„denn ich fühle mich ohne Schuld“

Vergangenheitsbewältigung bei Günter Eich

Von Jürgen JoachimsthalerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Joachimsthaler

Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind!
Seid mißtrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen!
Wacht darüber, daß eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird!
Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet!
Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!  (II, 384[1])

Eindrucksvoll mahnend beendet diese wohl berühmteste Strophe Günter Eichs sein Hörspiel Träume. Ihr Inhalt und ihre poetische Wucht erklären, warum Eich „mit seinen moralisch-lakonischen Gedichten […] nach dem Krieg zu einer unüberhörbaren gesellschaftlichen Instanz“ (Kurt Oesterle) werden konnte. 1967 konstatierte Erich Fried: „Es ist kein Zufall, daß heute in Deutschland junge Studenten, die gegen den Krieg in Vietnam, gegen die Bomben in Hanoi protestieren, in Günter Eichs Versen, die sie zitieren, die Aussprüche eines Verbündeten sehen.“ Insbesondere die Verszeile „Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt“, die der Autor während des Ostermarsches im Protestjahr 1968 vor den demonstrierenden Studenten selbst rezitierte, war eine „bekannte Parole der Studentenbewegung“ (Florian Vaßen).

Umso größer war der Schock, als Axel Vieregg, Mitherausgeber der bis heute maßgeblichen Eich-Werkausgabe, 1993 öffentlich machte, was bis dahin nur in der in Deutschland kaum rezipierten amerikanischen Dissertation von Glenn R. Cuomo plausibel belegt worden war: Günter Eich war vor 1945 als erfolgreichster und berühmtester Hörspielautor des „Dritten Reichs“ ein Kollaborateur und Profiteur des NS-Regimes (ohne deshalb gleich für dessen schlimmste Verbrechen mitverantwortlich gemacht werden zu können). Vieregg versuchte, diese Enthüllung in Einklang zu bringen mit dem bis dahin öffentlich herrschenden Bild von Eich. Dieses sei nämlich, so Vieregg, trotz allem berechtigt. Eich habe seine spätere Größe erst und gerade durch die Einsicht in seine Verfehlungen und Verwicklungen gewonnen, habe also einen dunklen biografischen Hintergrund nötig gehabt, um sich von diesem hinweg ins moralisch wie literarisch Bessere fortentwickeln zu können. Letztlich entwirft Vieregg damit eine kontrastreich dramatisierte Bekehrungsgeschichte, die den jungen Saulus-Eich moralisch möglichst tief fallen lassen muss, um den späteren Paulus-Eich umso glänzender hervortreten lassen zu können.

Eich vor 1945

Tatsächlich schrieb Eich 1936 in einem Brief über seine Arbeit als Hörspielautor: „das Verbogene in diesem Lebenszustand hält mich ewig in schlechtem Gewissen, jegliche undichterische Betätigung nehme ich mehr oder weniger nicht ernst.“ Dieses Unbehagen deutet Vieregg als ersten Vorboten von Eichs späterer Einsicht, übersieht dabei aber den Grund des „schlechten Gewissens“: Dieses bezieht sich nämlich rein ästhetisch-artistisch auf die „undichterische Betätigung“, als die Eich seine Hörspielproduktion begreift. Sie erscheint ihm deshalb als Raub an seiner künstlerischen Berufung. Genau besehen setzt Eich in dieser Klage nur fort, was er bereits vor 1933 öffentlich erklärt hatte (IV, 458-461): Der Dichter habe sich allen politischen, ja „nur“ aktuellen Fragen gegenüber abstinent zu verhalten, um sein Werk nicht zu verunreinigen durch nicht Hineingehöriges, Undichterisches, der außerpoetischen Welt des Gewöhnlichen Verfallenes. Diese Absage erteilte er vor 1933 linken Erwartungen, während er ab 1933 sehr wohl bereit dazu war, sich sein Geld auf der nun zur Herrschaft gelangten entgegengesetzten Seite des politischen Spektrums zu verdienen, freilich auch hier noch mit dem schlechten Gewissen behaftet, dadurch letztlich seinen „eigentlichen“ dichterischen Auftrag zu missachten.

Eichs Hörspiele der NS-Zeit mischen eine antikapitalistische und antiwestliche Haltung mit einer Blut-und-Boden-nahen Agrarromantik (so treten zum Beispiel germanische Sonnwendfeiern an die Stelle des christlichen Weihnachtsfestes). In den Monatsbildern vom Königswusterhäuser Landboten (1933-1940) konnte dies in eine Romantik des deutschen Landlebens (II, 97) eingekleidet werden, die Eich – bis zur Beschwörung der ‚arischen‘ Götterwelt (II, 87f.) – NS-kompatibel zurichtete. Seine nur scheinbar apolitische Haltung und der fortschrittsfeindliche Rückzug in die „deutsche“ Provinz war Grundlage von Eichs doppelter Verwertbarkeit durch Joseph Goebbels ebenso wie durch den Geschäftsmann Eich, der den Dichter Eich so erfolgreich managte und verkaufte. In seinen Hörspielen kommt Eichs ästhetische Politikverweigerung auf ihren politischen und ökonomischen Boden und muss diesem konzedieren, was der Dichter Eich eigentlich keiner Politik hatte konzedieren wollen: ästhetische Hörigkeit.

