Von der Raupe zum Schmetterling

Natalie Zemon Davis schreibt in „Metamorphosen“ von den Häutungen der Maria Sibylla Merian

Von Stefanie LeibetsederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Leibetseder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Natalie Zemon Davis ist eine 1928 geborene amerikanische Historikerin jüdischer Abstammung, die sich einen Namen auf dem Gebiet der Sozial- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, vor allem in Frankreich, gemacht hat. Ihr besonderes Interesse gilt marginalisierten Gruppen der Gesellschaft. Davon zeugt auch der Band Drei Frauenleben, dessen deutsche Übersetzung wie die anderer Bücher der Autorin, darunter  das vorliegende, im Wagenbach Verlag erschienen sind. Aus den „Frauenleben“ wurden die Biografie der Maria Sibylla Merian sowie der Glikl, genannt Glückl von Hameln, und Marie de lʼIncarnation als Prolog und Schluss dieser Ausgabe beigefügt.

Das war vielleicht keine allzu glückliche Entscheidung von Natalie Zemon Davis, denn das zum Verständnis des historischen Kontextes dieser drei Frauenleben notwendige Hintergrundwissen muss man leider aus anderen Quellen schöpfen. Die Frage nach der Auswahl der Protagonistinnen ist leicht zu beantworten: Alle drei lebten im 17. Jahrhundert, wobei zwei von ihnen durch ihre religiöse Ausrichtung in gewisser Weise gesellschaftliche Außenseiterinnen waren. Das betrifft die Jüdin Glückl von Hameln und Maria Sibylla Merian, die sich zeitweise einer pietistischen Kolonie anschloss, doch davon später mehr. Sie alle überwanden in beeindruckender Weise die engen Schranken, die Frauen in ihrer Zeit gesetzt waren, mussten dafür jedoch auch persönliche Opfer bringen.

Glückl avancierte zur europaweit agierenden Großhändlerin, Marie de l’Incarnation gab ihren Sohn auf, um in Kanada die Indianer zu missionieren, und Maria Sibylla Merian ließ sich um ihrer wissenschaftlichen Berufung willen scheiden.

Maria Sibylla Merian ist hierzulande vielleicht am stärksten im öffentlichen Bewusstsein verankert, denn die Bundesbank wollte in Anerkennung ihrer Verdienste als Grafikerin und Insektenforscherin 1990 den 100 DM-Schein mit ihrem Porträt schmücken. Später erhielt stattdessen der 500 DM-Schein ihr Konterfei. Im Jahr 1987 war ihr bereits eine 40 Pfenning-Briefmarke gewidmet worden. Des Weiteren erinnern ein Maria Sibylla Merian-Preis für Künstlerinnen sowie eine Maria Sibylla Merian Society zur Erforschung ihres Lebenswerks an sie. Auch sind ihre Werke als Reprint-Ausgaben leicht erhältlich.

Das vorliegende Buch Metamorphosen von Natalie Zemon Davis erschien zu Maria Sibylla Merians 300. Geburtstag und bietet die Gelegenheit zu einer ersten oder erneuten Begegnung mit dem Leben und Werk dieser faszinierenden Frau. Ungewöhnlich ist Davisʼ anspruchsvoller Schreibstil, der sich weniger linear erzählend, sondern eher mäandernd auf der Basis intensiver Quellen- und Archivstudien immer wieder auf das Thema zubewegt.

Von Kindheit an zeigte sich Maria Sibylla Merians Doppelbegabung als Wissenschaftlerin und Künstlerin, beides basierend auf einem ausgeprägten Vermögen zur genauen und präzisen Beobachtung und handwerklichen Umsetzung. Dabei half ihr, dass sie als Tochter des berühmten Stechers topografischer Ansichten, Matthäus Merian dem Älteren, in einem Mainzer Künstlerhaushalt geboren wurde und durch ihren Stiefvater Jacob Marrel, einen Stillebenmaler, eine solide Ausbildung erhielt. Damit fügte sie sich in den Horizont ihrer Zeit ein, in der die aus den Niederlanden kommende Stillebenmalerei ihren Höhepunkt erlebte, denn sie befriedigte das religiös grundierte, zeitgenössische Interesse an der Natur und ihrer Erforschung auf subtile künstlerische Weise.

