Als das (Er-)Fahren noch geholfen hat

Ein interessanter Sammelband bringt Reisen und Nicht-Wissen in einen oft kontrafaktischen, jedoch mehrheitlich ‚diesseits‘ des Mittelalters angesiedelten Kontext

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Während es gegenwärtig kaum noch einer Rede wert scheint, per Flugzeug die halbe Welt zu umrunden, um in einem mehr oder minder exotischen Rahmen die Urlaubszeit zu verbringen, war das in früheren Epochen definitiv nicht so. Und genau hier setzt der 18. Band der ‚Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften an. „Versteckt – Verirrt – Verschollen“, herausgegeben von Irina Gradinari, Dorit Müller und Johannes Pause, heftet sich an die Fersen von Reisenden auf verschiedensten Entdeckungsfahrten.

Dabei werden verschiedene geographische wie zeitliche Ebenen zum Thema gemacht und einem, durch hohe Mobilität zumindest teilweise verwöhnten Publikum, die Zeit vor der permanenten Reisebereitschaft und Meilenjägerei nahe gebracht. Dass weite Entfernungen bereits in früheren Epochen und ohne die Hilfsmittel der (Post-)Moderne zurückgelegt werden konnten, dafür legen die verschiedenen Wanderungsbewegungen seit prähistorischen Zeiten ein ‚beredtes‘ Zeugnis ab. Dies gilt dann selbstverständlich auch für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit.

Und hier erhebt sich das Problem einer Rezension für eine mittelalterliche Plattform: In vorliegendem Sammelband kommt das Mittelalter eigentlich nicht vor. Als ich den Titel des Buches las, dachte ich sofort an Reiseherrschertum, frühe Entdeckungsfahrten wie etwa die der Wikinger, Marco Polo und seine Gefährten, aber auch an literarische Reisen wie den ‚Herzog Ernst‘ bis hin zur Gralssuche. Leider findet sich das alles nicht oder doch zumindest nicht so, wie erwartet. Dass ich es trotzdem rezensiere, liegt daran, dass mir bestimmte Parameter, nach denen Reisen und Reisesituationen beschrieben werden, aus mittelalterlichen Kontexten durchaus bekannt vorkommen.

In diesen – wirklich im allerweitesten Sinne gesehen – ‚indirekt-mediävistischen‘ Kontext passt sich die Einleitung von Johannes Pause (‚Reisen und Nichtwissen‘) ein, in der zum einen die Beiträge des vorliegenden Bandes vorgestellt, aber auch erste allgemeine Parameter diskutiert werden. Hier lassen sich auf allgemeiner komparatistischer Ebene Vergleiche mit mittelalterlichen Texten generieren, allerdings liegt hier die ‚Bringlast‘ eindeutig auf seiten der am Mittelalter Interessierten.

Bereits der erste Block, ‚Entdecker‘ ist eindeutig neuzeitlastig. Zwar thematisiert Peter Bexte in seinem Beitrag ‚Die Bilderreisen der Nova Reperta. Über die allmähliche Verfertigung des Wissens beim Nachbilden‘ eine im 16. Jahrhundert in Antwerpen gedruckte Kupferstich-Mappe; diese frühneuzeitliche Werk scheint durchaus noch in die Randbereiche der eigentlichen Mediävistik zu gehören. Die ‚Nova Repertia‘ ist demnach eine interessante Mischung aus allgemeiner wie konkreter Wissensvermittlung. Die in den Beitrag aufgenommenen Abbildungen etwa zeigen neben reiner Allegorisierung von Wissenserwerb auch insofern Konkretes, als – wenngleich in gleichsam mythologischer Personifikation – auch neue geographische Erkenntnisse, so etwa ‚Amerika‘ wiedergegeben wurden. Oder, wie Bexte formuliert, „der Zusammenhang von Reisen und Wissen hat in einem bildlichen Motiv seine bündigste Darstellung gefunden, und zwar in der Verknüpfung von Schiff und Tisch“. Dies vermag in der Tat zu überraschen, steht ersteres doch für das vormoderne Fernreisemittel par excellence, während Tische im Allgemeinen mit Immobilität, also festem Ortsverbleib assoziiert werden.

