Das Bild ist der Vollzug des Gedankens

„Der Verrat der Bilder“ – eine René-Magritte-Schau und -Publikation im 50. Todesjahr des Künstlers

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die moderne Kunst hat reichlich viele Mythenerzähler, von Pablo Picasso bis Barnett Newman. Aber sie hat nur wenige Meistererzähler – der Belgier René Magritte ist zweifellos einer von ihnen. Seine Bilder sind vor allem Geschichten und dann erst Gemälde, aber sie sind keine Ausschnitte aus dem Leben oder historische Szenen. Es sind Schnappschüsse des Unmöglichen und Titelbilder von Sprache und Realität, die ineinander greifen und sich gegenseitig aufheben. Keiner hat wie Magritte diese Art von Puzzlemalerei beherrscht, und sein Einfluss darauf, wie Menschen Bilder und Symbole formen und interpretieren, ist immer noch sehr groß.

1923 zeigte der schweizerisch-französische Architekt Le Corbusier eine Pfeife als Sinnbild eines einfachen funktionalen Designs. Fünf Jahre später malte Magritte seine Antwort auf Le Corbusiers eindimensionalen Rationalismus, „Der Verrat der Bilder“ (1928/29): „Ceci n’est pas une pipe“ (Dies ist keine Pfeife). Aber wenn es keine ist, was ist es dann? „Ein Bild“, antwortet das Bild, ein Zeichen, das einen Gegenstand kennzeichnet und Erinnerungen auslöst. Der Satz „Ceci n’est pas une pipe“ wurde zu einem der Schlüsselsätze der modernen Kunst, ein komprimiertes Manifest über die Sprache und die Art und Weise, wie Bedeutungen durch Symbole vermittelt oder blockiert werden. Noch nie hatte ein Maler so treffend und klar gesagt, dass „ein Bild nicht das ist, was es darstellt“. Le Corbusiers von Magritte neuerschaffene Pfeife wurde zum Loch im Spiegel der Illusion, ein Durchgang in eine ganz andere Welt hinein, wo die Dinge ihren Namen verlieren. Wenn sie ihn aber behalten, dann ändern sie ihre Bedeutung. Magrittes Skala, seine Gedanken in Bildern sichtbar zu machen, reicht von der Philosophie bis zur bitterbösen Farce.

Im 50. Todesjahr des belgischen Surrealisten zeigt die Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main in Kooperation mit dem Centre Pompidou in Paris (dort war die Ausstellung vorher zu sehen gewesen) eine beeindruckende Werk-Schau, die erste in dieser Größenordnung seit 20 Jahren in Deutschland, in der der Denkweise des Künstlers nachgespürt werden soll (bis 5. Juni 2017). Der Betrachter ist aufgefordert, Magrittes Bilder zu hinterfragen, deren Sinn ihm auf den ersten Blick noch entgeht. Hinterfragen heißt hier aber nicht erklären, sondern mit Gewohnheiten zu brechen, der Poesie eine eigene Realität zuzubilligen. Zudem hat der jeweilige Bildtitel ausreichend befremdende Horizonte zu vermitteln, damit der Betrachter sich Fragen über die Hintergründe der Bildvermittlung stellt. Der Titel muss diesen verstehen lassen, dass die Aussage des Bildes an die Imagination des Betrachters appelliert – und zwar gleichermaßen durch das Gezeigte wie durch das Nichtgezeigte, aber doch Angedeutete.

„Tentative de l’impossible“ (Versuch des Unmöglichen, 1928) heißt das Porträt eines Malers, eine nackte Frau erschaffend. Die nackte Figur im Raum ist künstlich, Magritte belässt sie im Stadium des Entstehens. Zugleich treibt er seinen Spott mit der traditionellen akademischen Ansicht, dass  Kunst durch ihren Illusionismus täuschen sollte. „Le Modèle rouge“ (Das rote Modell, 1935), ein Schuhpaar: Aus den Schuhspitzen sind die Zehen geworden, die sonst in den Schuhen stecken. Nichts bleibt in Magrittes Bildern so, wie wir es uns gewöhnlich denken. Wir sehen die Welt mit neuen Augen und wundern uns über Dinge, über die wir sonst niemals nachdenken würden.

