Ein Lumpenintellektueller als Spiritus Rector des Nationalsozialismus

Volker Koop verfolgt Alfred Rosenbergs Karriere zum Wegbereiter des Holocaust

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 9. Januar 1943 konnte man im „Völkischen Beobachter“, dem Zentralorgan der NDSAP, folgende Lobeshymne lesen: „Mit der ganzen Wucht seines kämpferischen Geistes warf er sich dem jüdisch-bolschewistischem [sic] Geschmeiß entgegen.“ Gespendet wurde dieses ,Lob‘ vom Gauleiter Martin Mutschmann zum 50. Jubiläum des Geburtstagskindes, „des Mitkämpfers des Führers“ (wie es im Titel desselben Artikels hieß) Alfred Rosenberg.

Der am 12. Januar 1893 im baltendeutschen Reval (heute Tallinn) geborene Alfred Rosenberg war – nachdem er am 30. November 1918 in seiner Heimatstadt den öffentlichen Vortrag „Die Judenfrage und der Bolschewismus“ gehalten hatte – schon am selben Abend nach Deutschland mit dem klaren Ziel abgereist, „das deutsche Volk über die zerstörenden Kräfte in seinem Lande aufzuklären“. Mit diesem Sendungsbewusstsein ist Rosenberg schnell zu einer der wichtigsten Figuren der NS-Zeit avanciert. Ihn von diesem Podest herunterzuholen und zu beweisen, dass der Chefideologe doch eine schwache, zuweilen sogar lächerliche, bestenfalls aber eine Randfigur unter seinen nationalsozialistischen Mitstreitern war, während er „einer der mächtigsten Männer des NS-Regimes“ hätte werden können, nimmt sich der Journalist Volker Koop in seinem neuesten Buch Alfred Rosenberg. Der Wegbereiter des Holocaust. Eine Biographie vor.

Koops Buch ist chronologisch aufgebaut und verfolgt Rosenbergs Lebensweg vom heimatlichen Reval bis nach Nürnberg, wo dieser am 16. Oktober 1946 im Anschluss an die Nürnberger Prozesse am Galgen endete. Wie Koop zeigt, blieb der Chefideologe des Nationalsozialismus Alfred Rosenberg „unbeirrt bis in den Tod“. Nach Art des Anti-Bildungsromans erleben wir in Koops Sachbuch Stück für Stück, in mehreren kurzen Kapiteln und anhand vieler Dokumente, die Unmöglichkeit Rosenbergs, sich in seine nationalsozialistische Umgebung richtig zu integrieren, sein verzweifeltes Festhalten an übertriebenen Idealen und seinen übersteigerten, maßlosen Ehrgeiz, der ihn in den Abgrund trieb. Eine tragische Figur, die nicht einmal ihre nächste Umgebung richtig einschätzen kann, die nicht erkennt, wie sie sich selber im Weg steht. Schon Dietrich Eckart, Rosenbergs Entdecker und Gönner, hatte zu Ernst Hanfstaengl über seinen Schützling gesagt:

Der Bursche hat ja nicht die geringste Vorstellung von den elementarsten Lebensfragen. Nur was ihn und seine Baltischen an entgangenen und neu erträumten Pfründen im Osten interessiert, hat in seinen Augen Bedeutung. Und ein solcher Ignorant, dazu noch mit seinem so schönen kerndeutschen Namen [sic] steht als Chefredakteur am Kopf unserer Zeitung [gemeint ist der „Völkische Beobachter“].

Dabei wollte Rosenberg in Deutschland „von den Mordmethoden des Kommunismus“ erzählen und davon, „dass diese kommunistische Welle vom Judentum geführt wurde, um alle echte nationale Überlieferung auch in Deutschland zu zerstören“. Rosenbergs Leben bietet viel Explosivstoff für eine fulminante Biografie. Auf Rosenbergs Antibolschewismus und Antisemitismus zugespitzt, wird dieser Stoff noch brisanter. Obwohl Koop in seinem Buch gerade Rosenbergs Antisemitismus ins Visier nimmt, beschränkt er sich dagegen auf das in mehreren Variationen entwickelte Leitmotiv, seine Hauptfigur sei eine in NS-Kreisen in Wirklichkeit geschmähte Person ohne ausreichende Autorität, ein Leichtgewicht. Egal was Rosenberg unternahm, er wurde missachtet und ignoriert, er „musste sich […] immer bescheiden“. Trotz all seiner Verdienste – obwohl er schon beim Hitler-Putsch 1923 dabei gewesen war, obwohl er Hitler immer nahe gestanden hatte – wurde er bei der Vergabe wichtiger Posten übergangen. Rosenbergs radikaler Antisemitismus hat ihm nicht zu der Karriere verholfen, die er sich wünschte. Erst sehr spät, im Juli 1941, wurde er von Hitler zum Reichsminister für die besetzten Ostgebiete ernannt.