Ihr besonderes und schon in der Kindheit einsetzendes Interesse an der Erforschung der Insekten basierte ebenso auf tiefen religiösen Überzeugungen. Schon früh fügte sie ihren Blumenbildern Darstellungen von Insekten hinzu, die sie selbst züchtete. Ihr Ehemann Johann Andreas Graff war ebenfalls ein Schüler ihres Stiefvaters Marell. In der 20 Jahre dauernden Ehe gebar sie ihm zwei Töchter. Nach dem Umzug in die Geburtsstadt ihres Mannes nach Nürnberg musste sie durch den Handel mit Malzubehör  und den Unterricht junger Frauen in der Blumenmalerei und -stickerei zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Hierzu fertigte sie Kupferstiche an, die die Grundlage ihres ersten dreibändigen Buches zur Blumenmalerei aus den Jahren 1675 bis 1680 wurden. Diesem folgte in den Jahren 1679 und 1683 ein zweiteiliges Raupenbuch mit Darstellungen der Entwicklungsstadien der Insekten.

Da sie durch ihren Beruf in der Lage war, selbst für sich zu sorgen, zog sie 1685 auf Einladung ihres Bruders mit Mutter und Töchtern in das niederländische Friesland auf ein Schloss, das den Schwestern des Gouverneurs von Surinam gehörte und  schloss sich einer pietistischen Gemeinde vor Ort an. Nach dem Tod ihrer Mutter verließ sie diese und fand 1691 in Amsterdam einen neuen Wohnsitz. In diese Zeit fällt auch ihre Ehescheidung von Graff. Ihre neue Heimat bot ihr sowohl in Hinsicht auf ihre wissenschaftlichen als auch künstlerischen Interessen ein reiches Betätigungsfeld und ermöglichte ihr die Bekanntschaft mit vermögenden Auftraggebern.

Den zweiten und den wohl nachhaltigsten Einschnitt in ihr Leben stellte ihre Entscheidung dar, sich 1699 von einem großen Teil ihrer Besitztümer zu trennen, um mit dem Erlös eine Reise nach Surinam zu finanzieren. Dort lebte sie wiederum mit ihrer Tochter in einer  Pietisten-Niederlassung und widmete sich mit Unterstützung der dort lebenden Indianer der Erforschung der Insekten, bis sie nach zwei Jahren gesundheitlich nicht mehr dazu imstande war und zurückkehren musste. Ihre von dort mitgebrachten Pflanzen- und Tierpräparate stellte sie unter großen Zuspruch der Bevölkerung im Amsterdamer Stadthaus aus und verwendete sie später als Vorlagen für prachtvolle Pergamentmalereien, nach denen Kupferstiche für ein aufwendiges Kompendium der Insekten Surinams gefertigt wurden. Dieses 1705 erschienene repräsentative Werk brachte ihr breite Anerkennung als Naturforscherin und Künstlerin, doch konnte sie vom Verkauf ihrer Bücher allein nicht leben und war auf zusätzliche Einkünfte aus dem Handel mit Malutensilien und Tierpräparaten angewiesen.

Die außergewöhnliche und beeindruckende Lebensleitung der Maria Sibylla Merian konnte nur zustande kommen, weil sie das Vorbild von Vater und Stiefvater vor Augen, einen Beruf ergreifen konnte, der ein zeittypisches Interesse befriedigte, nämlich die präzise künstlerische Umsetzung des Naturvorbildes. Hierdurch war sie finanziell unabhängig von einem Mann und konnte selbst über ihr Leben entscheiden. Das war die große Ausnahme in ihrer Zeit und ist noch heute in gewissem Maß Voraussetzung für die Überwindung dessen, was August Bebel „die größte gesellschaftliche Ungerechtigkeit“ nannte: „Die ökonomische Ungleichheit zwischen Mann und Frau.“

Titelbild

Natalie Zemon Davis: Metamorphosen. Das Leben der Maria Sibylla Merian.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Wolfgang Kaiser.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2016.
191 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-13: 9783803127662

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