Eine Odyssee des Ankommens

In „Dazwischen: Ich“ lässt Julya Rabinowich ein Flüchtlingsmädchen zu Wort kommen

Von Andreas BlumeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Blume

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie gehe ich mit meinen ersten sexuellen Gefühlen um? Schaffe ich die Versetzung in die nächste Klasse? Was passiert mit meinem Körper in der Pubertät? Wer bin ich, und wenn ja wie viele? Dieses Sammelsurium an Fragen schwirrt in den Köpfen der meisten Heranwachsenden herum und ist ein Sujet, das vor allem im Genre der Coming-of-Age-Literatur aufgegriffen wird. Untypisch wird es, wenn sich ein junges Flüchtlingsmädchen, wie Madina in Dazwischen: Ich, fragen muss, wie sie der Beamtin in einer Beratungsstelle erklären kann, dass ihrem Vater die Kraft dazu fehlt, in der Warteschleife eines fremden Landes immerzu abgewiesen zu werden. Ohne die Probleme einer Normalbiographie in Frage zu stellen, versetzt sich Julya Rabinowich in die Lage einer Heranwachsenden, die zwischen die Fronten zweier Kulturen geraten ist, und lässt den Leser auf 256 Seiten in Madinas Tagebucheinträge blicken. Der durchschnittliche Kapitelumfang beträgt je nach Gefühlslage oder dem Ereignis, welches Madina schriftlich verarbeitet, zwischen zehn und fünfzehn Seiten. Ausschlaggebend für die Erzeugung von Empathie beim Leser ist die Erzählweise aus der Ich-Perspektive: „Wenn Krieg ist, gibt es immer mindestens zwei Seiten, und wenn man dazwischengerät, bleibt nicht viel von einem übrig. Das weiß sogar ich. Mittlerweile.“

Madina lebt mit ihren Eltern, ihrer Tante Amina und ihrem kleinen Bruder auf engstem Raum. Ihr Vater, der im Krieg verwundete Rebellen sowie Soldaten verarztet hat, verteidigt das Zimmer der Familie in einer kleinen Pension als letzte Bastion der eigenen Kultur. Seine patriarchalen Ansichten erscheinen Madina immer fragwürdiger: „Wir haben zwei Vergangenheiten. Eine vor dem Krieg und eine danach. […] Und mit der Trennlinie, die der Krieg zwischen all das und uns gezogen hat, hinter dieser Linie beginnt das Nichtgemeinsame. Das, was jeder von uns dann erlebt hat und nur für sich allein weiß.“ Zu der jüngeren ‚Vergangenheit nach dem Krieg‘ gehört jedoch auch die Freundschaft zu Laura, die neben der Familie zu Madinas wichtigstem Bezugspunkt wird. Durch Laura beginnt sie in Deutschland eine zweite Heimat und eine neue Chance zu sehen.

Zwischen traditioneller Heimatnostalgie und den Herausforderungen im Alltag der neuen Kultur entwickelt sich das kindlich naive Mädchen zu einer verantwortungsbewussten Jugendlichen. Einerseits versucht Madina sich von den festen Strukturen ihrer Familie zu lösen, andererseits stellt sie im Laufe des Romans fest, dass es nicht einfach ist, sich in die neue Umgebung einzugliedern. Lynne, eine Kindergartenfreundin Lauras und im Roman als Kontrastfigur angelegt, ist ebenfalls nach Deutschland migriert, ihre Eltern wirken bereits westlich angepasst und Lynne hat nicht die gleichen Probleme wie Madina: „Lynne muss nie dolmetschen. Lynne muss ihm [= ihrem Vater] nie etwas erklären. Er weiß auch so, wo es langgeht.“ Selbst zwischen Laura und Madina bleibt eine undefinierbare Distanz: „Ich fahre mit Laura im Bus. Wir schauen aus dem Fenster. Es ist doch mehr Raum zwischen uns, der mit Unpassendem gefüllt ist, als ich dachte.“

