Frank Castorfs „Faust“

Ein Versuch über Genauigkeit

Von Thomas MeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Meyer

Christopher Schmidt (1964-2017) in memoriam

 I. München

1989/90. Mit Frank Castorfs „Miss Sara Sampson“ kommt ein neuer Ton nach München. Im „Prinzregententheater“ schlucken sie zwar vorerst noch an den „Räubern“ von András Fricsay Kali Son mit dem coolen Rufus Beck, der als „Franz Moor“ den Golfschläger schwingt und eine neue Form des Gesinnungsterroristen direkt ins Publikum mittels einer unwiderstehlichen Charmeoffensive bugsiert. Doch da steht schon die nächste Attacke auf die bürgerliche Wohlbefindlichkeit an. Castorf inszeniert Lessing und nimmt das Stück auseinander, um es wieder neu zusammenzusetzen. Er bricht es auf, weil die Eigenlogik des Stückes einer Vorstellung folgt, die selbst an ihre Zeit gebunden war. Dort, wo wohlgesetzte Formen deklamiert werden, ohne noch der Deklamation mehr als das bloße Nachsprechenkönnen abgewinnen zu wollen, muss die Eigenlogik der Gegenwart diesem falschen Traditionsverständnis entgegengestellt werden.

In der „Sampson“ weht bereits ein Wendewind, der in die Wärmstuben den kalten Wind der Geschichte bläst. Das war zu viel für nicht wenige: War nicht geradeso der Baumbauer mit seinen Geschmacklosigkeiten abgewickelt worden? Geht das jetzt weiter so? Und der neue „Ring“? Ein Raumschiff! München wirkte mitsamt den Kritikern verwirrt – to say the least. Castorf aber durfte wiederkommen. Mit einem zweiten Schlag, zurück aus Berlin, wo er an der Volksbühne die „Räuber“ als Improvisationstheater mit Direktanbindung an die Straßenwirklichkeit spielen ließ – statt Revolutionshoffnung, Mattigkeit.

Der „Torquato Tasso“ kam im „Residenztheater“ zur Welt. Die Stimmung war äußerst gereizt, denn an den frechen Kerl von „drüben“ erinnerte sich die Rheumaliga mit Abo noch bestens. Keine der von mir besuchten Aufführungen ging folglich ohne Störungen über die Bühne. Es gab stets heftige Reaktionen, lautes Dazwischenrufen, Türenknallen, einmal flogen Reißnägel auf die Bühne, als die Darstellerinnen im „Tasso“ zu der „Habanera“ mit nackten Füßen tanzten. Als die „Internationale“ angestimmt wurde, rief der Münchner Zwirn „Sie vergewaltigen die Schauspieler!“, nur um die Antwort von der Rampe zu erhalten „Also uns macht’s Spaß!“ Es gab auch brutalere Unterbrechungen, etwa als einer versuchte einer Darstellerin die Beine wegzuziehen. Das Münchner Publikum zeigte sich ganz so, wie es eigentlich schon lange nicht mehr war. Je länger die beiden Inszenierungen im Spielplan waren, desto ruhiger wurde es um sie.

Zurück zu Castorf. Nachdem nicht nur das sogenannte bürgerliche Feuilleton, Georg Hensel und Jürgen Busche gaben den Ton vor, sondern auch die allgemein „links“ verortete „taz“ bereits 1991 die Phrasendreschmaschine in Sachen Castorf angeworfen hatte, also nahezu alle professionellen Kritiker dem Publikum weißmachen wollten, statt Nachdenkenswertes anzubieten wären die Deutungen mit dem „Hammer“ „zertrümmerte“ Lächerlichkeiten eines „Wildgewordenen“ (das Vokabular bleibt über viele Jahre stabil, bis nach und nach eine neue Kritikergeneration übernimmt), erblickte ausgerechnet der zu dieser Zeit nie ohne einen Verweis auf Gründgens auskommende Joachim Kaiser in der „Süddeutschen“ schöne (weibliche) Momente in der „Sampson“. Er zog dann aber später, nach dem sich der „Tasso“ zu einer Art Kultinszenierung entwickelt hatte, die scharfe Notbremse: nicht in München, nicht mit mir, so der Tenor seiner Polemik. Immerhin, und das ehrt ihn noch heute, ging Kaiser aufs Ganze. Den Klassikerstatus verband er mit der problematischen Kategorie der Werktreue, in der die über die Zeiten ragende Substanz eines Stückes aufgehoben sein müsse. Castorf antwortete souverän mit Verweis auf seine Herkunft, sein Interesse an der „Triebstruktur“, verkoppelt mit einer Neuordnung der Motive, die ein Stück enthält, aber durch die jeweilige Zeitbedingtheit nicht zum Austrag bringt. Kurz: die in die Stücke eingewobenen gesellschaftlichen Zusammenhänge müssen nach außen gestülpt werden.

