Nackte Wahrheiten

Alexandra Tacke über Arthur Schnitzlers Novelle „Fräulein Else“ und ihre medialen Adaptationen

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie ihr Pendant Leutnant Gustl ist Arthur Schnitzlers Novelle Fräulein Else an einer Umbruchstelle der lebensweltlichen Kulturen des frühen 20. Jahrhunderts platziert. Obwohl die Handlung des Textes, der 1924 erstmals selbständig bei Zsolnay erschien, in der Zeit um die Jahrhundertwende angesiedelt ist, sind die Bezüge zur Publikationszeit kaum zu übersehen. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass in den 1920er-Jahren eine massive Entkonventionalisierung stattfand, in deren Verlauf das gut ausgestattete und umfassend versorgte bürgerliche Mädchen nicht nur in die Lohnarbeit gedrängt wurde, sondern auch die Loslösung vom Diktat des guten Anstands vorangetrieben wurde, in dessen Kontext die Töchter aus gutem Hause eines der wichtigsten Assets gewesen waren. Analog zum glücklichen Österreich konnten sich auch bürgerliche Familien ihrer Töchter glücklich schätzen, mochten sie doch zu vielerlei nutze sein, etwa um Kontakte zu knüpfen oder eben um Schulden abzutragen.

Im Falle des Fräulein Else, das mit Tante und Cousin im Grand Hotel residiert, weit entfernt von Wien, wird die extreme Form, die der Handel um die anständigen Töchter nehmen konnte, besonders gut deutlich: Das gute Mädchen soll nämlich einen Bekannten der Eltern um 30.000 Gulden anpumpen, um die Spielschulden des Vaters auszulösen. Der angesprochene Bekannte, Herr Dorsday, verlangt als Gegenleistung nicht etwa die Ehe mit der Tochter, sondern dass sie sich ihm 15 Minuten lang nackt zeigt, entweder in seinem Zimmer oder irgendwo draußen im Wald, wenn ihr das zu peinlich ist. Und er verlangt es ausdrücklich deshalb, weil er die Zuneigung Elses nicht gewinnen kann. Statt einer ehelichen Verbindung die „nackte Wahrheit“ also?

Wie bekannt ist, erfüllt Else ihren Teil des Handels, wenngleich anders als gewünscht, nämlich in der Öffentlichkeit des Hotelpublikums, insbesondere vor den Augen des Gigolos, dem sie selbst zuneigt. Der Skandal ist also da, die Tante und die Gefährtin des Cousins sind empört, der Cousin selbst, ein Arzt, ist hingegen gewillt, einen Zusammenbruch anzunehmen, den er behandeln kann. Else ihrerseits nimmt ein Schlafmittel, um sich umzubringen und sich damit selbst aus dem Gesamtgefüge zu entfernen.

Die Konstellation, die Schnitzler mit dieser Novelle entfaltet, zeigt sich bereits als Verfallsprodukt des bürgerlichen Familien- und Ehemodells, gerade weil Else den Skandal sucht und sich entblößt. Der Handel zwischen den Familien, ihren Töchtern und den externen Männern führt nicht mehr zur Ehe, sondern ist auf einen Teilaspekt fokussiert, der eigentlich am Rande des Gesamtkontextes angesiedelt ist, nämlich auf die Entblößung der jungen Frau. Sie muss sich dem fremden Mann nicht einmal mehr hingeben, sondern sich ihm nur noch zeigen. Das aber korrespondiert in einem auffallenden Sinn damit, dass die Mode der 1920er-Jahre die Frauen im Vergleich zur Jahrhundertwende weitgehend entblößt (so die Wahrnehmung der Zeitgenossen), ohne dass sie etwas dafür zahlen müssten. Immerhin bekommt Else aber noch etwas für ihre Entblößung, den Skandal und die 30.000 Gulden, während ihre späteren Geschlechtsgenossinnen – wenn überhaupt – lediglich Aufsehen erregen.