Madinas Alteritätserfahrungen werden auch auf anderer Ebene ausgedrückt: Immer wieder finden sich intertextuelle Bezüge zu den Grimm’schen Märchen, die auf der Folie der eigenen Märchen auf ihren fiktionalen Gehalt hin geprüft werden: „Hier gibt es ganz andere Märchen […]. Es gibt hier Märchen von gläsernen Särgen und von Königsfröschen […]. Und böse Wölfe. Wölfe habe ich einige gesehen. Wenn man Feuer gemacht hat und viel Lärm, blieben die Wölfe im Waldfinstern zurück.“ Die imaginierten Gefahren des Märchens kontrastieren Madinas reale Erfahrungen auf ihrer Flucht vor dem Krieg. Selbst auf der Vergleichsebene von Märchenliteratur wird es subtil deutlich: Bedingungsloses Fremdverstehen bleibt ein Konstrukt.

Auffällig an Dazwischen: Ich ist außerdem, dass Madina auch Tagebuch über ihre Träume führt. Sie schafft sich eine Parallelwelt, in die sie sich begibt, wenn sie die Realität nicht mehr aushält. Die Ausflüchte markieren einen dramatischen Wendepunkt. Als Madinas Vater einen Brief mit der Nachricht erhält, sein Bruder sei im Kriegsgebiet gefangengenommen worden, spitzt sich die Lage zu: Er fasst den Entschluss, in die Heimat zurückzukehren. Die Rückkehr bedeutet allerdings die Aufhebung des Asylrechts, folglich die Abschiebung der ganzen Familie. Diese Erkenntnis belastet das heranwachsende Mädchen in beträchtlicher Weise. Doch Madina erkennt: „In der Nacht wandere ich durch meinen Wald. Und ich weiß, er reicht nicht mehr. Ich löse nichts, wenn ich nur an seinen Rändern herumgehe.“ Die märchenhaften Szenarien in Madinas Traumwelt sind Teil der psychischen Verarbeitung ihrer Probleme. Der Märchenwald ist ihr Rückzugsort, doch die Realitätsflucht ist keine Option mehr. Sie muss sich überwinden, durch die dunklen Tiefen des Waldes zu gehen, um nicht nur zum Anlegepunkt ihres Schiffes, sondern auch zu sich selbst zu finden.

Sprachlich konstruiert die Autorin einen Roman, der seine literarische Raffinesse unter anderem aus den Rückblenden der Kriegserfahrungen sowie dem Spiel zwischen Fiktion und Realität bezieht. Elliptische und parataktische Satzkonstruktionen erfüllen eine weitaus wichtigere Funktion als die authentische Darstellung der Alltagssprache eines Kindes: Das Thema der Flucht wird expliziert und steht somit im Kontrast zu der bürokratisch nüchternen Sprache der Behörden: „Nach den Wäldern sind wir in einer großen Menge durch den Regen gegangen. Manchmal auf Feldwegen. Vor uns sind welche zusammengebrochen. Manche wurden dann in Betttüchern mitgeschleppt. Andere blieben liegen.“ Die an anderen Stellen adjektiv-reiche Sprache wird dem Genre des Jugendromans gerecht. Dennoch findet auch der erwachsene Leser einen Zugang zum Roman.

Insgesamt schreibt Rabinowich einen sensiblen Jugendroman, der die Lage eines Flüchtlingsmädchens authentisch und gefühlsgeladen erzählt. Ein Grund dafür könnte ihre Tätigkeit als Simultandolmetscherin in der Psychotherapie mit Flüchtlingen zwischen 2006 und 2011 sein. Die Nähe zu ihrer Protagonistin ist jedenfalls unverkennbar. Die Autorin schreibt über komplexe Themen, ohne dabei an sprachlogischer Präzision zu verlieren oder den jungen Leser zu überfordern. Das allegorische Stilmittel der Parallelwelt lässt den Leser ganz nah an die Gefühle und Gedanken der Figur heran. Somit beweist Rabinowich – wie bereits mit ihrem Debütroman Spaltkopf (2008), der den Rauriser Literaturpreis erhalten hat – auch in ihrem ersten Jugendroman, dass sie berechtigterweise zu den wichtigen zeitgenössischen Autorinnen zählt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Julya Rabinowich: Dazwischen: Ich.
Carl Hanser Verlag, München 2016.
255 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783446253063

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