Leicht variiert wiederholten sich die beiden Positionen dann in „Theater heute“, ohne dass aus der an sich interessanten Konfrontation irgendjemand Kapital schlug. Erst 1995, mit der Verleihung des Kortner-Preises an Castorf, lieferte Ivan Nagel in seiner Laudatio die bis heute einzige Castorf angemessene Interpretation eines sich erst langsam findenden Inszenierungsstils. Nagel operiert u.a. mit der Kategorie der „Tat“, also einer Kategorie der Praxis, die für den Laudator weniger analytisch als hinweisend gemeint war. Wenn im „Faust“ des Jahres 2017 das Wort „Tat“ geradezu ausgestellt gesprochen wird, dann ruft auch einer „Ich habe zu verstehen versucht.“

Für die Saison 1992/93 war dann noch, wenn ich mich recht erinnere, Wedekinds „Musik“ in München angekündigt. Doch da war Castorf schon, nach einigen Erfolgen in Basel, Frankfurt und Hamburg, als (Mit-)Chef an der „Volksbühne“ angetreten.

II. „Nach Berlin!“

Wer über die dem Vernehmen nach letzte große Inszenierung Castorfs an der „Volksbühne“ schreibt, der muss die 25 Jahre seit dem Amtsantritt zumindest streifen. Die Castorfsche „Volksbühne“ hatte in den Folgejahren viele Häutungen erfahren. Doch was mit Bezug auf den „Faust“ wichtig ist, kann durchaus zusammengefasst werden.

1. Kein Stück ist autonom im Sinne einer spezifischen Form, Sprache und der Art und Weise, wie es die eigene Entstehungswirklichkeit verarbeitet.

2. Jede Äußerung auf der Bühne muss mehrfach geprüft werden und je nach Ergebnis der Prüfung muss der „Stoff“, also das Gesamt von Motiven, Personen, Aussagen, Vermittlung und Darstellung, anders gestaltet, also verändert werden.

3. Die Prüfung beginnt bei der Brechung der in den Stücken angelegten Abfolge, der immanenten Chronologie, der Frage nach der „Musikalität“, und damit letztlich bei jenen Bedingungen der Möglichkeit, mittels derer das „Stückes“ eine Geschichte erzählt. Es wäre unbedingt lohnenswert, Castorfs Dostojewski-Exerzitien mit seinem Zyklus der Shakespearschen Königsdramen zu vergleichen, um einen freieren Blick auf das Zustandekommen von, ja, Klassen- und Gewaltverhältnissen zu bekommen. Mir jedenfalls ist kein anderes geschichtsphilosophisches Projekt präsent, das in so umfänglicher Art die Condition humaine geprüft hätte. Hier wäre als Kontrast nur Luc Bondys intimes Selbstgespräch zu nennen.

III. „Faust“[1]

Castorfs „Faust“ ist die vom ersten Moment bis zum letzten Moment durchkomponierte Öffnung eines vermeintlichen Kosmos‘ hin auf eine mehrere Stufen – zeitlich und inhaltlich – umfassende Entdeckungsreise zu den Formationen, Entstellungen und Wiederaneignungen von Möglichkeiten menschlichen Sichverstehenkönnens. Der gesamte „Faust“ bildet einen Rahmen, der durch die Begrenzung den Blick auf das außerhalb ihm liegende erst freigibt. Castorf wählt dazu paradigmatische Momente der angedeuteten Geschichte. Émile Zolas „Nana“ ist eine der Stufen, Frantz Fanons „Les damnés de la terre“ (und weitere Schriften, die etwa in „Das kolonisierte Ding wird Mensch“ auf Deutsch zusammengefasst sind) eine andere, zudem das gewaltige Jetzt, das wir als „Gegenwart“, ganz im Sinne der klassischen „Anwesenheit“, denken lernen sollen. Diese drei Stufen einer inhaltlich-zeitlichen Entwicklung haben je bestimmte Aufschließungsfunktionen, die ich nur exemplarisch analysieren kann.