Tragisch und zugleich lächerlich wirkt Rosenberg erst recht, wenn man die Fakten mit seinen eigenen Aussagen, Aufzeichnungen und Tagebucheinträgen vergleicht, in denen er sich selbst überhebt und seine tatsächliche Lage verkennt. Beispiele für diese Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung bietet Koops Buch in großer Fülle. Auf diese „Polarität von Innen- und Außensicht“ hat schon Ernst Piper in seiner monumentalen Studie Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe (2005) verwiesen. Hier kann Koop auch auf die erst 2013 wiederentdeckten und von Jürgen Matthäus und Frank Bajohr 2015 herausgegebenen Tagebücher Rosenbergs (1934–1944) zurückgreifen. Oft zieht Koop dabei auch die Aussagen Ernst Hanfstaengls, der Rosenberg nicht leiden konnte, heran und greift zunehmend auf Äußerungen Josef Goebbelsʼ zurück, des Hauptrivalen Rosenbergs, der sich immer mehr zu Koops Kronzeugen gegen Rosenberg entwickelt. An der Objektivität dieser Aussagen sind selbstverständlich Zweifel angebracht. Das Bild der Kompetenzgerangel, der Uneinigkeit und Gehässigkeit innerhalb der höchsten Kreise des NS-Regimes ist dagegen richtig erfasst.

Neben den Aussagen, die Rosenbergs unzureichende Fähigkeiten und geringe Autorität sowie Selbstüberschätzung demonstrieren sollen, sind antisemitische Ausfälle aus seinen Briefen, Tagebüchern und sonstigen Aufzeichnungen der zweite Pfeiler von Koops Buch. Sie sollen mit ihrem Radikalismus den eindeutigen Nachweis für Rosenbergs Antisemitismus liefern, aus dem auch er selbst nie einen Hehl gemacht hat. Manifestationen von Rosenbergs Antisemitismus bietet das Buch zuhauf, deutlich weniger erfahren wir über dessen Ursachen. Nur angedeutet wird der Boden, dem Rosenberg entsprossen war – der Antisemitismus des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Der feste Knoten Antisemitismus-Antibolschewismus, welchen Rosenberg mit voller Überzeugung „Sowjet-Judäa“ nannte, wird im Buch ebenfalls nicht analytisch entwirrt. Dass Rosenberg anders als Hitler auch die katholische Kirche und das Christentum heftig angriff, weshalb sein Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts 1934 vom Vatikan indexiert wurde, wird zwar erwähnt, dieser Hinweis erscheint aber im Kapitel „Distanzierung von Rosenbergs Der Mythus des 20. Jahrhunderts“, in dem vor allem das Desinteresse der anderen Nazis an Rosenbergs Buch im Mittelpunkt steht. So platziert, dient die Tatsache der Indexierung durch den Vatikan lediglich als ein weiterer Beleg für die allgemeine Missachtung Rosenbergs.

Koop schafft es nicht, der relativen Komplexität des Phänomens Rosenberg gerecht zu werden. Genau genommen ist auch der Fokus auf Rosenberg als „Wegbereiter des Holocaust“ im Buch eher unzureichend. Immer wieder und über mehrere Seiten entfernt sich der Autor von seinem Hauptthema. So rückt er erst im Kapitel „Der Dogmatiker des Antisemitismus“, das auf Seite 91 beginnt, Rosenberg als „Wegbereiter des Holocaust“ in den Brennpunkt.

