Tiere des Hauses, des Waldes, des Himmels

Ein von Judith Klinger und Andreas Kraß herausgegebener Band beleuchtet die Bedeutung der Tiere in der Literatur des Mittelalters

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einer Zeit der rasch voranschreitenden Urbanisierung, schreibt der Verhaltensforscher, Biologe und Autor Kurt Kotrschal, haben viele Menschen den Kontakt zum Tier fast vollständig verloren. Gleichzeitig zeige das hartnäckige Festhalten der Stadtmenschen an Haustieren, dass auch der moderne Zivilisationsmensch einen Bezug zu Tieren und Natur dringend brauche. Nach Kotrschal sind Menschen ohne andere Tiere weder erklärbar noch lebensfähig.

Auch an der mittelalterlichen Kultur haben Tiere auf vielfältige Weise Anteil. Sie begleiten das Alltagsleben durch alle Jahreszeiten und an nahezu allen Orten.

Es ist ein reiches Panorama, das das im Böhlau Verlag erschienene, von Judith Klinger und Andreas Kraß herausgegebene Buch entfaltet: In dreizehn Beiträgen setzen sich die Autoren mit Tieren als Begleiter des Menschen in der Literatur des Mittelalters auseinander, lassen Pferd, Katze, Hund und Esel, Eber, Fuchs, Wolf, Adler und Falke in den Blick kommen und reflektieren zudem Tiere in Namen. Dabei geraten auch die Lebensräume der Tiere in den Blick, sodass der Band außerdem als eine Auseinandersetzung mit der symbolischen Konstruktion von Räumen in der mittelalterlichen Literatur gelesen werden kann.

Das Verhältnis von Mensch und Tier ist ein überaus spannungsreiches: Von der agrarischen oder militärischen Nutzung bis zur Integration geschätzter Spiel- oder Jagdgefährten in den Haushalt reicht die Tierhaltung, bemerken die Herausgeber. In engster Nachbarschaft teilen sich Mensch und Tier Lebensraum und Lebensgrundlagen. Die Fülle tierischer Erzeugnisse sichert dem Menschen Ernährung und Überleben. Zur Präsenz der Tiere gehört nicht zuletzt „eine Vielfalt der Geräusche, Gerüche und Berührungen, die die Alltagswelt durchdringen“.

Es existiert eine reiche Palette visueller und textueller Darstellungen von Tieren beispielsweise in bebilderten Handschriften. Die Vielgestaltigkeit dieser Bilderwelten, bemerken Klinger/Kraß, belege, wie intensiv Tiere die Imagination angeregt und bevölkert hätten.

Wenn in der Literatur des Mittelalters von Tieren die Rede sei, folge sie älteren Überlieferungen. Drei Traditionen ließen sich hierbei besonders hervorheben: die biblische, die von der Erschaffung der Tiere handelt, die naturkundliche, die antikes Wissen von Tieren versammelt, und schließlich die magische, die in Zauber- und Segenssprüchen bezeugt ist. In all diesen Fällen handele es sich um vorchristliche Traditionen, die nachträglich christlich überformt wurden. Die Tiere sollen dem Menschen als Hilfe dienen. Sie leisten ihm Gesellschaft, damit er nicht alleine sei. Die Herrschaft des Menschen über die Tiere äußert sich im Privileg, den Tieren Namen zu geben.

Das Aufeinanderbezogensein von Mensch und Tier zeigt sich auf verschiedenen, literarisch wie kulturell bedeutsamen Ebenen: Auf der wörtlichen Ebene, bemerken Klinger/Kraß, stelle sich die Frage, wie sich das Tier zum Menschen verhalte. Auf der bildlichen Ebene gehe es darum, welche menschlichen und göttlichen Eigenschaften den Tieren zugesprochen werden. Und genau hier wird es spannend: Wo verlaufen die Grenzen zwischen Tier und Mensch, wo und welcher Art werden diese Grenzen gezogen, durchlässig oder überschritten?