Eichs frühe Hörspielproduktion findet ihren Höhepunkt im antikapitalistischen Hörspiel Radium (II, 157-194) von 1937, das 1951 (wenn auch überarbeitet) wiederverwertet wurde. Es thematisiert die Radium-Industrie, die kurz nach Entdeckung der Radioaktivität im Radium ein Allheilmittel gegen den Krebs gefunden zu haben glaubte, nach deren kurzen Scheinheilung durch massive Strahlenbehandlung aber nur den umso schnelleren Tod der Krebspatienten herbeiführte, sodass die rasch aufgeblühte Industrie ebenso rasch wieder einging. Dieser historische Hintergrund wird genutzt zur Darstellung als ausschließlich menschenverachtend pervers erscheinender kapitalistischer Wirtschaftsweisen in den westlichen Demokratien und handlungstechnisch um die persönlichen Konflikte der Hauptfigur, eines an die Radium-Werbung sich verkaufenden Dichters namens Chabanais (argot: „Bordell“) herumkonstruiert. Das fortschrittsgläubige System korrumpiert und prostituiert den zum „Reklamenmann“ (II, 183) gewordenen Dichter, der dadurch wieder zum Dichter wird, dass er, ehe er sich in den Urwald absetzt, die Zerstörungen durch das kapitalistische System in einem apokalyptischen Ton thematisiert, der bereits auf den späteren Eich vorausweist:

Schlecht verwalten wir, was die Erde uns gab,
und geringe ist, denke ich, die Frist vor dem Untergang,
Schon gewahre ich den gleichen apokalyptischen Glanz in vielen Gesichtern,
und werde des himmlischen Zornes inne aus mancherlei Zeichen. (II, 184)

Vieregg will in der Gestalt Chabanais’ eine verdeckte Selbstkritik Eichs erkennen können. Es ist zwar nicht völlig von der Hand zu weisen, dass Eich mit dieser Gestalt sein eigenes Mittun reflektiert, kann aber nicht überdecken, dass auf der nach außen hin wirksamen Textoberfläche alles Negative einseitig auf die liberalen, kapitalistischen Demokratien des Westens projiziert wird. Auch hat Eich während der NS-Zeit nicht den in Chabanais’ Flucht in die Wälder angedeuteten Rückzug aus dem System angetreten. Um dem Fronteinsatz im Osten zu entgehen, hat er sich schließlich stattdessen mit der Niederschrift des englandfeindlichen Propagandastücks Rebellion in der Goldstadt[2] (nach einer Vorlage aus Hans Grimms Volk ohne Raum) aus eigener Initiative in die letzte, handlungstechnisch peinlich genau befolgte propagandistische Hörspielkampagne Goebbels’ eingebracht.

Eich in der Nachkriegszeit

Am 20. September 1945 klagte Eich in einem Brief über „die Landsleute Chopins, die hier ein Lager bekommen sollen. Prost Mahlzeit.“ Ehemalige polnische Lagerinsassen, die nach dem Krieg als „displaced persons“ in Deutschland geblieben waren, stießen bei ihm auf wenig Sympathie und Mitleid. Der Schriftsteller Eich interessierte sich auch nicht für das Los der Emigranten oder der während der NS-Zeit verfolgten Autoren, sondern für das von solchen literarischen Größen, die während der Besatzungszeit erst einmal wegen ihrer zumindest zeitweisen Nähe zur NS-Ideologie verfemt waren: In einem Aufsatz mit dem Titel Wo bleibt die deutsche Literatur? beklagte er 1948, „daß für so bedeutende Schriftsteller wie Gottfried Benn und Ernst Jünger Publikationsmöglichkeiten nur im Ausland bestehen.“ (IV, 478)

Hintergrund dieser Klage war, dass 1949 zum zweiten Mal Eichs Aufnahme in den PEN-Club abgelehnt worden war, er sich also mit Benn und Jünger in eine Reihe stellen und mit diesen gemeinsam als Opfer der neuen politischen Verhältnisse fühlen konnte. Von auf die NS-Zeit bezogener Schuldreflexion zeugt eine solche Haltung ebenso wenig wie jene Nachkriegspublikationen, mit denen Eich bald zum Star der neuen, der Trümmerliteratur wurde: Abgesehen vom unverändert beibehaltenen idealistischen Kern rasch berühmt gewordener Gedichte wie  Latrine und Inventur wurden in den Gedichtband Abgelegene Gehöfte (I, 19-68) Texte aufgenommen, die deutlich noch der NS-Zeit verpflichtet und oft auch noch in ihr entstanden waren, ohne dass es freilich einen der damaligen oder der späteren Leser verwundert hätte, dass in dieser angeblich mythen- und illusionslos „neuen“ Lyrik Thor und Wotan auftreten (I, 28f.), die „Troglodytenzeit“ (I, 51) beschworen wird oder pfadfinderähnliche Jugendspiele im Wald mythisch überhöht werden bis hin zur emphatischen Aufforderung „Seht die alten Opfer qualmen“ (I, 63). Der politische Systemwechsel wird dort nicht assoziiert mit Entnazifizierung oder Befreiung, sondern mit dem Verlust materieller wie geistiger „deutscher“ Güter: „Daheim verbrannten Kleider und Schuh,/ Nibelungen und Faust“ (I, 30). In nicht aufgenommenen Vorstufen, möglicherweise schon vor 1945 entstanden, war noch von „der Gefallenen Preis“ (I, 438) die Rede.