Rosenbergs persönliche Tragik – auf die schon Joachim Fest verwiesen hat – verschwindet in Koops Buch, was angesichts seiner Verbrechen mehr als gerecht ist. Auch die fehlende Einsicht in seine Verfehlungen nimmt ihm jeglichen tragischen Nimbus. Was aber nach der Lektüre von Koops Buch bleibt, ist ebenfalls widersprüchlich und zum Teil beunruhigend. Zum einen ist der Vorsatz, Rosenberg als liederlichen Querulanten zu zeichnen, der in „ewige Streitigkeiten“ verwickelt war und sich dauernd bei Hitler beschwerte, keineswegs neu. Hier folgt Koop womöglich wieder Joachim Fest, der Alfred Rosenberg zu einem „kuriosen und vielfach belächelten Einzelgänger“ erklärt hatte. Zum anderen stellt sich die berechtigte Frage, wieso dann eine so machtlose und isolierte Figur zum Vordenker der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik werden konnte. Koops Vorgehen birgt auch die Gefahr einer impliziten Aufwertung von Rosenbergs Gegenspielern. Unangenehm berührt ist man beispielsweise, wenn im Buch die Geringschätzung Rosenbergs mit Hilfe der Scherze der Nazi-Führungselite etabliert werden soll – hier vermittelt durch Albert Speer: „Ein bevorzugtes Ziel der Goebbelsʼschen Scherze war Rosenberg, den er gern als ‚Reichsphilosoph‘ bezeichnete und anekdotisch herabsetzte. Im Falle Rosenbergs konnte Goebbels sicher sein, den Beifall Hitlers zu finden, und so griff er das Thema so oft auf, dass seine Erzählungen einem einstudierten Theater glichen, in dem verschiedene Akteure auf ihren Einsatz warteten.“

Rosenberg ist einfach nur noch peinlich, und die zunehmende Pathologisierung durch das Aufzeigen monomanischer, psychopathischer Züge im Buch hat zur Folge, dass er immer weniger ernst genommen werden kann. In Wirklichkeit wissen wir, dass Rosenberg gar nicht so macht- und erfolglos war, wie Koop das suggeriert. So wurde er von Göring hoch geschätzt, der von Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts beeindruckt war. Um Rosenbergs tatsächliche ,Leistung‘ als Chefideologe, um seine ganze Ungeheuerlichkeit als einflussreicher Wegbereiter des Holocaust aufzudecken, hätte es außerdem einer genaueren Darstellung und Analyse seiner Schriften, insbesondere seines Hauptwerks Der Mythus des 20. Jahrhunderts bedurft. Koop bietet lediglich Belege für Rosenbergs große Bewunderung für das eigene Werk sowie Hinweise darauf, dass dieses Werk nur von sehr wenigen gelesen wurde, was so auch nicht ganz zutrifft. Schon die vehemente Reaktion des Vatikans beweist dessen Tragweite: „Das Buch macht verächtlich und verwirft von Grund aus alle Dogmen der katholischen Kirche; ja sogar die Fundamente der christlichen Religion selbst“, so die Begründung des Vatikans. Dass sein Werk schon damals kritisch gelesen und ausgewertet wurde, erkennt man etwa daran, dass es Wilhelm Reich in seiner einzigartigen Massenpsychologie des Faschismus von 1933 bereits damals einer gründlichen Analyse und Kritik unterzog. Rosenbergs Ideologie war menschenfeindlich bis zum höchsten Grad, dennoch – und Volker Koops Aufgabenstellung genau entsprechend – hätte er als Theoretiker mehr gewürdigt werden können, um seine Verbrechen gegen die Menschheit in vollem Umfang und in aller Deutlichkeit hervortreten zu lassen, statt den Zwist im Hause Hitler dauernd zu bemühen.

Koop schlägt also in die gleiche Kerbe wie Joachim Fest vom schwachen „Gefolgsmann“ Rosenberg. Sein Rosenberg-Porträt ist insgesamt recht blass, und auch einige Äußerungen und Deutungen Koops sind schwer einzuordnen beziehungsweise erweisen sich als widersprüchlich. Auf Rosenbergs Schuldzuweisung an das deutsche Volk „Das Volk verfiel darauf, Hitler zu einem Idol zu erheben und ihm zu blinder Treue verpflichtet zu sein.“ reagiert Koop, indem er ins andere Extrem zu verfallen scheint: „Das Volk soll Hitler zum Idol erhoben haben? Doch wohl nur, weil Gefolgsleute wie Rosenberg in bedingungsloser Treue Hitler glorifizierten.“ Selbst wenn man Daniel Goldhagens These von „Hitlers willigen Vollstreckern“ oder Wilhelm Reichs Überzeugung, dass das Volk selbst mit seinen autoritätssüchtigen Charakterstrukturen für den Nationalsozialismus mitverantwortlich war, nicht teilen würde, ist fraglich, was Koop hier mit seiner Aussage bezweckt. Ist es sein Ziel, das deutsche Volk zu exkulpieren und die ganze Schuld auf die „Gefolgsleute“ zu schieben? Wohl nicht, da er ein paar Seiten später schreibt: „Vor allem aber bedurfte es eines gesellschaftlichen Klimas, in dem die Bevölkerung zumindest in ihrer schweigenden Mehrheit das Morden tolerierte, wenn nicht gar unterstützte, in jedem Fall aber wegsah.“

