Vertikalspannungen

In einer lesenswerten Parallelbiografie präsentiert Manfred Geier Leben und Denken von „Wittgenstein und Heidegger“

Von Nico Schulte-EbbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nico Schulte-Ebbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Ludwig Wittgenstein am 29. April 1951, drei Tage nach seinem 62. Geburtstag, einem Krebsleiden im Hause seines Arztes Edward Bevan in Cambridge erlag, richtete er seine letzten Worte tags zuvor an Dr. Bevans Ehefrau Joan, die diese seinen Freunden ausrichten sollte: „Tell them, Iʼve had a wonderful life.“ Als Martin Heidegger ein Vierteljahrhundert später am 26. Mai 1976 im Alter von 86 Jahren in Freiburg im Breisgau starb, sollen seine letzten Worte, die Heideggers Ehefrau Elfride Walter Bröcker, einem Assistenten und langjährigen Weggefährten ihres Mannes, anvertraut habe, gewesen sein: „Ich bleibe noch liegen.“ Mit Wittgenstein und Heidegger starben nicht nur zwei einflussreiche Menschen; mit ihrem Tod ist auch die Philosophie selbst an ihr Ende gekommen. Diese auf einen Vortrag Heideggers anspielende These lässt sich dem Untertitel des neuen biografischen Werks des Germanisten Manfred Geier entnehmen, der die beiden Philosophen als „letzte“ ausweist. Geier erklärt diese Sicht mit den Worten:

Wittgenstein und Heidegger waren Einzelgänger mit ihren individuellen Besonderheiten des Denkens, Schreibens und Lebens. Gemeinsam war ihnen, was sie zu den Letzten der großen Philosophen werden ließ: jene einzigartige gedankliche und existenzielle Intensität, die aufs Ganze ging und sich durch keine allgemein als richtig favorisierte Methode kontrollieren ließ. Unterschieden haben sie sich dagegen durch die Tendenz, mit der sie ihre jeweiligen Gedanken entwickelten und ihrem Leben einen Sinn geben wollten.

Das Verhältnis zwischen Wittgensteins und Heideggers Denken gewann in den vergangenen 30 Jahren – beginnend mit Karl-Otto Apels Studie Wittgenstein und Heidegger: Die Frage nach dem Sinn von Sein und der Sinnlosigkeitsverdacht gegen alle Metaphysik (1967) und auf dieser fußend – mehr und mehr an Profil, was vor allem in einer schier unüberblickbaren Fülle unterschiedlich gewichteter wissenschaftlicher Aufsätze resultierte; Monografien, die sich mit beiden Philosophen und je speziellen Themenschwerpunkten beschäftigen, sind in großer Zahl vorhanden; Arbeiten, die zudem die biografischen Gegebenheiten darstellen, können indes nicht ausgemacht werden. Vor diesem Hintergrund ist Manfred Geiers nun vorgelegte Doppelbiografie ein willkommenes Geschenk, ja man könnte sie als Pionierarbeit bezeichnen, die sich der Herausforderung stellt, einerseits die Leben zweier ikonischer Geistesgrößen des 20. Jahrhunderts in lebendigen Farben zu zeichnen, andererseits die schwer verständlichen Gedankengebäude zu betreten und sie dem Leser wohnlich zu gestalten. Von Hannah Arendt ist die antibiografistische Haltung Heideggers überliefert, dass sich das Leben eines Philosophen mit den Worten zusammenfassen lasse: „Aristoteles wurde geboren, arbeitete und starb. Wenden wir uns also seinem Denken zu.“ Geier schafft es, beide Bereiche, Leben und Denken, in spannender, lehrreicher und unterhaltsamer Weise miteinander zu verquicken, sodass das Lesen beinahe zum Schmökern wird.

In der Tradition von Plutarchs Bíoi parálleloi stehend, vergleicht Geier die beiden 1889 geborenen Philosophen – Wittgenstein ist auf den Tag genau fünf Monate älter als Heidegger –, die sich nie persönlich begegnet sind und die sich auch sonst nur marginal zur Kenntnis genommen zu haben scheinen: Heidegger erwähnte Wittgenstein zweimal: in seinem Heraklit-Seminar im Wintersemester 1966/67 sowie im vierten Le Thor-Seminar 1969; Wittgenstein äußerte sich explizit zu Heidegger gar nur ein einziges Mal, und zwar am 30. Dezember 1929 in Wien bei Moritz Schlick, einem der führenden Köpfe des Wiener Kreises. Diese schon verblüffende gegenseitige Missachtung der beiden Philosophen einerseits sowie die unterschiedliche Kategorisierung ihres Denkens andererseits – Wittgenstein wird der analytischen Philosophie, Heidegger der Hermeneutik und dem Existentialismus zugerechnet –, lässt beide Protagonisten für eine gemeinsame Darstellung in Form einer Parallelbiografie als gänzlich ungeeignet erscheinen. Dennoch gibt es viele Ähnlichkeiten sowohl in ihrem Philosophieren als auch in ihren Lebensgeschichten und Charakterzügen, und man ist versucht, nach Lektüre der Geierʼschen Monografie das beide Männer latent Verbindende in einer Art Vertikalspannung auszumachen.