Erst die Ablehnung seiner PEN-Kandidatur scheint Eich überhaupt zur Beschäftigung mit auf die NS-Zeit bezogener politischer Schuld getrieben zu haben. Frühe, noch sehr diffuse Spuren davon finden sich in der Sammlung Untergrundbahn (I, 69-80) von 1949. Das lyrische Ich dort ist eingekettet in rätselhaft bedrohliche Zusammenhänge, für die insbesondere das Beispiel der Pest („Betrachtet die Fingerspitzen, ob sie sich schon verfärben“ − I, 73) herangezogen wird: „Die Klapper des Aussätzigen hörst du immer./ Weil er nicht weggeht, mußt du gehen.“ (I, 75) – die Bedrohung kommt von außen, von „Aussätzigen“, gezeichneten Außenseitern, denen der Bedrohte sich, sobald er angesteckt worden ist, selbst zurechnen muss. Es gibt keine Schuldigen, keine Täter, sondern nur und ausschließlich Opfer, wobei zur Opferrolle schuldloses Schuldigwerden – wie der von der Pest Angesteckte eben ansteckend wird – ohne individuelle Verantwortung gehört: „Auch dein Herzschlag ward nicht verworfen./ Oh sei getrost, eben half er zum Untergang.“ (I, 74) Mit der Allgemeinheit solcher Formulierungen wird die historisch konkrete Schuldfrage unterwandert durch metaphysische Aussagen über den Zustand einer ausweglos verderblichen Welt, jede Möglichkeit einer persönlichen Moralität des Einzelnen wird zurückgewiesen.

Eichs eigentliche Auseinandersetzung mit der Schuldfrage nach 1945 geschah Vieregg zufolge in dem Hörspiel Die gekaufte Prüfung (II, 269-302) von 1950: „worum es Eich in diesem Stück gegangen war: um die verhüllte Beichte dessen, was er als Schuld empfand, nämlich seine Mitarbeit im Rundfunk der NS-Zeit, um die Zweifel, ob er ohne Scham noch einmal vor seine Leser/Hörer treten könne, und um die Bitte um Absolution.“ Dieser Interpretation gegenüber hört sich die in dem Stück tatsächlich verhandelte Schuldfrage merkwürdig harmlos an, geht es dort doch darum, dass ein Lehrer während der Schwarzmarktzeit vor der Währungsreform sich trotz innerer Skrupel bestechen lässt, einem ungeeigneten Schüler zum Abitur zu verhelfen. Explizites Hauptthema ist die moralische Seite des Geschehens, mit einem offenen Schluss ward das Urteil über den Lehrer den Hörern überlassen, der Sprecher bittet sogar explizit um kommentierende Zuschriften. Allein nach der Urausstrahlung im Bereich des Senders Hamburg meldeten sich 5.000 Hörer, die den Lehrer durch dessen moralisches Dilemma (schließlich muss auch er an seine Familie denken) exakt so entschuldigt sahen, wie es Eich mit seinem (doch nur scheinbar) offenen Ende bereits impliziert hatte: Die Situation des Lehrers ist durch die äußeren Umstände so beschaffen, dass er gar nicht anders kann, als irgendeiner Seite gegenüber schuldig zu werden – egal, wie er sich entscheidet. Nun ist diese Art der Schuld freilich eine wesentlich andere und harmlosere als die, die historisch eigentlich zur Debatte hätte stehen müssen.

Dies alles ist verknüpft mit einem zeittypischen Pakt des Beschweigens (Hermann Lübbe), der Eich mit seinen Hörern und Lesern verband: Eich war vor 1945 ja kein Unbekannter mehr, er war der beliebteste und meistgespielte Hörspielautor der NS-Zeit und seine Novelle Katharina (IV, 226-274) erreichte noch 1945 als Feldpostausgabe in 17. Auflage das 32. Tausend. Die Mehrheit von Eichs Hörern und Lesern dürfte sich 1950 daran noch gut erinnert haben und Eich wusste natürlich, dass sein Publikum von seinen früheren Erfolgen wusste. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass nicht nur Eich selbst zeitlebens über seine Tätigkeit während der NS-Zeit in einer Form schweigen sollte, die den Jüngeren erfolgreich vortäuschen konnte, er habe in dieser Zeit irgendwie als völlig Unbekannter überlebt und kaum bis überhaupt nicht publiziert, sondern dass auch vonseiten seiner wohlinformierten Hörer und Leser über einige undeutliche Andeutungen hinaus nichts an die Öffentlichkeit drang. Eich war so kaum ein Symbol für offensive Offenheit im Umgang mit der deutschen Vergangenheit, sondern weit eher eine allgemein bekannte Inkarnation erfolgreichen Verschweigens, ein zur Identifikation durch breite Hörer- und Leserschichten geeignetes Symbol moralischer Selbstentlastung durch Schuldablehnung. Dieser Pakt des Schweigens, das Wissen um das gemeinsame Geheimnis dürfte Autor und Publikum nur noch enger zusammengeschlossen haben und nicht unwesentlich gewesen sein für Eichs doch beachtliche Erfolge.

