halbbruder Michele, mit einer langen Psychiatriegeschichte gesegnet, ahnt, dass sie sicher keinen Selbstmord begangen hat. Mit seiner Katze kommt er aus Rom, wo er sich halbwegs eingerichtet hat und als Journalist mehr schlecht als recht lebt, aber immerhin fern von der Familie. Er versucht, den Fall aufzuklären und Rache zu nehmen. So wie seine Katze die fette Kanalratte killt.

Nicola Lagioia hat ein scharfes Porträt Süditaliens geliefert, das zeigt, dass nicht nur Sizilien korrupt ist. In Apulien herrscht die pure Geldgier, alles wird zu Geld gemacht. Die Reste der Natur, die schöne Meeresküste, die Menschen, nichts und niemand ist sicher. Nicht nur die Baubranche ist korrupt, alle sind es, die Amtsärzte schnupfen Koks, die Chirurgen sind geil, die Würdenträger bestechlich oder erpressbar oder beides. Richter, Staatssekretäre, Universitätsrektoren, sie alle leben eher nach dem Lusttrieb als nach moralischen Grundsätzen. Und dann wäscht eben eine schmutzige Hand die andere.

Ist Eiskalter Süden ein Krimi? Auf jeden Fall ist es ein bitterer Gesellschaftsroman, der skalpellscharf seziert. Auch stilistisch ist er ein heftiger Brocken, der sich fast gewalttätig den Konventionen des normalen Erzählens entzieht. In einem grellen Realismus und doch experimentell in seinem zersplitterten Aufbau erzählt Lagioia eine gesellschaftliche Parabel und den Zerfall einer Familie. In einer Fülle von oft scheinbar nicht zusammenhängenden Episoden geht der Plot seinen Weg, kurze Sequenzen wechseln ab mit Wiederholungen von Schlüsselmomenten aus anderen Perspektiven: der Moment, als Clara auf die Straße geht und überfahren wird, die Nacht, in der der junge Michele die Villa der Familie ansteckt, ein Weihnachten, Claras Obduktion.

Expressionistisch wuchernd, eiskalt und abstrakt, bildhaft und manchmal etwas preziös, präzise und düster ist die Sprache von Lagioia, der für diesen Roman mit dem Premio Strega, dem wichtigsten italienischen Literaturpreis, ausgezeichnet wurde. Mit Wucht und einer gehörigen Portion Aggressivität entwirft er ein böses Bild der Zeit in Apulien.

Titelbild

Nicola Lagioia: Eiskalter Süden. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Monika Lustig.
Secession Verlag für Literatur, Zürich 2016.
525 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783905951899

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