„Nana“ steht für die Dehumanisierung und jene Möglichkeiten, deren Ausschöpfung innerhalb der vorgegebenen Verhältnisse Freiräume schaffen könnten. In der berühmten „Krümmel“-Szene des Romans, die einst Max Brod zu einem Opernlibretto (1932; uraufgeführt 1958 in Dortmund) anregte, wird der wechselweise gespielte Charakter „Nana“ als zu jener Empfindsamkeit fähig dargestellt, die den durch die äußere Verrohung der gesellschaftlichen Verhältnisse zugerichteten Subjekten fehlen muss. Verkoppelt damit ist die Geschichte vom Aufstieg und Fall einer menschlichen Idee, nämlich der, dass das Ausnutzenkönnen von Trieben und Begehrlichkeiten zu einer Umkehrung der Verhältnisse führen könnte. Was Castorf hier in eine kleine Szene packt, ist in den anderen Teilen wiederum ausgefaltet – ja, kann erst aus einer solchen Perspektive als Leitgedanke verstanden werden: die unterschiedlichen Modi des Menschenmachen(könnens), sei es als Homunculus-Kreator, sei es als Deutung eines Charakters, der schon immer die (historische) Fortsetzung in sich trägt. Letzteres etwa dann, wenn aus dem „trocknen Schleicher“ Wagner im „Faust“ Richard Wagner wird. Es geht immer wieder – durch die Zeiten, in immer neuen Formen, die Stufen von Fortschritt und Rückfall einschließen – um das Eingreifenwollen des Menschen in die Idee des Menschen. Was da „Natur“ heißen könnte, wird durch die Kunstfigur des Anaxagoras symbolisiert, der gegen jedweden (platonischen) Ideenhimmel gestellt wird, mit dem er nichts gemein hat. Castorfs „Faust“ kommt ohne chorismos aus.[2]

So wie „Nana“ zugleich Ausgangs- wie Fluchtpunkt ist, ist es auch Frantz Fanon. Algerien steht hier im Mittelpunkt. Er ist insofern – und das ist gerechtfertigt – bei Castorf ein Bruder im Geiste Goethe, als beide die absolute Verfügung über die Geschichte scharf ablehnen: Goethe depotenziert, und Castorf folgt ihm hier Schritt auf Tritt, jede Form von „Größe“ (man erinnere sich an das Gespräch mit Eckermann am 10. Februar 1830: „Napoleon gibt uns ein Beispiel, wie es gefährlich es sei, sich ins Absolute zu erheben und alles der Ausführung einer Idee zu opfern“ – das kann als direkt gegen Hegels Trunkenheit angesichts der Kolonialisierung Algeriens gerichtet verstanden werden!). Die Depotenzierung ist aber nicht das Verkasperlen in Gewalt- und Sexexzessen, wie es, ganz handelsüblich, Martin Kusej in seinem Münchner „Faust“ gemacht hat, und schon deshalb keine Deutung ist, sondern bloße Applizierung von Abwehreffekten. Fanon steht in der Inszenierung bei Castorf für die Möglichkeit von Widerständen gegen eine „Lage“ oder „Situation“ (der Begriff „Partisan“ wird zwei Mal in einem geschickt platzierten Zitat erwähnt), die nicht deshalb nicht auf die Jetztzeit übertragbar ist, weil sich etwas verändert hätte, sondern weil die Fanonsche Lektion noch nicht gelernt ist. Deshalb wird ein Text von ihm ausführlich deklamiert, etwa in der Mitte der Inszenierung, was einen eigenen Sinn ergibt. Ansonsten gilt auch hier, was Leo Strauss schon 1958 schrieb: „if a wise man is silent about a fact that is commonly held to be important for the subject he discusses, he gives us to understand that that fact is unimportant. The silence of a wise man is always meaningful. It cannot be explained by forgetfulness.”