Eine Lokomotive kommt aus dem Kamin eines Esszimmers hervor und rast mit Volldampf auf den Betrachter zu („La Durée poignardée“, Die erstochene Zeit, 1935). Beide – Lokomotive und Kamin – miteinander zu verbinden, erschien Magritte viel beunruhigender und geheimnisvoller, als wenn er hier etwas Phantastisches hätte geschehen lassen. Denn das wahre Geheimnis zeigt sich nur in den alltäglichen Dingen. Oder: Eine Kanone steht in einem Raum, dessen Wände aus Fragmenten menschlicher Umwelt zusammengesetzt sind. Müssen wir warten, bis die Kanone schießt, damit die schützenden Mauern der vertrauten Bilder in sich zusammenbrechen und wir, wie der Bildtitel sagt, „An der Schwelle der Freiheit“ (1930) stehen? Ein Gefühl des Entsetzens ruft „Le Viol“ (Die Vergewaltigung, 1934), ein aus einem weiblichen Körper bestehendes Porträt, hervor, während sie gleichzeitig komisch wirkt. Das Schamhaar schaut wie der Pelz aus, der Meret Oppenheimers Tassen, Untertassen und Gabeln ziert. Aber es könnte auch der Spitzbart eines Mannes sein. Das Haupthaar wirkt ebenso erschreckend wie auch die Brustwarzen als glotzende Augen, sodass das Ganze an eine Halluzination erinnert.

Es geht Magritte nicht darum, Realität zu leugnen, sondern ihre Bedeutung zu hintertreiben, indem er eine Gegenposition bezieht. Das Bild, das die Realität reproduziert, enthält eine metaphysische Botschaft im Sinne Martin Heideggers. Für den deutschen Philosophen war das „Mysterium“ dem Wahrheitsgehalt inhärent. Für den belgischen Maler sollte das Bild dem Menschen seine Situation innerhalb der wirklichen Welt bewusst machen. Das Verborgene und das Unbekannte werden allen zugänglich, wenn der Maler dem Bewusstsein Assoziationen nahelegt, die imstande sind, beim Betrachter unerwartete und dennoch plausible Ideen zu wecken. Die Schlüssel zum „Mysterium“ liegen also gewissermaßen in der Imagination und deren Nährboden, der das Gedächtnis ebenso umfasst wie die Erinnerungen, die es hervorbringt. Diffusen Impressionen und Gefühlen setzt Magritte eine völlig neue Herangehensweise an die Natur entgegen, als handle es sich um ein Objekt: „Was man an einem Objekt sieht, ist ein anderes, verborgenes Objekt“.

Der die Ausstellung begleitende Essayband – die deutsche Übersetzung der französischen Ausgabe – erläutert im ständigen Blick auf das abgebildete Werk des Künstlers, wie realistisch und zugleich täuschend Magritte mit bestimmten Motiven umgegangen ist, wie er hergebrachte Symbole der Kunst einer verfremdenden Lesart unterzieht, wie aber auch seine Bilder durch die moderne Konsumwelt, gegen die seine Kunst eigentlich gerichtet war, vereinnahmt wurde. Der Herausgeber des Bandes, Didier Ottinger, der zugleich auch Kurator der Ausstellung ist, geht der Entwicklung von Magrittes Wort-Bildern nach, wobei zu berücksichtigen ist, dass sich Magritte vor dem Krieg mit den Dichtern und ihren Worten beschäftigte, während er sich in den 1950er/60er-Jahren mit den Philosophen und ihren Theorien auseinandersetzte (am Schluss des Bandes wird die Korrespondenz Magrittes mit Alphonse De Waelhens, Michel Foucault und Chaim Perelman abgedruckt). 1927, als die ersten Wort-Bilder entstanden, näherte sich Magritte auch den Pariser Surrealisten an, die ja vor allem Dichter waren und dem Wort Priorität gegenüber dem Bild zumaßen beziehungsweise das Aufzeichnen eines „Gedankenflusses“ für unvereinbar hielten mit der Unbeweglichkeit der Bilder. Die Behauptung von André Breton und Paul Éluard „Die Poesie ist eine Pfeife“ sah Magritte als eine Diffamierung des Bildes an und trat ihr entgegen: Die Malerei, das Bild, das Gemälde ist keine Poesie. In der Auseinandersetzung mit den Philosophen Aphonse De Waelheus und Maurice Jean Lefebvre in den 1950er-Jahren strebte Magritte die Gleichwertigkeit zwischen Sehen und Denken an. Was aber macht dieses „Denken“ aus, das der Maler mit dem „Sehen“ in eins setzt? Magritte stellte dieses Denken mit dem „Mysterium“ gleich und dieses später wiederum mit der Poesie. Am Ende seines Schaffens räumte er ein, dass seine Malerei dem Surrealismus wohl nicht ganz fremd wäre, „vielleicht doch eine Pfeife ist“.