Eich in der Bundesrepublik

Vor diesem Hintergrund ist eines von Eichs komplexesten Hörspielen zu lesen, das häufig als eine der intensivsten Auseinandersetzungen mit der Schuldfrage in der deutschen Nachkriegsliteratur gedeutet wird. Es handelt sich um die mehrfach überarbeiteten Träume (1950 / 1953 / 1960; II, 349-390), die bereits vor ihrer Ursendung am 19.4.1951 im NWDR durch ausgedehnte PR-Arbeit als für die Zeitgenossen besonders wichtiges Werk durchgesetzt werden konnten: Der „Spiegel“ brachte eine vierspaltige Vorankündigung, zur Urausstrahlung wurde eine Diskussionsrunde angesetzt, die Presse betonte den Sensationswert des Stückes: „Unbedingt: Eichs Hörspiel ist das erregendste und bezüglichste des NWDR, seit man Borcherts Draußen vor der Tür aus der Taufe hob.“

Das Stück besteht aus fünf von Gedichten eingerahmten und dadurch voneinander getrennten Träumen, die von fünf unterschiedlichen Personen in verschiedenen Lebenssituationen geträumt werden. Vom Ende des Hörspiels stammen die eingangs zitierten wirkungsvollen Verse, denen das Stück seinen anhaltenden Ruhm mit verdankt. Zusammen mit dem Eingangsgedicht bilden sie eine aufrüttelnde Klammer, die nach 1945 von nicht am Pakt des Beschweigens Beteiligten kaum anders verstanden werden konnten denn als politisch gemeinte Aufforderung, aus den Lehren der NS-Zeit endlich Konsequenzen zu ziehen:

Ich beneide sie alle, die vergessen können,
die sich beruhigt schlafen legen und keine Träume haben.
[…]
Alles, was geschieht, geht dich an. (II, 351)

Zwar ist hier nirgendwo explizit von Auschwitz oder den NS-Verbrechen die Rede, doch welch düsterer Hintergrund könnte von solchen Versen 1950/51 sonst gemeint sein, zumal gleich der erste Traum (II, 352-358) in deutlicher Anspielung erinnern zu wollen scheint, was gerade damals zu vergessen versucht wurde: Eine kleine Gruppe von Menschen unterschiedlicher Generationen befindet sich nach gewalttätiger Verschleppung aus ihrer Wohnung in einem fahrenden Zug und zwar, soviel geht aus ihren Worten hervor, wohl in einer Art bank- und fensterlosen Viehwaggons. Diesem Traum folgt ein Zwischengedicht, das unverkennbar an das Anfangsgedicht anschließt und nun endgültig das Thema Schuld und Verantwortung beim Namen zu nennen scheint:

Denke daran, daß der Mensch des Menschen Feind ist
und daß er sinnt auf Vernichtung.

[…]

Denke daran, daß nach den großen Zerstörungen
jedermann beweisen wird, daß er unschuldig war.

Denke daran:
Nirgendwo auf der Landkarte liegt Korea und Bikini,
aber in deinem Herzen.
Denke daran, daß du schuld bist an allem Entsetzlichen,
das sich fern von dir abspielt – (II, 358f.)

Merkwürdig ist nur, dass mit Korea und Bikini Orte genannt werden, die eher mit US-amerikanischen Kriegen und Verbrechen in Verbindung zu setzen sind als mit der damals jüngsten deutschen Vergangenheit. Außerdem werden diese Orte auch noch entkonkretisiert zu einer Art psychisch-moralischer Symbole, die im „Herzen“ des Hörers, also wohl in jedem Menschen gleichermaßen als dessen Mitschuld „an allem Entsetzlichen“ verankert seien, „das sich fern von dir abspielt“. Solche Schuld ist nicht mehr als individuelle zu behandeln, sondern als unausweichliches Gattungsschicksal: „Denke daran, daß der Mensch des Menschen Feind ist/ und daß er sinnt auf Vernichtung.“ Deshalb ist der einzelne, weil eingebunden in dieses Gattungsschicksal, mitschuldig „an allem Entsetzlichen“ und somit eigentlich nicht mehr wirklich festlegbar auf eine eventuell vorhandene individuelle Einzel- und Teilschuld, wird er durch die gemeinsame Schuld aller an allem doch bereits von jeder persönlichen Verantwortung entlastet.

Sehen wir uns den ersten Traum und seine Versumrahmung deshalb noch einmal etwas genauer an: Von den Rezipienten fast immer übersehen werden Träumer und Traumsituation. Geträumt wird dieser erste Traum nämlich in der Nacht vom 1. zum 2. August 1948 von „Schlossermeister Wilhelm Schulz aus Rügenwalde in Hinterpommern, jetzt Gütersloh in Westfalen“ (II, 351), die Rede ist also in diesem Traum nicht von deportierten Juden, sondern von nach Kriegsende aus ihrer Heimat vertriebenen Deutschen. Zur Zeit der Träume entstand auch ein von Eich selbst nicht veröffentlichtes, möglicherweise sogar direkt zum Entstehungsprozess der Träume gehörendes Gedicht, in dem Eich klarer als in den Träumen sagt, was genau es ist, was er nicht vergessen lassen will:

während wir alles vergessen haben
und Stalingrad zehn Jahre zurückliegt,
gibt es Gefangene.

Sie sind gefangen in jedem Augenblick, wo es uns wohlgeht.
Sie sind gefangen in jedem Augenblick, wo wir unzufrieden sind.
Sie sind gefangen in jedem Augenblick, wo wir lachen.
Sie sind gefangen in jedem Augenblick, wo wir weinen.
Sie sind gefangen in jedem Augenblick, den wir hinnehmen ohne nachzudenken.