Dass und wie beides zusammenpasst, wird an den von Peter Bexte gewählten Beispieldarstellungen deutlich gemacht. Der Tisch befindet sich zunächst im ‚Studiolo‘, also dort, wo der seriöse Gelehrte seit der Antike seine Forschungen betrieb. Gelehrtes Wissen wurde – und dieses Axiom hat trotz aller praktischer Gegentendenzen durchaus bis weit in die Neuzeit hinein seinen Wert besessen – durch Nachdenken erweitert, aber auch durch Informationen, die Andere in das ‚Studiolo‘ brachten. Wenn der ‚Tisch‘ als Allegorie des Wissenserwerbs dann in den Folgedarstellungen an prominenter Stelle auf Schiffen auftaucht oder gar, als ‚Abschluss‘ gewissermaßen, an den ‚Ufern des Nicht-Wissens‘, also der konkreten ‚Terra incognita‘ angelandet ist, hat sich der Wissenssuchende der Welt weit mehr geöffnet als das für den Stubengelehrten der Fall sein dürfte. Dass in manch literarischem Text des Mittelalters ebenso exotische Reisen von und mit dafür eigentlich nicht vorgesehenen Gegenständen stattfinden, ist zunächst einmal eine phänotypische Ähnlichkeit, angesichts des Umstandes, dass die ‚Nova Repertia‘ ein Produkt frühneuzeitlicher Druckkunst ist, wohl aber doch ein wenig mehr als nur das.

Da mit einer vertiefenden Besprechung der anderen Beiträge des Bandes der mittelalterliche Bezugsrahmen endgültig gesprengt würde, beschränke ich mich auf einige Kernthemen. Wenn Sebastian Kaufmann Südseereisen in den Blick nimmt, ließe sich ein Abgleich zwischen den mittelalterlichen Vorstellungen von Fremdheit und den ‚aufgeklärten‘ Positionen des 18. Jahrhunderts ziehen. Dies gilt dann nur noch sehr weit gefasst, in den Beiträgen Wolfgang Strucks zu ‚Karten-Legenden‘deutscher Afrikareisender im 19. Jahrhundert oder Florian Krobbs‘ ‚Begegnungsszenen in der deutschen Afrikaliteratur des neunzehnten Jahrhunderts‘. AuchDorit Müllers ‚Begegnungen mit der Leere am Pol‘ oder ‚Filmische Schätze und re-importiertes Heimatwissen‘ von Rolf Parr können an das Mittelalter adaptiert werden. Gleichwohl gibt es Parallelen in der Anlage von Erzählstrukturen.

Dies gilt definitiv für den zweiten Hauptteil, die ‚Vagabunden‘, in denen statt dem Löwenritter Iwein, Parzival oder anderen Gralssuchenden ausschließlich moderne literarische Texte und Gegenwartsfilme in den Blick genommen werden. Ich muss zugeben, dass dieser Abschnitt mir letztlich auch am wenigsten gefallen hat. Das ist sicherlich meiner ‚mediävistischen Brille‘ geschuldet und soll keineswegs Qualität und Leistung der Beiträgerinnen und Beiträger schmälern.