Formal außergewöhnlich ist dieser Text vor allem deshalb, weil er konsequent aus der Perspektive Elses geschrieben ist, als Innerer Monolog, was ihn in die Reihe mit anderen großen Texten des frühen 20. Jahrhunderts setzt, eben Schnitzlers Leutnant Gustl und James Joyces Ulysses. Freilich hat diese Form eben auch inhaltliche Konsequenzen, denn dem Text stehen eben Informationen und das Wissen eines über allen Wassern schwebenden Erzählers oder eben unterschiedlicher Figuren nicht zur Verfügung. Er ist genau darauf beschränkt, was Else weiß und wie sie es denkt. Daraus resultieren die Erzählbrüche, die schwankenden Haltungen, die fragmentarische Syntax, also alles, was der unilaterale Blick auf die Welt eben hervorbringt. Darauf basiert allerdings auch die Handlung selbst. Denn die Entscheidung, dass Else sich in aller Öffentlichkeit entkleidet und nicht im privaten Umfeld, geht auf sie selbst zurück: „Wenn einer mich sieht, dann sollen mich auch andere sehen. Ja! – Herrlicher Gedanke! – Alle sollen mich sehen. Die ganze Welt soll mich sehen. Und dann kommt das Veronal!“

Hier hakt denn auch Alexandra Tacke mit ihrer Studie über „Die nackte Wahrheit“ in Arthur Schnitzlers „Fräulein Else“ als Ausgangsthese ein. Mit diesem Akt der öffentlichen Selbstentblößung habe Else nämlich die bürgerliche Bigotterie mit einem Schlag entlarvt. Mit der Präsentation ihrer Körperlichkeit desavouiere Else ein System, in dem Macht und Gewalt männlicher Provenienz der Selbstentfaltung der Frauen im Wege stünden.

Berücksichtigt man den Epilog der Studie an dieser Stelle, der ja deren Perspektive kenntlich macht, wird das Konzept Tackes deutlich, kennzeichnet sie doch im Abschlusskapitel die Aktionen der „Femen“-Gruppen (seit 2008) als politischen Protest gegen eine sexistische Gesellschaft, in der das Geschlecht nicht nur über den Zugang zu Chancen entscheidet, sondern auch Unterwerfungsverhältnisse strukturiert und zu sexuell motivierter Gewalt führt. Der nackte Körper decouvriert damit Machtverhältnisse und erhebt zugleich den Anspruch, sich ihnen widersetzen zu können.

Diese These, die im politischen Alltag und in der kulturellen Lesart des nackten weiblichen Körpers nicht zu leugnen ist, strukturiert auch Tackes Lektüre von Schnitzlers Fräulein Else. Elses Akt wird zum Protest und zur politischen Aufklärung.

Tacke stützt dies nicht zuletzt mit einer Reihe von Belegen aus der Kultur der 1920er-Jahre, in der der nackte Körper von Künstlern bewusst provokant inszeniert und zudem von der Freikörperkultur als natürlich de-skandalisiert wird. Allerdings vernachlässigt Tacke dabei die jeweilige Perspektive. Denn man wird keineswegs davon ausgehen können, dass Nacktheit per se als Befreiungsakt inszeniert wird und dass diese Inszenierung nicht konterkariert werden kann. Männliche Inszenierungen nackter weiblicher Körper können völlig anders konnotiert sein als weibliche, insbesondere dann, wenn sie etwa das Scheitern der weiblichen Selbständigkeit anvisieren. Bei den Inszenierungen etwa einer Anita Berber – auf die Tacke gleichfalls zu sprechen kommt – ist eben auch zu berücksichtigen, welchem Konzept die entscheidenden Akteure (Regisseur oder Autor) folgen. Das sieht auch Tacke, gesteht sie doch ein, dass es nur in seltenen Fällen zu weiblichen Gegenbildungen zur männlichen Konzeptionalisierung weiblicher Nacktheit gekommen sei. Aber sie wendet diese Einsicht nicht auf Schnitzlers Fräulein Else an.

Die Inszenierung der Binnensicht Elses wäre mithin strenger auf das Konzept hin zu prüfen, das Schnitzler mit ihm verfolgt, als dies hier geschieht. Dies umso mehr, als es fraglich erscheinen muss, ob man eine Gesellschaft, die selbstverständlich über Frauen kommuniziert, um eine oft missverstandene Bemerkung Claude Levi-Straussʼ aufzunehmen, erst noch damit konfrontieren muss, dass sie es tut. Bei aller moralischer Kaschierung des behüteten Lebens bürgerlicher junger Frauen ist es wohl allen Akteuren der Zeit um 1900 geläufig und selbstverständlich, dass eine Ehe – um es darauf zu kaprizieren – ein Handel ist, von dem beide Seiten profitieren sollen (und die Frauen gehören in diesem Sinne zu keiner der beiden Seiten). Hinzu kommt, dass die zeitliche Differenz zwischen Publikationsjahr und Spielzeit nicht genutzt wird: Was um 1900 ein Skandal ist, muss es um 1925 nicht sein.