Sie sind gefangen in jedem Augenblick −

Leicht ist es, offen zu sein dem Angenehmen der Welt.
Aber das Dunkle ist nicht weggewischt, indem wirs vergessen.
Die hinter Stacheldraht brauchen unsere Gedanken,
die Kraft aus unserer Ohnmacht –

Aber ich meine auch, wir selber brauchten den Gedanken an sie,
damit nicht Zäune wachsen um uns.
Sind wir frei, solang sie gefangen sind? (I, 273f.)

Dieses Pathos gilt nicht den Opfern deutscher Politik, sondern den Deutschen, die unter den Folgen der von ihnen mitgetragenen NS-Politik leiden.

Geht man von der klassisch gewordenen Lesefassung der Träume zurück auf die ursprüngliche Hörspielfassung, liest sich der Text viel eindeutiger und ganz anders als in der späteren Rezeption: Einleitend unterhalten sich ein Sprecher und eine Sprecherin – die später berühmt gewordene Versumrahmung fehlt noch − über eine Missgeburt in Dortmund und stellen eine ursächliche Beziehung zu Hiroshima, Nagasaki und Bikini her. Der Text ist eine warnende Polemik gegen die Atombombe: „Sprecherin: […] Ächtet deshalb die Atombombe.“ (II, 385) Tatsächlich erklären sich auch die Traumszenen, die über weite Strecken nur als Warnungen vor einer durch Radioaktivität radikal ins Un- und Widermenschliche veränderten Welt Sinn machen, teils als Anti-Atomliteratur, teils als Propaganda gegen die Siegermächte: Was die im ersten Traum Deportierten beim Blick aus dem Zug wahrnehmen, ist zum Beispiel überhaupt keine menschliche Welt mehr, sondern eine postatomare. Insgesamt lesen sich die Träume als ein Text, der, historisch sehr früh, mit politisierend wirkender Polemik gegen die Gefahren von Atombombe und Radioaktivität agitiert, diese politisch-ökologische Sensibilität aber nur erreicht auf der Basis der Verdrängung deutscher Schuld und der Verlagerung aller Verantwortung auf die Siegermächte, die in den Träumen immer noch als das erscheinen, als was sie bereits 1937 im Propagandahörspiel Radium (welches ja bezeichnenderweise 1951 wiederveröffentlicht wurde) dargestellt worden waren: als rücksichtslos kapitalistische Technisierer und Rationalisierer, die den Untergang der Welt für kleine Gewinne in Kauf zu nehmen bereit sind.

Noch deutlicher wird die Tendenz zur Entschuldung in dem zum eigenständigen Hörspiel gewordenen Fortsetzungsstück Der sechste Traum von 1954 (III, 143-150): Ein türkischer Geschäftsreisender, der nach einem außerplanmäßigen Halt seines Zuges in einer ihm unbekannten Stadt zu übernachten gezwungen ist, geht von Lärm geweckt in eines der anderen Hotelzimmer, um sich dort wegen des aus diesem Zimmer kommenden Lärmes zu beschweren, wird dort aber bereits erwartet, zu Champagner eingeladen und darum gebeten, dem Kellner zu klingeln. Da der sich nicht meldet, muss er öfters klingeln, bis er erfährt, dass er mit der Betätigung des Klingelmechanismus gar nicht dem Kellner geklingelt, sondern ein Fallbeil betätigt und Hinrichtungen vorgenommen hat. Er erhält dafür wider Willen Geld und wird als „Herr Scharfrichter“ mit dem Hinweis verabschiedet, am nächsten Tag die Henkersstelle antreten zu müssen. Der „Herr Scharfrichter“ erweist sich als widerwillig und unschuldig Schuldiger, seine Schuld ist gar nicht die seine, sondern macht ihn selbst zum Opfer, sodass genau betrachtet der Henker als Opfer denen zugerechnet werden muss, die er unbeabsichtigt getötet hat. Die werden noch dazu gar nicht gezeigt, sondern aus der Darstellung im wahrsten Sinne des Wortes „verdrängt“, sodass als vordergründige Haupt- und Identifikationsfigur nur der „Herr Scharfrichter“ zum Objekt des Mitleids werden kann.

Zwischen Träume und Der sechste Traum verfasste Eich eine Reihe von Hörspielen, in denen er sich deutlicher als in diesen beiden mit dem Genozid beschäftigte. Insbesondere zu nennen ist hier Die Mädchen aus Viterbo von 1952 (II, 737-771): 1943 versteckt sich eine jüdische Familie mit Großvater und Enkelin „in unserem selbstgewählten [!?] Gefängnis“ (II, 739), der Berliner Wohnung von Frau Winter, einer ‚arischen‘ Bekannten. Der Großvater beginnt in diesem Zustand existentieller Bedrohung – man erwartet voller Furcht die Schritte von SS-Männern – seine Enkelin mit der Geschichte einer Schülerinnengruppe aus dem italienischen Viterbo zu beschäftigen, die sich während einer Schulfahrt mit ihrem Lehrer in den römischen Katakomben verirrt. Die Hörspieltechnik ermöglicht es, das Eingesperrtsein beider Gruppen akustisch und semantisch ineinander überzuführen, warten doch beide Gruppen auf sich nähernde Schritte. Was für die eine jedoch tödlich wäre, bedeutet für die andere die Rettung. Dieses Handlungsgefüge erlaubt Eich außerdem, zwei unterschiedliche Themenbereiche gleichzeitig zu behandeln: Situationsunabhängige, allgemein menschliche Todeserwartung einerseits und andererseits das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden, wobei die Handlungsführung den Leser nicht mit den SS-Leuten selbst konfrontiert (die Handlung bricht mit ihrem Eindringen in die Wohnung ab, sie bleiben dadurch ein schemenhaft böses Geräusch ohne menschlich konkrete Stimme), sondern nur mit Frau Winter, die den Juden aus Gründen hilft, die moralisch mitmenschliches Handeln als bloßen Egoismus entlarven sollen.