Im Kontext des dritten Abschnitts, der ‚Spurensucher‘ führt Susan Gujers Beitrag zu einem „Reisebericht im juristischen Gewand“ wieder in die Frühe Neuzeit und zwar in einen weitgehend aus dem allgemeinen Bewusstsein beziehungsweise Gedächtnis entschwundenen Zeitraum südamerikanischer Kolonialgeschichte. ‚Venezuelas deutsche Epoche‘ ist in der Tat ein spannendes Feld, und den Zugang, den Grujer über den ‚Mord‘ – hier führt die Autorin in einer juristischen Fußnote die Feinheiten des Unterschieds zwischen ‚Mord‘ und ‚Totschlag‘ aus, wobei wohl kaum mit einem Revisionsverfahren zu rechnen gewesen wäre – an Philipp von Hutten und Johannes Welser im Jahre 1546. Die spannende Schilderung der Umstände in den Prozessakten, die sich, soweit an den Textauszügen erkennbar, tatsächlich an vielen Stellen wie eine Abenteuerfahrt lesen, lenkt den Blick auf jene Zeit, die in vieler Hinsicht durchaus noch mittelalterlich geprägt, eben auch schon Aspekte der frühen (Vor-)Moderne aufweist.

Wenn Reto Rössler seinem Beitrag ‚Weltgebäude/Mögliche Welt‘ die zum Teil authentische (oder womöglich authentisierende?) Untertitelung ‚Gedancken-Reisen der Aufklärung‘ gibt, möchte ich den Anfang des Beitrags um das Referenz-Jahr 1600 und die kopernikanische Wende aus vielleicht zu naheliegenden Gründen doch noch einer weit ausgedehnten mittelalterlich-frühneuzeitliche Welt zuordnen. Im Verlauf des Textes wird es dann freilich wirklich ‚aufgeklärt‘, bleibt gleichwohl aber selbstverständlich weiterhin lesenswert. Die folgenden Beiträge zu Herder und jüngeren PortagonistInnen sollen hier nicht explizit Erwähnung finden. Dies gilt auch für den einzigen Beitrag zum knappen Abschlusspart ‚Ankunft‘, in dem Burghardt Schmidt eine  ‚Antwort auf Clifford Geertz‘ Reiseagnostizismus‘ liefert.

Was lässt sich also über eine zum einen ‚enttäuschende‘, zum anderen jedoch auch positive Überraschung festhalten? Der Band ist –der lediglich bedingte Mittelalterbezug hin oder her – wirklich empfehlenswert. Vorliegendes Buch ist definitiv eine Bereicherung auf dem Feld der Thematisierung von Reiseliteraturen. Zahlreiche Abbildungen, die fast jeden der Beiträge auflockern, erhöhen überdies das Lesevergnügen – allerdings wäre bei diesem Anschaffungspreis vielleicht doch die eine oder andere farbliche Darstellung machbar gewesen, denke ich. Allerdings ist, und das bedeutet im Kontext einer mittelalterlich ausgerichteten Plattform selbstverständlich einen nicht ganz geringen Einwand, der mediävistisch relevante Anteil bestenfalls bedingt erkennbar. Es lässt sich allerdings, und das macht seine auch mediävistische ‚Verwertbarkeit‘ möglich, als komparatistische Ergänzung oder Kontrafaktur realer wie fiktiver mittelalterlicher Reiseberichte lesen und bietet somit in einigen, aber nicht allen Beiträgen, einen verdichteten und damit leicht verfügbaren Vergleichskorpus entsprechender Untersuchungen und Quellenauszüge an. Überdies: Der weitere Blick kann nie schaden. Nur der Preis für eine ‚Peripheranschaffung‘ dürfte hier wirklich abschrecken. Allerdings gibt es ja noch Bibliotheken, so dass auch mediävistisch Interessierte ihren Zugang zu diesem Buch finden werden. Und womöglich wird durch die Auseinandersetzung mit „Versteckt – Verirrt – Verschollen. Reisen und Nicht-Wissen“ ja einen Band zu ‚mittelalterlicher Reiseliteratur‘ an, was das Schlechteste sicherlich nicht wäre.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Irina Gradinari / Dorit Müller / Johannes Pause (Hg.): Versteckt – Verirrt – Verschollen. Reisen und Nicht-wissen.
Reichert Verlag, Wiesbaden 2015.
438 Seiten, 128,00 EUR.
ISBN-13: 9783954901258

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