Elementar für die zunächst einmal vorausgesetzte Differenz von Mensch und Tier, konstatieren die Herausgeber, seien Kriterien, die der „Gegenüberstellung von ordnungsstiftender, hierarchisch strukturierter Kultur und wild wuchernder Natur entspringen“. Bekanntermaßen wird der Mensch seit der Antike aufgrund seiner sprachlichen, politischen und technischen Fähigkeiten wie aufgrund seiner Erkenntnis- und Verständnismöglichkeiten vom Tier unterschieden. Der Mensch ist Namens- und Zeichengeber, das nicht festgestellte Tier, das Kultur schaffende Wesen, mit Vernunft und Reflexion begabt, den Sinn seiner Existenz in Frage stellend: das Wesen, das sich in die Zukunft hinein entwirft, das Wesen der Möglichkeiten und der Individuation.

Die Textproduktion hat Anteil an der Vielzahl gesellschaftlicher Diskurse, die an den genannten Grenzverläufen mitarbeiten. Eine fundamentale Asymmetrie bleibe dabei erhalten, stellen die Herausgeber fest: Denn Tiere seien Fremde ohne eigene Stimme, eingesponnen in ein dichtes Netz kultureller Bedeutungen und dafür in Anspruch genommen, „jedweder Anthropologie Horizont und Fundament zu liefern“. Als Repräsentanten von Grenzverläufen zwischen Natur und Kultur sind Tiere unentbehrlich für die Bestimmung des Menschlichen.

Die Beweglichkeit oder Durchlässigkeit der Mensch-Tier-Differenz im mittelalterlichen Weltbild kann der Band allein schlaglichtartig beleuchten. Weltkarten und Enzyklopädien entfalten ein breites Spektrum des Lebendigen, das neben Menschen und Tieren auch Mischwesen enthält. Tiere können im Innersten menschlicher Identität auftauchen oder die äußere Gestalt des Menschen verwandeln. Sie treten als Träger von Herrschaftssymboliken auf, als Gegenstand theologischer Auslegung und Magie, als Vermittler von Wundern wie als Initiatoren überraschender Wendungen, wo menschliche Ordnungen versagen. Je intensiver und vollständiger sich menschliche Identität im Zeichenfeld des Animalischen spiegelt, desto weniger ist vorab ausgemacht, wo die jeweils entscheidenden Grenzen verlaufen. Tiere regen Erzählprozesse an: „von Identifikationspotentialen bis hin zu rigider Grenzziehung, von weitreichender Anverwandlung bis zu metaphorischer Bändigung“. Dazu gehören nach Klinger/Kraß auch lang anhaltende Antagonismen und Austauschprozesse mit dem „Fremden und Wilden“, die sich in einer Ambivalenz von Annäherung versus Distanzierung vollziehen. Ohne das Spektrum auch nur ansatzweise ausschöpfen zu können, richtet sich das Augenmerk der Publikation auf jene Tierarten, die als Nutz-, Haus- und Jagdtiere oder auch als Konkurrenten besonders präsent sind und – neben der mittelalterlichen Lebenswelt – Kunst und Literatur bereichern.

Dem informativen Vorwort schließt sich ein Beitrag zum Streitross Alexanders des Großen, Bucephalus, als „Alter Ego“ des makedonischen Herrschers an. Lieselotte E. Saurma-Jeltsch verweist in ihrem Text auf Wunderpferde mit mythischer Kraft, Ausdauer und absoluter Loyalität, die zu mächtigen und berühmten Männern gehörten – man denke an Napoleon und seine legendären arabischen Schimmel, an Saladin, Attila und Dschinghis Khan. Alexanders Verbindung zu seinem Lieblingspferd Bucephalus könne als Schicksalsgemeinschaft, als eine Gemeinschaft zweier gleichartiger Wesenheiten verstanden werden. Diese Beziehung trage in ihren diversen Überlieferungszweigen durchweg Züge des Unerklärlichen, Wundersamen, manchmal auch paradox Erscheinenden. Schicksalhaft verbunden seien sie nicht nur in gleichartigem Erleben, sondern durch Bestimmung und die gegenseitige Bedingtheit ihrer Lebensläufe: „Geburt und Tod beider Einheiten gestalten sich symmetrisch. Die Verbindung zwischen den beiden Akteuren ist eine der Wesenheit: … Es handelt sich um eine Simultanexistenz“. Alexander und Bucephalus sollen am selben Tag und am gleichen Ort, am Hofe Philipps, geboren worden sein und folglich unter denselben Sternen stehen.