Eigentliches Thema ist der Tod: Der Großvater lässt seine Enkelin die von ihm begonnene Viterbo-Erzählung zum bitteren Ende, zur langsam erwachenden Todesgewissheit der verirrten Schülerinnen fertigerzählen, um sie so an eine ähnliche Erwartung für sich selbst heranzuführen, die sie dann gleichwohl wiederum in metaphysische Gewissheit hinüberretten soll: „Sieh zu, daß ER dich findet, bevor sie dich finden.“ (II, 769) Das Ziel des vom Großvater geleiteten Fingierens wird so zum Einverständnis mit Gottes Wollen selbst noch im eigenen Untergang. In der Viterbo-Erzählung lässt die Enkelin dann eines der Mädchen sagen: „Ja, Gott, ja, ja, ja!“ (II, 771) Nach dieser Einwilligung nahen schon die Schritte der Nazischergen. Der Genozid erscheint als eine schicksalhaft verhängte Prüfung Gottes, die Frage nach Schuld oder Vermeidbarkeit der NS-Verbrechen wird durch ihre jenseitige Verankerung unterlaufen. Außerdem wird durch die Parallelschaltung zwischen italienischer Schülerinnengruppe und jüdischen Verfolgten das existentielle Todesschicksal zum Allgemeinmenschlichen und der Genozid ein nur zufälliges Anwendungsbeispiel unter vielen anderen, substantiell und systematisch gleichgesetzt mit dem unglücklichen Tod in den Katakomben Verirrter – ein tragischer Unfall einer kleinen Gruppe wird austauschbar mit dem millionenfachen industrialisierten Mord.

Etwa zur gleichen Zeit muss die zu Eichs Lebzeiten nicht veröffentlichte Hörspielszene Gespräch der Schweine (III, 7-12) entstanden sein: Schweine vor einem vollem Trog räsonieren darüber, wohin sie, nachdem sie „abgeholt“ wurden, entschwinden werden, und was das aus dem unbekannten Nebenraum hörbare heftige Grunzen ihrer bereits „abgeholten“ Mitschweine bedeuten mag. Die Abschiedsworte des Schweines Alpha, das schließlich selbst „abgeholt“ wird, lauten so: „Denkt daran, wenn ihr mich schreien hört, daß es das große Entzücken ist, das mir die Kehle frei macht von aller Angst.“ (III, 11) Sein kurz darauf folgender Schrei wird in der Regieanweisung charakterisiert als einer, „der von jedem Wesen der Welt kommen könnte.“ (III, 12) Das Thema der Deportation, des Abgeholtwerdens unschuldiger Opfer beschäftigt Eich also weiter, aber auch hier wird es enthistorisiert und entkonkretisiert zur existentiellen Metapher für die Sterblichkeit aller Kreaturen und bildhaft durchgeführt am Beispiel ausgerechnet von Schweinen im Schlachthof.

Damit freilich hat Eich eines seiner zentralen Thema gefunden: Die Allgegenwärtigkeit von Leid und Tod, das Eingebundensein aller Menschen, ja aller Kreatur in erbsündhaft verhängte Schuldzusammenhänge, die den Einzelnen zum unschuldig Schuldigen werden lassen. Eine systematischere Entlastung von der Schuldfrage ist kaum vorstellbar. Diese Entlastung freilich macht die direkte Thematisierung der NS-Verbrechen als gleichberechtigter Anwendungsbeispiele für das allgegenwärtige Übel in der Welt überhaupt erst möglich:

wer gedenkt noch derer,
die unter den Trümmern starben in Dresden?
Wer gedenkt der Vergasten von Auschwitz?
Und die unter der Erde Rußlands –
vergessen, vergessen. (I, 278)

Zwischen den Bombenopfern von Dresden, den „Vergasten von Auschwitz“ und den in Russland gefallenen deutschen Soldaten besteht kein substantieller Unterschied mehr, was das lyrische Ich davon befreit, sich nach seinen doch wohl unterschiedlichen Verbindungen zu und Verantwortungen gegenüber den genannten Opfergruppen genauer zu befragen. Die scheinbar gegen jede Verdrängung gerichtete Erinnerungspolemik ist so in Wahrheit der Höhepunkt einer systematischen Verleugnung, die systematische Ablehnung von Schuld, wie sie kaum deutlicher als im Titelgedicht der Sammlung Botschaften des Regens von 1955 ausgesprochen sein könnte:

Bestürzt vernehme ich
Die Botschaften der Verzweiflung,
die Botschaften der Armut
und die Botschaften des Vorwurfs.
Es kränkt mich, daß sie an mich gerichtet sind,
denn ich fühle mich ohne Schuld.

Ich spreche es laut aus,
daß ich den Regen nicht fürchte und seine Anklagen
und den nicht, der sie mir zuschickte,
daß ich zu guter Stunde
hinausgehen und ihm antworten will. (I, 86)

Dass Eich eigene Schuld – aber eben nur solche seinem künstlerischen Auftrag gegenüber – reflektieren kann, haben wir gesehen. „Schuld“ im Sinne von Verantwortung in gesellschaftlich-politischen Zusammenhängen lehnt er rigoros ab.