Die biografischen Fakten sind schnell genannt: Ludwig Wittgenstein, der in eine der reichsten Familien Österreich-Ungarns hineingeboren wird, studiert Maschinenbau in Berlin-Charlottenburg, wird dann in England von der Philosophie ergriffen, studiert Logik bei Bertrand Russell in Cambridge, nimmt als Soldat am Ersten Weltkrieg teil, schenkt sein riesiges Erbe seinen Schwestern, arbeitet als Gärtnergehilfe, Volksschullehrer und Architekt in Österreich, kehrt nach Cambridge zurück, wird dort Professor und zieht sich immer wieder in die Einsamkeit nach Norwegen und Irland zurück. Er veröffentlicht nur ein einziges Buch, und zwar 1921/22 den Tractatus logico-philosophicus. Martin Heidegger, geboren und aufgewachsen unter vergleichsweise ärmlichen Bedingungen im kleinen Meßkirch, zwischen Oberer Donau und Bodensee gelegen, studiert zunächst Katholische Theologie in Freiburg im Breisgau, wechselt dann zur Philosophie, wird 1913 promoviert, schon 1915 folgt die Habilitation, wird Edmund Husserls Assistent, schreibt in seiner Hütte in Todtnauberg mehrere Werke, erhält einen Lehrstuhl in Freiburg, ist dort für ein Jahr Rektor, zeigt sich als glühender Nationalsozialist, verliert nach dem Zweiten Weltkrieg seine Lehrbefugnis, darf jedoch nach seiner Emeritierung wieder Vorlesungen halten. Sein Hauptwerk Sein und Zeit erscheint 1927. Manfred Geier, Jahrgang 1943, folgt diesen Wegmarken, indem er auf bereits vorhandenes biografisches Material seiner Vorgänger – etwa Alfred Denker, Brian McGuinness, Ray Monk oder Rüdiger Safranski – zurückgreift, es auf die notwendigen Ansprüche und Aspekte einer Doppelbiografie eindampft und dadurch sowohl spannende Überkreuzungen als auch markante Unterschiede sichtbar macht. Neues findet sich in Wittgenstein und Heidegger indes nicht.

Geiers immer wieder auftretende Redundanzen sind in dem so komplexen Denkkosmos Wittgensteins und Heideggers kein stilistischer Makel, sondern willkommene Wiederholungen, die als kurze Zusammenfassungen zumeist an Kapitelanfängen, aber auch en passant im Text zu finden sind und dem Leser Orientierung geben. Dabei rückt Geier, der sich neben Lebensbeschreibungen von Immanuel Kant, Heidegger und Karl Popper auch mit einer 2009 erschienenen Doppelbiografie der Brüder Humboldt einen Namen gemacht hat, die Vertikalspannungen gekonnt in den Fokus: „Er [Heidegger] strebte nach dem Großen, Hohen und Freien, das sich ihm anfänglich im Kleinen, Sanften und Begrenzten gezeigt hatte.“ Wittgenstein dagegen verschenkte sein riesiges Erbe, hauste nach dem Ersten Weltkrieg im Werkzeugschuppen eines Klostergartens und führte ein karges, asketisches Leben in Gesellschaft einfacher, bodenständiger Menschen. Während Heidegger Rektor der Universität Freiburg war und „das Größte denken und erkämpfen wollte, versuchte Wittgenstein als kleiner Stipendiat und ‚Research Fellow‘ am Trinity College in Cambridge, sich vom metaphysischen Gestus völlig frei zu machen und stattdessen Klarheit im Denken und Sprechen anzustreben, nicht zuletzt, um mit sich selbst ins Reine zu kommen.“