Auch Bernd Bastert setzt sich in seinem Beitrag mit einem Pferd auseinander: mit Bayard, dem Wunderpferd aus den Haymonskindern. Er verweist auf die privilegierte Verbindung von (Ritter-)Adel und Pferd, wie sie sich etwa in Siegeln, Buchmalerei, Plastik und eben literarischen Entwürfen manifestiere. Pferde seien, meist in Verbindung mit ihrem Reiter, in der weltlichen mittelalterlichen Literatur allgegenwärtig – bereits einige der ältesten überhaupt bekannten schriftlichen Zeugnisse in deutscher Sprache, der zweite der althochdeutschen Merseburger Zaubersprüche und der sogenannte Trierer Pferdesegen sowie der altsächsische Wiener Pferdesegen thematisierten die große Bedeutung und hohe Wertschätzung von Pferden. Bayard, das mächtige, mit übernatürlichen Fähigkeiten begabte Pferd könne mit Fug und Recht als wichtiger Akteur betrachtet werden – der starke Hengst agiere immer als Begleiter und Helfer des jeweiligen Helden. Sein Verhalten zeige deutlich an, auf welcher Figur der narrative Fokus liege. Bayard kommt nach Bastert sowohl eine herausgehobene erzählerische wie auch kulturhistorische Bedeutung zu, die ihm seinen Platz im kulturellen Gedächtnis der Neuzeit sichere.

Judith Klinger diskutiert den Wolf als „Vernichter, Wächter, Schattenbruder“ und wirft hierbei einen intensiven Blick auf die Zusammenhänge von Wolfspräsenz, Stimme bzw. Stimm-Verlust und Vergessen. In mittelalterlichen Kulturen sei der Wolf als gefährliches Raubtier bekannt. Als Sprach- und Stimmräuber bringe er eine fundamentale Opposition von Wildnis und Zivilisation zur Anschauung. Als räuberisches Tier, wie ihn die mittelalterliche Naturkunde beschreibe, stellt er sich menschlicher Kulturordnung radikal entgegen: Der bannende Wolfsblick zeige die Macht der Wildnis an, der der Mensch jenseits seiner umhegten Siedlungen verfallen kann. Wer die Grenze zur Wildnis überschreitet, riskiert zu verlieren, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Im Wolf zeige sich solcherart dem Menschen die eigene Nachtseite, „seine nur mühsam gebändigte Wildheit und Aggressivität“. Die Figur des Werwolfs beispielsweise verdichte ein ganzes Spektrum der Transformationen, das von metaphorischer Verähnlichung über die Annahme von Wolfsattributen bis zur Verwandlung in den Wolf reiche. Begegnungen und Austauschbeziehungen zwischen Mensch und Wolf spielen sich nach Klinger in der mittelalterlichen Literatur auf der Grenze von Wildnis und Zivilisation, zügelloser Gewalt und geordneter Friedlichkeit ab. Sie können zu wundersamen Rettungen führen oder in die Vernichtung der sozialen Existenz münden. Der Wolf sei solchermaßen als „Figur an der Schwelle“ zu sehen, als „Schattenbruder“. Klinger weist in ihrem Beitrag auch auf die außerordentliche Beliebtheit von Wolfsnamen im europäischen Mittelalter hin. Sich den Mut und die Stärke eines Wolfs zuzuschreiben, liege in einer kriegerisch geprägten Kultur durchaus nahe, so die Autorin.