Eich über die Bundesrepublik

1950 bekennt Eich in einem Dankesbrief an Armin Mohler, dessen Konservative Revolution „mit höchstem Interesse“ gelesen zu haben. Eichs Überlegungen zur politischen Situation in Deutschland zeigen ihn bereits 1945/46 in deutlich rechtskonservativer Tradition auf der Suche nach einem kollektiv bindenden und deshalb zwangsläufig metaphysisch begründeten autoritär-hierarchischen Gesellschaftsmodell:

Die in der Renaissance und Reformation zuerst deutlich werdende Zerstörung des tragenden Urgrundes unserer Kultur hat Folgen gehabt, die sich ethischer Wertung entziehen: Entwicklung der Wissenschaft, der Technik und des Proletariats. […] Die katholische Kirche will das zerbröckelte alte wieder festigen, neues zu bauen versuchten der Nationalsozialismus und der Bolschewismus. Die evangelische Kirche und die liberale Demokratie sind sich wohl über die Lage nicht klar. Sie meinen auf das tragende Fundament verzichten zu können. Der Freiheitsbegriff, aus dem sie sich nähren, hat keine bindende Kraft, ist er doch seinem Wesen nach auflösend. (IV, 361)

Nun war es freilich gerade die liberale Demokratie, die sich in Westdeutschland (nicht ohne Hilfe der westlichen Siegermächte, insbesondere der von Eich nicht sonderlich geliebten USA) durchsetzen sollte. Eich verweigert sich lange jeder expliziten Stellungnahme dem neuen Staat gegenüber, meint ihn jedoch immer mit, wenn er vor den Folgen einer überrationalisierten und rein zweckorientierten Ökonomisierung und Technisierung warnt. So hält er seine Rede vor den Kriegsblinden 1953 (IV, 609-612) „dem Hohn jener Kommissare und Manager zum Trotz, die emsig bemüht sind, die Erde endgültig in ein Konzentrationslager zu ordnen“ (IV, 610f.), setzt also auch hier die NS-Verbrechen, sie dadurch mindestens relativierend, mit den Folgelasten der – in Eichs Verständnis westlichen − Modernisierung gleich.

Im Kampf gegen diese neue Zeit kann derselbe Günter Eich, der sich „zu Beginn der fünfziger Jahre durch regelmäßige monatliche Zahlungen verpflichtet hatte, jährlich vier Hörspieltexte für den Süddeutschen Rundfunk zu schreiben“ (Knut Hickethier), sich also – aus seiner eigenen Sichtweise gesehen − nun ebenso verkaufte wie zuvor schon an das „Dritte Reich“, es 1953 als sein geradezu politisch-agitatorisches Ziel benennen, „jene Kräfte zu stärken, die einmal das große KZ und den großen Friedhof Welt unmöglich machen werden.“ (IV, 612) Das „große KZ“ meint hier die neue Zeit, der Eich abermals seine poetische Freiheit, den für ihn nach wie vor wichtigsten Wert, opfert.

Eigenes Unbehagen und eigene Verstrickung wurden als dessen „Schuld“ auf das „System“ projiziert. Dass Eichs gleichzeitig ästhetizistische und rechtskonservative Antihaltung mit einer „linken“ verwechselt werden konnte, ist zu erklären wohl nur mit dem Traditions- und Rezeptionsbruch, den der Nationalsozialismus und sein katastrophaler Untergang auch für alle rechten Traditionen in Deutschland (und damit auch für die Kenntnis über sie) mit sich brachte; dieser machte blind für die schon von Axel Vieregg benannten „heiklen Kontinuitäten, die es möglich machen, dass der antiwestliche, antimoderne und anti‚kapitalistische‘ Affekt eine das Links-Rechts-Schema bis zur Ununterscheidbarkeit übergreifende Konstante in den Diskussionen um einen deutschen Sonderweg bildet. Dies erlaubt es zahlreichen ehemaligen Rechtskonservativen, sich nach dem Krieg unter den Linken wiederzufinden.“

Vor diesem Hintergrund fällt es Eich leicht, eine in allgemeinen Formulierungen gehaltene Widerstandshaltung zu entwickeln, die bei der erst langsam wachsenden „linken“ Opposition in Deutschland den Eindruck erwecken konnte, er habe für die nachfolgenden Generationen bereits vorformuliert, was diese als Ausdruck ihres eigenen Wollens anfangs nur mehr empfinden als bereits selbst ausdrücken konnten. So wurde Eich zu einem der geistigen „Väter“ der deutschen Protestbewegung („Ich habe meine Hoffnung/ auf Deserteure gesetzt“, I, 149). Der ehemalige NS-Profiteur entwirft nach dem Ende der Faschismen die Vision einer panfaschistischen Welt, vor der er Rettung durch seine Dichtung verspricht.