Anfang der 1930er-Jahre trennten sich die Wege Wittgensteins und des Wiener Kreises, und Wittgenstein näherte sich in seiner Analyse des alltäglichen Sprachgebrauchs Heideggers obskurem, metaphysischem Sprachspiel an: „Anstatt einen vorgefertigten Maßstab anzulegen, brachte er [Wittgenstein]  Sprachbilder ins Spiel, um Heidegger verstehen zu können und mögliche Sinnverwirrungen aufzulösen.“

Mitte der 1930er-Jahre verband Wittgenstein und Heidegger eine politische Desillusion: Jener war von der „russischen Lebensform“, dieser vom Nationalsozialismus enttäuscht; beide zogen sich in ihr Philosophieren und ihre Hütteneinsamkeit zurück. Geier bemerkt: „Beide befanden sich 1936 auch an einem Wendepunkt, an dem sie hinter sich lassen wollten, was sie in ihren Frühwerken entwickelt hatten. Ohne dass sie selbst es bemerken konnten, kam es dabei zu einer Kreuzung ihrer Denkwege, bevor sie in entgegengesetzte Richtungen weiterliefen.“ Wittgenstein näherte sich dem Frühwerk Heideggers an, während das „tatsächlich gelebte Leben und der gesellschaftlich eingespielte Gebrauch der Sprache […] vollständig aus Heideggers Blick“ rückten. So konzentrierte sich Heidegger fortan auf das ‚Seyn‘ (in ungewohnter, ‚neuer‘ Schreibweise), während Wittgensteins Wende „ein bescheidener Akt der Zurücknahme“ war, ein Fokuswechsel vom Abstrakten zum Konkreten, von der Logik zur „alltäglichen Verwendung der Wörter“. Die vertikale Entwicklung Wittgensteins zielte also nicht nur in seinem Lebenswandel, sondern auch in seinem Denken in die eine, die Richtung der „Bescheidenheit“, während diejenige Heideggers in die andere, die Richtung der „Übersteigerung“ ausschlug, und das hieß: eine außerordentliche, ja extravagante Verwendung der gewöhnlichen Sprache mit Begriffen wie „Ek-sistenz“, „Ge-Stell“ oder „Geviert“ und Sätzen wie „Wie west das Seyn?“ Geier summiert:

Heidegger trieb seine Kritik an den ‚Machenschaften‘ der sich ins Riesenhafte steigernden Technik weiter, gegen die, wie er glaubte, nur noch die religiöse Hoffnung auf einen kommenden Gott als Gegenkraft wirken konnte. – Wittgenstein dagegen konzentrierte sich immer differenzierter auf die Mannigfaltigkeit der ‚Sprachspiele‘, wobei ihm zunehmend klarer wurde, dass ein existenzieller Wandel der Lebensweise nötig war, um in Zeiten der Finsternis eine humane ‚Einstellung‘ entwickeln zu können.

Auf die Frage, was er in einem Dokumentarfilm über das Leben eines Philosophen – sei es Heideggers, Kants oder Hegels – gern sehen möchte, antwortete Jacques Derrida nach kurzem Überlegen: „Ihr Sexualleben“. Und er spezifizierte: „Weil das etwas ist, worüber sie nie reden. Sie sollen über etwas reden, worüber sie sonst nie reden. Warum werden diese Philosophen vollkommen asexuell dargestellt?“ Manfred Geier beschließt sein Werk mit einem mit „Anhänge“ betitelten Kapitel, in welchem er – ganz Derridas Wunsch entsprechend – auf das „Liebesleben der Philosophen“ eingeht, das sich „bei Heidegger durch die unkontrollierbare Übermacht der Triebstruktur, bei Wittgenstein durch die übermenschliche Anstrengung, sich von ihr ganz und gar befreien zu wollen“, auszeichne. Anschließend beleuchtet Geier religiöse Aspekte unter den übergeordneten Fragestellungen „War Wittgenstein ein Jude?“ und „War Heidegger ein Antisemit?“ (Letztere hat spätestens durch die Veröffentlichung von Heideggers sogenannten Schwarzen Heften 2014 sowie des Briefwechsels von Heidegger mit seinem Bruder Fritz 2016 wieder an Brisanz und Aktualität gewonnen.) Und so sind es auch diese extremen Ausschläge im intimen, moralischen und privatpolitischen Bereich, die sich perfekt in das Bild der beiden „letzten“ Philosophen einfügen und dieses nurmehr noch vertikalspannend akzentuieren.

Titelbild

Manfred Geier: Wittgenstein und Heidegger. Die letzten Philosophen.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017.
449 Seiten, 26,95 EUR.
ISBN-13: 9783498025281

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