In seinem Vortrag „Die Lebenslinie“ 1938 in Antwerpen, der auch in dem Band abgedruckt wird, hatte Magritte von einem „Schock“ gesprochen, den „die Verwandtschaft zweier (fremder) Gegenstände“ hervorruft. Nach Magritte besitzt jeder Gegenstand ein „Element“, das ihm „unausweichlich vorbestimmt“ ist, und wenn man die beiden miteinander in Beziehung setzt, hat dies eine starke Wirkung. Magritte machte also das Gemälde zu einem Ort, an dem „die Gegenstände der Welt zueinander in Beziehung treten“ – indem er Beziehungen zwischen Bildobjekten schafft oder Wörter und Bilder zusammenstellt. Das Bild eines Gegenstandes ist natürlich nicht der Gegenstand selbst, aber dennoch gibt es eine starke Beziehung zwischen dem Bild des Gegenstandes und dem Gegenstand selbst. Darüber reflektiert Klaus Speidel in seinem Beitrag „Zwischen Wahlverwandtschaft und Beliebigkeit“. Das Gemälde „La Clef des songes“ (Der Schlüssel der Träume) von 1927 zeigt Bild/Wort-Paare, die sich erheblich voneinander unterscheiden: Wir sehen links oben eine Tasche mit dem Titel „Le ciel“ (Der Himmel), rechts daneben ein aufgeklapptes Taschenmesser mit dem Titel „L’oiseau“ (Der Vogel), links darunter das Blatt einer Pflanze, das „La table“ (Der Tisch) und rechts daneben einen Schwamm, der richtig „L’éponge“ (Der Schwamm) bezeichnet wird. Die Betrachter sollen die Regel hinter der offensichtlichen Regelwidrigkeit entdecken, den Widerspruch zwischen Bild und Wort, denn Magritte verbindet ja die Bilder der Gegenstände mit den Namen von anderen. Für einen Gegenstand einen Namen zu finden, der besser zu ihm passt, heißt, ihm den eines anderen Gegenstandes so zuzuweisen, dass unerwartete und poetische Verbindungen entstehen. Magritte löst die Gegenstände aus ihrem vertrauten Kontext, isoliert sie oder fügt sie in ungewohnte Sachverhalte ein. Er will uns von der einseitigen, im Wesentlichen funktionalistischen Beziehung zu den Gegenständen befreien. Indem er die Gegenstände und die Sprache aus ihrem Kontext löst und in fremde Zusammenhänge setzt, hilft er uns, die Gegenstände neu zu deuten, vorauszuahnen, was aus ihnen werden könnte.

Jan Blanc geht in seinem Essay von einer Fotografie „L’Ombre et son ombre“ (Der Schatten und sein Schatten, 1932), einem Doppelporträt aus, das Magritte 1932 von sich und seiner Frau Georgettes Berger anfertigte. Die beiden Gesichter scheinen miteinander verschmolzen zu sein, sie ergeben die surrealistische Montage eines einzigen Gesichts mit zwei Mündern und drei Augen. Für Magritte hat die Kunst zuallererst ein Ringen mit der Welt zu sein, was er mit dem Verweis auf „Das Licht des Zufalls“ unterstreicht. In „Das Prinzip des Zufalls“ hat er eine nackte Frau gemalt, die ihren Schatten in Gestalt eines Vogels mit ausgebreiteten Flügeln an die Wand wirft.