Dagegen bleibt freilich einzuwenden, dass es eine Sache ist, ein Konzept zu verfolgen, und eine andere, es augenfällig zu machen. Insofern kann Tackes These funktionieren, auch deshalb, weil sie den Widerspruch zwischen der moralischen Abschottung junger Frauen und deren Einsatz als Tauschobjekt in Anspruch nimmt. Allerdings funktioniert das anders als das Femen-Konzept, das ja auf einer breiten gesellschaftlichen Praxis der Darstellung nackter weiblicher Körper aufsetzt und sie gegen diese Praxis aufstellt.

Tacke bleibt dabei aber nicht stehen. Zwischen Schnitzlers Novelle und dem Femen-Konzept spannt sie eine große Zahl von medialen Verarbeitungen, vor allem Vertonungen und Verfilmungen, aber auch eine Internetverarbeitung und eine Comic-Adaptation. Die Autorin verweist darauf, dass auch Schnitzler den Stoff für eine Verfilmung als sehr geeignet bezeichnet habe, an der Umsetzung aber gescheitert sei. Hier bliebe aber zu fragen, weshalb das auf einen Inneren Monolog, der eben ausdrücklich keine dialogische Struktur enthält, sondern sich auf die Perspektive der Protagonistin beschränkt, zutreffen soll. Gerade das Erzählverfahren deutet darauf hin, dass sich die Novelle eben nicht für die Verfilmung anbietet, weil für eine Verfilmung die Perspektive wechseln muss und sie den Gedankenfluss nicht zeigen kann (man kann ihn sprechen, aber nicht visuell vorführen). Insofern scheint insbesondere Hans Jürgen Syberbergs Inszenierung (Fräulein Else, 1987), die als Lesung angelegt ist, konsequent, die Vertonungen oder Lesungen einmal ausgenommen. Die übrigen Adaptionen sehen jedoch von dem historischen Bestand ab und fokussieren sich, wenn man dem Bericht von Tacke glauben darf, vor allem auf die Entwicklung der weiblichen Nacktheit. Das spricht im Übrigen gegen die Verfilmung mit Elisabeth Bergner aus dem Jahr 1929 (Paul Czinner: Fräulein Else, 1929), da diese zum einen aktualisiert (was gegebenenfalls zu Anachronismen führen muss), zum anderen die konsequente Perspektive auflöst. Solche Diskussionen fehlen bei Tacke, was sich damit erklären lässt, dass sie die Adaptionen vor allem auf die politische Interpretation der weiblichen Nacktheit hin liest.

Zudem diskutiert Tacke die Leistungsfähigkeit des Textes, die sie massiv bezweifelt. Gerade unter Berücksichtigung des Inneren Monologs scheint sich dies jedoch nicht bestätigen zu lassen: Gerade der Schluss, bei dem die Wirkung des Schlafmittels vorgeführt werden soll, zeigt das Stammeln im Verstummen des Gedankengangs Elses. Der Text ist insofern ja hier gerade leistungsfähig, wie überhaupt bei der Darstellung des Inneren Monologs, der eben nicht wild ist oder wirr, sondern nach Regeln des Assoziativen und Iterativen strukturiert ist.

Zweifellos ist Tackes Studie höchst anregend, sie präsentiert Material in einer Breite, die beeindruckend ist und zur Weiterarbeit auffordert. Dass sie mindestens zwei Thesen verfolgt (Nacktheit als politischer Protest und das Versagen des Textes als Medium), geht zu Lasten der Stringenz der Argumentation. Die zahlreichen deskriptiven Passagen sind angesichts der Materialfülle nachvollziehbar, wären aber in Hinblick auf eine stärkere Fokussierung zu tilgen gewesen. Auch die anerkennenden Bewertungen, die Tacke ihren Belegen zukommen lässt, irritieren und haben für die Analyse und Anwendung ihrer These keine Funktion. Ein schlecht gemachter, aber relevanter Beleg ist eher heranzuziehen als ein künstlerisch herausragender, der im Wesentlichen irrelevant ist.

Titelbild

Alexandra Tacke: Schnitzlers „Fräulein Else“ und die Nackte Wahrheit. Novelle, Verfilmungen und Bearbeitungen.
Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar 2017.
238 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783412224974

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