Der Verzicht darauf, zwischen dem Ideologen und dem Politiker Rosenberg deutlich zu unterscheiden beziehungsweise die implizite Unterschätzung der Macht der Ideologie im Nationalsozialismus (trotz der Absicht, Rosenberg zum geistigen Wegbereiter des Holocaust zu stilisieren), auf denen Koops Buch beruht, zeitigen negative Folgen. Rosenberg wird zur Bedeutungslosigkeit degradiert, eine ausgeglichene Einschätzung bleibt aus. Die Unterschätzung Rosenbergs basiert beispielsweise auf Feststellungen wie: „Rosenberg war nie ein Organisator und ein politischer Führer schon gar nicht.“ Zu den negativen Zuschreibungen an Rosenberg gehören vor allem „Arroganz“, „maßlose Selbstüberschätzung“ und „Realitätsleugnung“. Zudem ist die von Koop behauptete „Missachtung“ Rosenbergs durch Hitler so nicht belegt. Im Gegenteil: Überliefert ist beispielsweise folgende, von Ernst Piper zitierte Aussage Kurt Lüdeckes von 1937, dem zufolge Hitler gesagt haben soll: „Er ist der einzige, auf den ich immer höre. Er ist ein Denker.“ Beispiele dafür, dass Rosenberg in seinen Machtkämpfen mit den anderen Satrapen des Nationalsozialismus in einigen Fällen sogar den Sieg davontrug, gibt es auch, zum Beispiel im sogenannten Modernismus-Streit. Auch bei den Bücherverbrennungen war Rosenberg seinem Erzrivalen Goebbels voraus.

Rosenberg war ein schwacher Politiker und ein starker Ideologe. Koop selbst gibt das im oben zitierten Satz von den Gefolgsleuten, die das Volk mit der Hitler-Verehrung angesteckt haben, implizit zu. Ausgeglichener formuliert das Ernst Piper, nachdem er Rosenbergs Stärke als Ideologe hervorgehoben hat: „Die Mutation vom Ideologen zum Politiker, vor allem nach 1933, war eine große Herausforderung für Alfred Rosenberg, die er nur teilweise erfolgreich bestand. Immerhin gelang es ihm, sich bis zum Ende in den inneren Zirkeln der Macht zu halten, während es in Hitlers Entourage der frühen Jahre viele gab, die aus jeweils ganz unterschiedlichen Gründen gänzlich aus seinem Umfeld verschwanden“. Rosenberg wurde zwar von einigen wenigen als Organisator und Politiker verdrängt, aber keineswegs aufs Abstellgleis geschoben. Stand er 1933 „nicht in vorderster Front“ (Ernst Piper), so sollte sich das ab 1941 mit dem Überfall auf die Sowjetunion, wo eine seiner Hauptkompetenzen lag, jedoch wieder ändern. Gegen die These von Rosenbergs Bedeutungslosigkeit, die Koop vertritt, lässt sich auch Philip Metcalfes Aussage über Ernst Hanfstaengl, dessen Untergang sich 1933 deutlich abzeichnete, anführen: „Nun musste er hilflos zusehen, wie Hitler sich an Göring, Goebbels und Rosenberg, die Radikalen in der Partei, um Rat wandte.“ Bedenkt man, wie stark der Nationalsozialismus von der Ideologie geprägt war, kann man gut erkennen, über welche Macht Rosenberg, der vielen damals als „Präzeptor der nationalsozialistischen Weltanschauung“ (Robert Kempner) galt, tatsächlich verfügte.