Dem platonischen Höhlengleichnis, das die Welt der Ideen über die Welt der Erscheinungen stellt, setzt Magritte den Mythos des Butades von Sikyon entgegen und verleiht ihm einen neuen Sinn: In diesem Mythos geht es darum, dass die junge Korintherin das Schattenbild ihres Geliebten auf eine Wand zeichnete, das ihr Vater, der Töpfer, aushöhlte, mit Ton füllte und so ein Abbild aus gebranntem Ton herstellte. Mit dem ersten Schattenbild gleichgesetzt, ist die Malerei nicht mehr nur ein einfaches Spiegelbild der Welt, sondern die Rekonstruktion einer Welt, die sich entfernt oder sich uns entzieht. Für Magritte handelt es sich nicht darum, Objekte zu malen, sondern die Ähnlichkeit: „Also den Akt selbst der Mimesis zu malen, etwas wie den Akt des Malers zu malen, die Malerei in Aktion“, schreibt Barbara Cassin in ihrem Beitrag. Matisse sagt aber nicht, dass man die Ähnlichkeit malen muss, sondern „das Bild der Ähnlichkeit“, und er fügt hinzu: „wenn das Denken in der Welt sichtbar werden soll“. Magrittes Bild „La Condition humaine“ (So lebt der Mensch, 1949) ist eine Antwort auf Platons Höhlengleichnis. Wir Menschen, so Platon, sind dazu verurteilt, nur das zu sehen, was sich an den Wänden vor uns abspielt, sehen nur die „Schatten“ der „Bilder“ der Dinge. Das Wirkliche, das Seiende, befindet sich außerhalb der Höhle, in der von der Sonne erhellten Außenwelt. Magritte, für den die Malerei ja das Denken sichtbar machen soll, hat die Höhle in mehreren Versionen der Serie „So lebt der Mensch“ ganz unterschiedlich gemalt: So befinden wir uns in einer Version – einem Aquarell von 1945 – keiner geschlossenen Wand  gegenüber, auf die Schatten geworfen werden, sondern einer breiten Öffnung nach außen mit einer Staffelei und einem Gemälde an der Grenze zwischen dem Außen und Innen. Der Maler Magritte hat also den Platz des Philosophen Platon eingenommen. Von „Tentative de l’impossible“ (Versuch des Unmöglichen, 1928), in dem der Maler die Form erschafft – er hat den Körper der nackten Frau schon vollendet und sucht jetzt noch mit dem Pinsel den fehlenden rechten Arm zu malen –, bis zu „La Reproduction interdite“ (Reproduktion verboten, 1937), in dem der Maler zeigt, dass es kein Gesicht gibt – in den Spiegel schauend, sieht sich der Porträtierte ein zweites Mal als Rückenfigur –, praktizierte Magritte sein  künstlerisches wie philosophisches Spiel. Liegt darin vielleicht die Kunst, das Bild der Ähnlichkeit zu malen, fragt Barbara Cassin.

„Wir sind von Vorhängen umgeben“, bekannte Magritte 1964, und er ergänzte: „Ja, beispielweise ist der Himmel in Vorhangform, weil er uns etwas verbirgt“. Das Fenster, seine Vorhänge, die Fensterscheibe oder die Staffelei, auf der die Landschaft zu sehen ist, die sich zugleich außerhalb des Zimmers befindet – sie deuten an: wir befinden uns im Inneren des Raumes und nehmen zugleich die Welt da draußen – außerhalb von uns selbst – wahr („La Condition humaine“, Die Beschaffenheit des Menschen, 1933). Nun ist aber in „La Clef des champs“ (Der Schlüssel zur Freiheit, 1936) die Fensterscheibe eingeworfen worden, auf die von innen der Ausblick aus dem Zimmer gemalt worden war. Bäume, Feld, Meer und Himmel liegen zerbrochen auf dem Fußboden, während die zersplitterte Fensterscheibe den Blick auf die gleiche Landschaft draußen freigibt. Aber was würde man sehen, wenn diese Landschaft auch nur gemalt wäre und in Scherben fiele? Der Tradition der mimetischen Darstellung von Verschleierung/Entschleierung geht Victor I. Stoichita nach und sieht einen Bezug zu Magrittes „Bild der Ähnlichkeit“ nun darin, „dass man seine Schleier zerriss, seine Verkleidung zerschlug, seine Vorhänge hob“.

Jacqueline Lichtenstein beschäftigt sich mit der surrealistischen Konzeption der Schönheit, die einen unbestreitbaren Bruch mit der Art, in der man das Schöne seit der Antike bis zum Ende des klassischen Zeitalters hat definieren wollen, zum Ausdruck bringt. Es ist eine Schönheit, die aus der Annäherung in einem Bild zusammengebrachter heterogener Elemente hervorgeht – im Sinne von Lautréamonts Ausspruch: Schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch. Auf dem Gebiet der Farbe wurde dieser Bruch mit den seit Jahrhunderten geltenden Regeln der Einheit und Harmonie als erstes vollzogen. Wenn Magritte schreibt, er wolle „die vertrautesten Gegenstände zum Aufheulen“ bringen, dann versteht die Verfasserin das als Echo auf das „Farbengetöse“, von dem der Schriftsteller Joris-Karl Huysmans spricht, auf die „Antithesen“ Vincent van Goghs und seine „geheimnisvollen Schwingungen einander angenäherter Töne“ oder auch auf die „sinnreiche und ergiebige Theorie der Kontraste“, der der pointillistische Maler Georges Seurat nach Auskunft seines Kollegen Paul Signac „alle seine Werte unterstellte“.