In der Folge inszenierte Eich sich als Fundamentaloppositioneller. Die Notstandsgesetze nutzte er in den sonst so sinnverweigernden Maulwürfen zur Charakterisierung der Bundesrepublik als potenziell totalitär-faschistoiden Staat (I, 331), das Gesellschaftssystem mit seinen Härten im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf setzte er 1968 kurzerhand mit dem nationalsozialistischen Unterdrückungsregime gleich (I, 334). In den Entwürfen zu den Maulwürfen stellte er „Allgemeine Wehrpflicht, Notstandsgesetze, Todesstrafe“ (I, 406) in eine Reihe. Kein Wunder, dass seine eigentlich von rechts kommende Kritik den sich als „links“ empfindenden bewegten Studenten von 1968 so gefallen konnte. Außerdem war ja auch deren Bewegung von unbewältigten Traditionen der NS-Zeit und der „Konservativen Revolution“ durchdrungen, sodass Eichs Teilnahme am Ostermarsch 1968 von ihm in erster Linie als Teilnahme an einer antibundesrepublikanischen und antidemokratischen Veranstaltung betrachtet worden sein kann, trat doch bei antiautoritären Meetings ähnlichen Stils auch Otto Strasser als Redner auf, um unter Berufung auf seine Erfahrungen aus den Gründungsjahren der NSDAP Anweisungen für Straßenkämpfe zu geben.[3] Den Ostermarsch 1968 selbst nannte „Konkret“ im Titel der Juni-Ausgabe 1968 mit merkwürdiger historischer Assoziationslust „Sturm auf Bonn“. An den politisch tatsächlich linken sozial-, wirtschafts- und gesellschaftsreformerischen Tendenzen von 1968 war Eich, zumindest dann, wenn sie ihn selbst betrafen, jedenfalls nicht interessiert: Im Lektorenstreit im Suhrkamp Verlag stand Eich ganz auf der Seite des Verlegers.

Eichs Fundamentalopposition wandte sich gegen Demokratie, Liberalismus und Moderne und verschmolz diese mit seiner in der Schuldfrage entwickelten Konzeption einer von Grund auf schlechten Welt, sodass sein „Widerstand“ weit über alles nur Politische hinausreichte:

Ich weiß nicht genau, ob ich eine Funktion habe in der Literatur, aber ich habe eine gewisse Absicht, und zwar die Absicht des Anarchischen, denn mit allem, was ich schreibe, wende ich mich im Grunde gegen das Einverständnis mit der Welt, nicht nur mit dem Gesellschaftlichen, sondern auch mit den Dingen der Schöpfung, die ich also ablehne. Ich bin in diesem Sinne auch gegen das Nichtänderbare. (IV, 510)

Soweit es zumindest nicht die Eigentumsverhältnisse der Autoren und des Verlegers im Hause Suhrkamp betraf. 1970 radikalisierte er diese Haltung in einem Interview noch: „Ich bin wütend auf das Establishment, und zwar nicht nur auf das politische, sondern auch auf das Establishment der Schöpfung. Ich bin, wenn Sie wollen, auf alles wütend, auf alles, was von der Schöpfung herkommt.“ (IV, 528) Im Prinzip handelt es sich dabei nicht mehr um Politik, sondern um (negative) Theologie durch systematische Ablehnung der immer pejorativ gebrauchten Begriffe „Schöpfung“ und „Einverständnis“. Eichs politische Haltung war so im Kern eine nach wie vor unpolitische, die politisch wirkte nur in einem Kontext, in dem sie als agitatorischer Aufruf gegen die politischen Einrichtungen der Bundesrepublik erscheinen musste. Dadurch, dass er in der Tradition seines Hörspiels Radium damit gleichzeitig die technokratischen Verwertungsmechanismen einer ökologisch blinden kapitalistischen Wirtschaftsordnung mitzutreffen verstand, hat sein vielgerühmter Widerstandsaufruf zwar eine bis heute gültige humane Dimension, über deren antidemokratische und antimoderne Dimension man sich freilich ebenfalls klar sein muss.

Hinweis: Dieser Text ist die gekürzte, überarbeitete und aktualisierte Fassung des Aufsatzes Günter Eich im bundesrepublikanischen Kontext. In: Geist und Macht. Schriftsteller und Staat im Mitteleuropa des „kurzen Jahrhunderts“ 1914-1991. Hrsg. v. Marek Zybura. Dresden: Thelem 2002 (=Arbeiten zur Neueren deutschen Literatur 9), S. 255-285.

Anmerkungen:

[1] Günter Eich wird im Folgenden zitiert nach Günter Eich: Gesammelte Werke in vier Bänden. Revidierte Ausgabe. Bd. I: Die Gedichte. Die Maulwürfe. Hrsg. v. Axel Vieregg. Bd. II: Die Hörspiele 1. Hrsg. v. Karl Karst. Bd. III: Die Hörspiele 2. Hrsg. v. Karl Karst. Bd. IV: Vermischte Schriften. Hrsg. v. Axel Vieregg. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991. Die römische Ziffer in den Klammern hinter Eich-Zitaten bedeutet immer den Band, die arabische die Seitenzahl.

[2] Günter Eich: Rebellion in der Goldstadt. Tonkassette, Text und Materialien. Frankfurt a. M. 1997 (nicht in der Werkausgabe enthalten). Diese Veröffentlichung versucht, Eich vor seinem eigenen Stück zu retten. Doch unabhängig von der Frage, welche Textstellen möglicherweise gar nicht von Eich selbst stammen, hat er sich aus eigenen Stücken einem groß angelegten Propagandafeldzug angeschlossen, über dessen technische Umsetzung bei seinen intimen Kenntnissen des NS-Rundfunksystems er sich keinen Illusionen hatte hingeben können.

[3] Gerhard Zwerenz: „Der Schock sitzt tiefer“. In: Nach dem Protest. Literatur im Umbruch. Hrsg. v. W. Martin Lüdke. Frankfurt/M. 1979, S. 28-41; S. 33.