Mit der Funktion von Tiernamen beschäftigt sich ausführlich Wolfgang Haubrichs. Die Namensysteme der Welt, die Art und Weise, wie Namen gebildet werden und die Motive, die zu Namensgebungen führen, seien so vielfältig wie die Kulturen und Sprachen der Welt, bemerkt Haubrichs zu Beginn seines Beitrags. Sie gewönnen noch an Vielfalt, wenn man sie in die Tiefen der Zeit zurückverfolge. Fast allen Namen sei gemeinsam, dass sie bestimmte Bedeutungskomponenten enthielten, oft sogar kodiert beziehungsweise symbolisch verschlüsselt. In seinem Beitrag beleuchtet Haubrichs ausführlich das lateinisch-romanische Namensystem und seine Entwicklung zur Individualisierung. Auch wirft er einen Blick auf das germanische Namensystem, seine Formenbildung und Semantik. Durch ihre Quantität und ihre Verbreitung über alle germanischen Sprachzweige herausragende, in Personennamen verwendete Tierlexeme sind „wulfa“ (Wolf), „beran/bernu“ (Bär) sowie „ebura“ (Eber) und „aran / arnu“ (Adler). Der Mensch werde über seinen Namen als Tier wahrgenommen. Tierlexeme enthaltende Namen seien Zeugen einer symbolischen Kommunikation der Eliten einer kriegerischen Gesellschaft, die sich mittels Namengebung über die wünschenswerten Eigenschaften eines Kriegers, Helden oder Adligen verständigten. Namen leisten Kommunikation – zum einen durch ihre identitäre Semantik, zum anderen durch ihre Wiederholung und Variation innerhalb der Generationenfolge, die das identitäre Konzept in Familie und Verwandtschaftsverband hineintragen.

Es ist ein facettenreicher Überblick, den der Band bietet. Ein wesentlicher Fokus liegt auf der Metaphorisierung von Tieren in der Literatur, die einer Annäherung von Tier und Mensch Vorschub leistet. Ronny F. Schulz zitiert in seinem Beitrag zum Falken als Begleiter des Menschen im Minnesang Joyce E. Salisburys Beobachtung: „Metaphorical animals live in the borders of human imagination, where any particular actual animal is almost irrelevant compared to its symbolic meaning“.

Die Faszination durch das (symbolische) Tier für die literarische Imagination zeigt sich bis heute, man denke aktuell an Suters „Elefant“, an Lewitscharoffs „Blumenberg“ (von Andreas Kraß in seinem den Blick über die mittelalterliche Literatur hinaus ausweitenden Textbeitrag „Der Löwe“ besprochen) oder Martels „Schiffbruch mit Tiger“. Die Zeitschrift für Literatur „entwürfe“ plant ein Themenheft „Tiere“, an der Johannes Gutenberg Universität Mainz ist die Projektgruppe „animaliter“ beheimatet, die ein interdisziplinäres Lexikon „Tiere in der Literatur des Mittelalters“ ediert. An der Universität Kassel schließlich hat sich der vom Land Hessen über das LOEWE-Programm geförderte interdisziplinäre Forschungsschwerpunkt „Tier – Mensch – Gesellschaft: Ansätze einer interdisziplinären Tierforschung“ unter der Leitung von Claudia Brinker-von der Heyde und Claudia Schulz verankert, der unter dem Leitbegriff „Relationalität“ nach Mensch-Tier-Konstellationen in Geschichte und Gesellschaft fragt und dabei insbesondere aktuelle tierethische Paradigmen in den Blick nimmt. In der Öffentlichkeit, heißt es in der Projektbeschreibung, würden nicht nur zunehmend ethisch motivierte Fragen gestellt, vielmehr werde im Kontext der neueren Tierrechts-Diskussion auch nach Tieren als Subjekten gefragt. Die Debatte über Tiere ist auch eine Debatte über das Selbstverständnis des Menschen und die Existenzbedingungen der Gesellschaft.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Judith Klinger / Andreas Kraß (Hg.): Tiere. Begleiter des Menschen in der Literatur des Mittelalters.
Böhlau Verlag, Köln 2016.
320 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783412505820

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