Nach Zagreb, um ein Auge zu verspeisen

In „Zwanzig Lewa oder tot“ erzählt Karl-Markus Gauß von vier Reisen in europäische Randgebiete

Von Johannes GroschupfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Groschupf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als 1986 Karl Schlögels Die Mitte liegt ostwärts erschien, also lange vor dem Fall der Mauer, begann eine Zeit des Reisens, in der  Mitteleuropa sich wiederentdeckte. Plötzlich war es möglich, nicht nur nach Prag zu fahren, sondern auch nach Czernowitz, Lemberg, Krakau oder Olmütz. Was der Eiserne Vorhang jahrzehntelang streng geschieden hatte, gehörte doch zusammen – oder hatte zumindest gemeinsame geschichtliche und kulturelle Wurzeln.

Martin Pollack etwa reiste Nach Galizien (1984) und erzählte von „Chassiden, Huzulen, Polen und Ruthenern“, den Bewohnern der verschwundenen Welt Ostgaliziens und der Bukowina. Karl Schlögel erwanderte die Städte der Sowjetunion und die verschlafenen Metropolen eines wiedererwachenden Mitteleuropa. Christoph Ransmayr, Claudio Magris, Richard Swartz machten sich auf und berichteten aus den „blinden Winkeln“ Mitteleuropas. Auch Hans Magnus Enzensbergers Ach, Europa! (1987), damals ein überraschender Bestseller, gehört in diese Reihe.

Sie alle belebten mit ihren Reise-Essays eine literarische Form, die ebenfalls fast vergessen schien: das literarische Reisebuch, den persönlichen Forschungsbericht, die erzählende Reisereportage. Im angelsächsischen Raum seit jeher ein geschätztes und meisterhaft bespieltes Genre, gab es in der deutschsprachigen Literatur nur eine kurze Blüte mit Joseph Roths Juden auf Wanderschaft (1927) und Alfred Döblins Reise in Polen (1926).

Seit drei Jahrzehnten ist der Essayist, Kritiker und Herausgeber Karl-Markus Gauß ein Meister des europäischen Reisens und Erzählens. Er erforscht die Randlagen Europas und ihre fast vergessenen Völkerschaften, die Sepharden von Sarajewo, die Sorben der Lausitz, die Aromunen, die Zimbern und Karaimen. Er besuchte die „Hundeesser von Svinia“ (2004) in ihren Gettos der Ostslowakei und beschrieb die Verachtung und Verdrängung der Sinti und Roma im neu erwachenden Nationalismus in Mitteleuropa.

In seinem neuen Buch Zwanzig Lewa oder tot erzählt Gauß von vier Reisen: in die Republik Moldau, nach Bulgarien, nach Zagreb und ins Land seiner Mutter, die Batschka, also die Landschaft der Donauschwaben. In seinen Reportagen lässt er die Leser teilhaben an diesen Reisen, den Irrungen und Wirrungen, den Erinnerungen an frühere Besuche und nachgeholte Lektüren, er berichtet von gescheiterten Anläufen und geglückten Momenten. Gauß reist vorsichtig und aufmerksam, betrachtet die Schaffnerinnen in der moldauischen Straßenbahn und horcht auf die Stille auf dem Großmarkt von Chisinau. Er ist nicht auf touristische Sehenswürdigkeiten oder pittoreske Schönheit aus, sondern er kultiviert, was Reisende im östlichen Europa dringend benötigen: „ein Gefühl für die Schönheit hässlicher Städte“.

Seine Kunst, sich eine Stadt „gewissenhaft zu ergehen“, erfordert nicht nur den Besuch der Plätze und Kirchen (natürlich ist er auch ein „alter Friedhofsgänger“), sondern vor allem das Gespräch mit dem Rentner auf der Parkbank, dem Taxifahrer und dem Bettler auf der Straße. Der Titel des Buches zitiert die eigentümliche Alternative, vor die ein bulgarischer Bettler den Besucher stellt, indem er sein bläulich verfärbtes Bein präsentiert: „Zwanzig Lewa oder tot!“ Gauß erzählt die Anekdote lakonisch: „Es war ein Überfall, doch der Kranke drohte nicht mit unserem, sondern mit seinem Tod. Er nahm das Geld, ohne sich zu bedanken, winkte müde mit dem Geldschein in der leicht erhobenen Hand und sagte, als er sich entfernte: Apteka. Apotheke.“

Gauß ist ein guter Zuhörer, weil er sich für die Orte und die Menschen, die er besucht, wirklich interessiert. Er kommt vorbereitet. Er hat ein Auge für das sprechende Detail, ein waches Gespür für erste Anzeichen einer Zeitenwende. In Zagreb etwa betrachtet er kichernde Gymnastinnen vor dem Schaufenster eines Sanitärgeschäfts, das sein Angebot an Kloschlüsseln und Armaturen mit dem Konterfei des Staatspräsidenten aufzuwerten hofft. „Die Mädchen, in der Blüte ihrer Frechheit, und das nationale Pathos, sie passten nicht zusammen, und es war augenscheinlich, dass dieser Präsident […] seinen Nimbus bereits einzubüßen begonnen hatte.“

Den gewieften Reisenden unter uns gibt er zudem eine vernünftige Mahnung mit auf den Weg:

Es ist verlockend, sich in fremden Städten auf die eigene Spur früherer Besuche zu setzen. Man ist verführt, den Wegen von einst nachzuspüren, dem Anderen, der man war, und die Stadt als Bühne zu nehmen, auf der man sich selbst wiederentdecken könnte. Aber auch die Stadt ist anders geworden, und man muss sich davor hüten, alles, was neu ist an ihr, nur als Störung wahrzunehmen, die den Fluss der Erinnerungen behindert.

Weil er ein gewissenhafter Reisender ist, ist Gauß auch ein guter Erzähler. Er hat in der Fremde etwas erfahren, von dem sich zu sprechen lohnt. Schon der Auftakt seiner Reiseberichte ist entsprechend unwiderstehlich: „Das erste Mal fuhr ich nach Zagreb, um eine Gruppe trauriger Gelehrter zu besuchen und ein Auge zu verspeisen.“

Sein Erzählfluss nimmt sich die Zeit, die nötig ist, er mäandert gelegentlich, schweift ab, greift vor, kehrt zurück. Es ist eine Freude, an seiner Seite zu reisen und durch seine Augen, seine Kenntnisse, seine empfindliche Wahrnehmung den europäischen Osten nochmals zu entdecken.

Auch fast 30 Jahre nach dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs ist der europäische Osten immer noch eine entlegene Gegend. Und es braucht einen Wanderer zwischen den beiden Europa, die immer noch wenig voneinander wissen, es braucht einen Zuhörer und Erzähler wie Karl-Markus Gauß, der das gemeinsame Gespräch in Gang hält und immer wieder von Neuem belebt.

Titelbild

Karl-Markus Gauß: Zwanzig Lewa oder tot. Vier Reisen.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2017.
208 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783552058231

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