Bleibt für den Moment noch ein letztes Wort zur Gegenwart. Castorf hat sich immer als Teil des Textes verstanden, den er auf der Bühne vorstellt. Das heißt, dass die Aktualitäten seiner Person, in welcher (Verfremdungs-)Form auch immer, mit im „Faust“ verhandelt werden. Dabei ist die Parodie auf den Nachfolger der allerschlichteste Effekt, deshalb wird er auch am Anfang „weggesprochen“, weil sie, die Parodie, für die Objektivierung der Aufführung keine Rolle spielt. Vielmehr geht es darum, dass hier schon der Selbstmonumentalisierung destruktiv Einhalt geboten wird. Castorf erfüllt, wie Faust, in einer großartigen Szene, die man gesehen haben muss, einen Vertrag. Einen Vertrag, der aber nur ein imaginiertes Gegenüber hat – so wenig Mephistopheles real ist, so wenig ist es die „Geschichte“, die in der Inszenierung vor den Richter namens Publikum gezogen wird. Dennoch: das Bestehen auf Vertragserfüllung, auch bei fehlendem Versprechen, also auf das rein formale Übereinkommen zwischen Zweien, wird hier aus guten Gründen ausführlich vorgeführt. Ausführlich, weil man sonst vergisst, welche Verhältnisse überhaupt im „Faust“ und in der von Castorf erzählten Geschichte verhandelt werden. Das heißt auch, dass die eigene Position außerhalb der eingebildeten, selbstgebildeten oder von außen zugeschriebenen Tradition einzunehmen ist. Auf der Bühne wird das deutlich gemacht, wenn „Die Hexe“ und „Faust“ aufeinandertreffen. Also in einem Moment der Klärung, in dem jede sprachliche Nuance, wie im Vertrag, wichtig ist, fallen ihnen die Wörter aus dem Mund. Die Tradition, die vorgibt gegen die „Zertrümmerer“ ein Recht zu haben, kann gar nicht mehr zum Sprechen bringen, was den anderen als Vorbild hätte dienen sollen. Die Sprache fällt auseinander, fratzenhaft verzerrt, es wird geschrien (über das Schreien bei Castorf wäre ein Buch zu schreiben), bis jegliche Sinneinheit zerstört ist. Die bürgerliche Hermeneutik der Überlieferung von Wissen – von den Eltern geerbt, dann erworben, um das Erbe zu besitzen – ist hier zerstört worden unter dem Anspruch, die Hermeneutik erhalten zu wollen. Gründgens etwa taucht dabei auf in seiner Sprechplattenintensität, nur um als bloßer Drumherumredner entlarvt zu werden, andere „Faust“-Titanen werden vorgeführt, wie sie den Vertrag mit dem Text zugunsten der bloßen Darstellung aufgekündigt haben (Minetti etc.).

Castorfs „Faust“ ist der Kosmos. All das hätte ich Christopher gerne erzählt.

 

„Faust“. Nach Goethe. Von Frank Castorf (Volksbühne Berlin, Premiere 2. März 2017)

Mit: Martin Wuttke (Faust), Marc Hosemann (Mephistopheles), Valery Tscheplanowa (Margarete und Helena), Alexander Scheer (Lord Byron und Anaxagoras), Sophie Rois (Die Hexe), Lars Rudolph (Doktor Wagner), Lilith Stangenberg (Meerkatze Satin), Hanna Hilsdorf (Homunculus), Daniel Zillmann (Monsieur Bordenave, directeur du Théâtre des Variétés), Thelma Buabeng (Phorkyade), Frank Büttner (Valentin), Angela Guerreiro (Papa Legba und Baucis), Abdoul Kader Traoré (Baron Samedi & Monsieur Rap rencontrent Aimé Césaire) und Sir Henry (Der Leiermann)

Regie: Frank Castorf
Bühne: Aleksandar Denic
Kostüme: Adriana Braga
Licht: Lothar Baumgarte
Kamera: Andreas Deinert, Mathias Klütz
Videoschnitt: Jens Crull, Maryvonne Riedelsheimer
Musik/Ton: Tobias Gringel, Christopher von Nathusius
Tonangel: Dario Brinkmann, Lorenz Fischer, William Minke, Cemile Sahin
Dramaturgie: Sebastian Kaiser

Anmerkungen:

[1] Beim Nachdenken über die Aufführung habe ich insbesondere von Christine Dössels Beobachtungen in der SZ gelernt.

[2] Dass „Faust“ am Ende auf einem quietschenden Dreirädchen fahren muss, ist nicht nur eine Verkleinerung des Großdenkenden, sondern kann auch als eine Anleihe bei den nicht wenigen „Faust“-Parodien gelesen werden. Die vermeintlichen Spaßvögel kamen schon früh auf die Idee, „Faust“ auf ein Dreirad zu setzen.