Während sie an mimetischer Präzision zunimmt, verwandelt sich Magrittes Malerei – so die Auffassung von Michel Draguet im letzten Beitrag des Bandes – in die Konstruktion einer „übersinnlichen Realität“, die von der „Psychologie des Unbewussten“ Sigmund Freuds das Prinzip der Verdrängung übernimmt. Magritte erzählte 1937 von einem Traum, den er hatte: Er erwachte in einem Zimmer, in dem ein Käfig mit einem Vogel stand. Plötzlich aber glaubte er statt des Vogels ein großes Ei im Käfig zu sehen. Irgendwie schienen der Käfig und das Ei auf geheimnisvolle Weise miteinander verwandt zu sein. Oft musste er darüber nachdenken, welche Dinge zusammen wie ein unergründliches Geheimnis wirken würden. Denn für jeden Gegenstand gab es seiner Meinung nach nur eine einzige mögliche Zusammenstellung mit einem anderen. Parallel zum Ei im Käfig („Les Affinités électives“, Die Wahlverwandtschaften, 1933) widmete sich Magritte dem Problem der Tür, in der ein unförmiges Loch die Nacht draußen erkennen lässt – das Bild als Öffnung ins Nichts („La Réponse imprévue“, Die unvorhergesehene Antwort, 1933), des Fensters – das Innere eines Hauses wird in einer Umkehrung zu einer Form von außen („La Lunette d’approche“, Das Fernglas, 1963) und so weiter. Das Licht und das Meer künden von einer Methode, die dem Alltäglichen seine Fähigkeit zur Überraschung zurückgibt – ein Fisch mit Frauenbeinen liegt tot am Strand („L’invention collective“, Die kollektive Erfindung, 1935). Oder das Bild „Die Herrschaft des Lichts“, das mit der Verknüpfung von Tag und Nacht sowie von Nacht und Tag dem Wunsch nach der Umkehrung von Wirkung und Ursache entspricht. Eine psychologische Entschlüsselung seiner Bilder hat Magritte abgelehnt. Sie würde deren universelle Tragweite annullieren und das Motiv auf die Anekdote eines persönlichen Ereignisses reduzieren. Das „Unvorhersehbare des Bildes“ will Magritte mit seiner alleinigen Eigenschaft verbinden: eine Suche nach dem Unbekannten, von der allein der Ausgangspunkt bekannt ist. Er wendet somit, sagt Michel Draguet, eine Verdrängung an, die sich auf die Antwort und nicht mehr auf die Frage bezieht. Das Bild wird nicht zuerst im Geist gebildet, sondern verwirklicht sich durch eine „Kunst des Malens“ – verstanden als ein Akt von Ähnlichkeit.

Die Beiträge befinden sich auf einem hohen theoretischen Niveau. Die Autoren bedienen sich eines fachspezifischen Vokabulars und sprechen eigentlich zu Fachkollegen und nicht zu Kunstinteressierten, die ja doch in erster Linie die Leser eines Kataloges, eines Begleitbandes zur Ausstellung sein sollten. Die konzeptionellen Aspekte im Werk Magrittes stehen im Vordergrund, während Interpretatorisches – die Suche also nach dem Unbekannten der Bilder – weniger berücksichtigt wird. Die Bilder Magrittes sind zwar den Aufsätzen unmittelbar beigefügt, doch bleibt ihre Deutung weitgehend dem Leser überlassen. Doch für die Magritte-Forschung ist hier ein nunmehr unverzichtbares Standardwerk vorgelegt worden.

Magrittes Malerei war in vielerlei Hinsicht so innovativ, dass ihr eigentlich ein eigener Platz in der Kunstgeschichte gebührt. Es ist nicht damit getan, dass man sie nur in Bereiche wie Romantik, Symbolismus oder Surrealismus einzuordnen versucht.

Titelbild

Didier Ottinger (Hg.): Magritte. Der Verrat der Bilder.
Prestel Verlag, München 2017.
201 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783791355979

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