Nach Ernst Piper, der Rosenbergs Antisemitismus viel genauer seziert, nimmt sich Koops Buch als eine stark verkürzte, wenig überzeugende, mit Widersprüchen behaftete Version der These vom Chefideologen des Nationalsozialismus und Antisemitismus aus. (Fehler wie derjenige, der amerikanische Ankläger in Nürnberg Thomas J. Dodd habe Rosenberg am 17. November 1946 „ins Kreuzverhör“ genommen – nachdem Rosenberg ja bereits einen Monat früher hingerichtet worden war – wären auch vermeidbar gewesen.) Seine Hauptthese von Alfred Rosenberg als Täter und „der Wegbereiter des Holocaust“ (Hervorhebung von mir, GH) hat Koop nur teilweise bewiesen. Positiv ist, dass er um den Preis eines gewaltigen Widerspruchs der Gefahr entgeht, durch die These von der Bedeutungslosigkeit Rosenbergs auch dessen menschenfeindliche Ideologie und dessen Antisemitismus zu unterschätzen. Außer dass er massiv Rosenbergs Hasstiraden gegen die Juden wiedergibt, wird ein direkter „Zusammenhang mit dem Antisemitismus und damit dem Massenmord an über sechs Millionen Juden“ aber eher selten konkret profiliert. Stutzig wird man außerdem, wenn Koop über Rosenberg schreibt: „Durch seinen Fauxpas in London [Rosenbergs desaströsen diplomatischen Auftritt dort im Jahr 1933] – und auch durch seine permanenten judenfeindlichen Attacken – hatte sich Rosenberg selbst aus dem Rennen um das Amt des Außenministers gebracht.“ Hat man sich in Nazikreisen durch Antisemitismus selbst deklassiert? Zumindest bedarf eine so wichtige Aussage einer weiterführenden Begründung, die Koop nicht liefert. Eine mögliche Erklärung findet man bei Ernst Piper: „Der dogmatische Rigorismus, zu dem Rosenberg sich verpflichtet sah, führte immer wieder zu Konflikten.“

Volker Koops Fazit nach seinem zentralen Kapitel „Der Dogmatiker des Antisemitismus“ lautet: „Rosenberg hat zwar persönlich keinen Mordbefehl erteilt, nicht gefoltert und kein KZ geleitet. Den Tod hat er dennoch verdient. Denn er war es, der dem Holocaust den Boden bereitet und den Nationalsozialisten die ‚philosophischeʻ Rechtfertigung für den Mord an Millionen von Juden geliefert hat.“ Nicht vergessen darf man an dieser Stelle aber auch – ohne Rosenbergs Schuld im Geringsten infrage zu stellen – , dass neben Rosenberg auch Hitler und Goebbels (um sich nur auf diese Hauptfiguren zu beschränken) einen eliminatorischen Antisemitismus von ungeheurer Kraft predigten und verbreiteten. War Hitler in Mein Kampf weniger antisemitisch und war sein Antisemitismus weniger eliminatorisch? Ist etwa Goebbelsʼ Essay vom 16. November 1941 mit dem aussagekräftigen Titel „Die Juden sind schuld“, in dem er behauptet „In dieser geschichtlichen Auseinandersetzung ist jeder Jude unser Feind“ weniger antisemitisch?

„Seine Tribüne war der Schreibtisch“, schrieb Ernst Piper über Rosenberg. Dort brütete er seinen Antisemitismus aus und von dort aus entfaltete er seine enorme Zerstörungskraft. Der von Yehuda Bauer in Umlauf gebrachte (sicherlich auch nicht unproblematische) Begriff des „Lumpenintellektuellen“ ist ihm wie auf den Leib geschnitten, lässt sich aber auch auf Hitler und Goebbels anwenden. Außer dass er eine Antwort auf die Frage schuldig bleibt, warum es zu dieser äußerst bösartigen Herrschaft der „Lumpenintellektuellen“ überhaupt kommen konnte, verkehrt Koop im Schlussakkord seines Buches wieder die Verhältnisse, indem er Rosenberg zum ideologischen Alleintäter stilisiert beziehungsweise erneut eine viel zu einfache Trennlinie zieht: „Nicht er, sondern Hitler, Himmler und all die anderen stehen für das NS-Regime und seine Verbrechen. Dabei war Rosenberg als geistiger Brandstifter verantwortlich für das, was andere dann in mörderischer Weise umsetzten.“

Titelbild

Volker Koop: Alfred Rosenberg. Der Wegbereiter des Holocaust – Eine Biographie.
Böhlau Verlag, Wien 2016.
346 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783412505493

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