Das Beste im Leben ist jetzt?

Mit Jochen Schmidts Roman „Zuckersand“ sieht der Leser die Welt mit Kinderaugen

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der zweijährige Karl entdeckt in Jochen Schmidts neuem Roman Zuckersand die Welt. Er beobachtet Eisenbahnen in Schaufenstern, automatische Kaufhaustüren und das laute Reinigungsauto auf der Straße. Mit seinem Sohn Karl erkundet der Vater, der Ich-Erzähler, die Stadt: den Spielplatz, Geschäfte und die S-Bahn-Brücke. Er taucht ein in die eigene Kindheit und begibt sich auf Fantasie- und Erinnerungsreisen zum Plumpsklo der Großeltern und den Stullenbüchsen in der Schule. Er lobt die „zenmeisterwürdigen Aussagen“ seines Sohnes (beim Schritt vor die Tür: „Manchmal hell, manchmal dunkel!“), erinnert sich an die unter Deckenlampen an Schnüren kreisenden Plastikfledermäuse, das Springen in Regenpfützen und das „beglückende, streuselige Knistern“, wenn man als Kind mit dem Staubsauger „irgendwo Krümel gefunden hatte, die rasant die Kurven des Achterbahnrohrs nahmen“.

Das Spazierengehen mit Kinderwagen erlaubt dem Vater, endlich wieder ungeniert in der Öffentlichkeit Schafblöken imitieren zu dürfen oder stehen zu bleiben und Bauarbeitern bei der anstrengenden Arbeit zuzusehen. Der Erzähler überlegt, wie es wäre, wenn sein Radio im Winter auch einmal heiser würde, er seinem Fernseher zum Ausschalten ein Gutenachtlied singen müsste oder der Drucker einmal etwas Selbstgemachtes drucken würde. Er sieht die Söckchen seiner Frau auf dem Wäscheständer, von denen jedes „so hilflos und mit einem luftabschnürenden Knick im Bauch über dem Abgrund“ hängt. Jede Socke müsse „schreckliche Angst ausstehen runterzufallen“. Sich die Neugierde, Fantasie und den Blick eines Kindes auf die Welt zu bewahren, bedeutet, der Erkenntnis der Schönheit des Lebens näher zu kommen. „Ein schöner Gegenstand gibt einem den Glauben an die Menschheit zurück, er strahlt Liebe, Würde und Unschuld aus, wie eine Kinderzeichnung“. Diese Schönheit ist in Jochen Schmidts Roman auch in einer Socke zu erkennen.

Der Erzähler schreibt hauptberuflich Werbetexte für einen Katalog von „Die neue Hausfrau“, in dem es keinen Gegenstand zu kaufen gebe, „den man auch nur im entferntesten als schön bezeichnen könnte“. An Werbetexten muss er lange feilen, im Alltag mit seinem Sohn fällt ihm das Träumen leicht. Hier sammelt er Gegenstände, mit denen er Erinnerungen verbindet und „stürzt tief in die Zeit“: „Ich kann mich nur schwer von Dingen trennen, die mich zum Überleben brauchen.“ Das Sammeln ist ein Ausdruck des unstillbaren Bedürfnisses nach Konstanten im Leben, der Sehnsucht nach Vergangenem und der Angst vor Veränderungen. Deswegen fragt der Ich-Erzähler seine Frau auch nicht, ob sie ihn heiraten möchte („Wenn mich der organisatorische Aufwand nicht abschrecken würde, hätte ich ihr längst vorgeschlagen, zu heiraten“) und findet kreative Ausreden dafür, nicht umziehen zu müssen. Am liebsten würde er nur dann aus seiner Wohnung ausziehen, wenn die bisherige versiegelt und das alte Ich darin konserviert werden könnte. Und er betont: „Jeder hält den Zustand, den die Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens hatte, für den natürlichen, und irgendwann verlieren wir die Fähigkeit, uns über Änderungen zu freuen.“

Wie gerne würde er Augenblicke bewahren. Der Erzähler bedauert, dass er die Zeit nicht anhalten kann – was schließlich auch keine Stoppuhr könne, wie er sinniert. Er wird sich der eigenen Nichtigkeit gewahr, wenn er etwas vergisst und die Angst emporsteigt, zu altern. „Mal sehen, wann ich in meiner Rückentwicklung Karl in seiner Vorwärtsentwicklung begegnen würde, lange konnte es nicht mehr dauern.“ Ob man Angst vor der Zukunft haben muss? „Wurde nicht alles immer besser?“, fragt der Ich-Erzähler. Man müsse sich nur bewusst machen, dass das Beste im Leben immer gerade jetzt stattfindet. Er freut sich, dass seit der Geburt des Sohnes das Einkaufen noch spannender geworden ist: „Eine ganze Sektion der Einkaufswelt war jetzt auch für mich von Bedeutung“. Selbst im Krankenhaus zählt er die guten Dinge auf – „die vielen Steckdosen in der Leiste über dem Kopfende“, „die runden Plastikdeckel auf den Tellern, die jede Mahlzeit zu einer kleinen Zaubernummer machten“.

Seine ganze Kraft entfaltet das Buch erst im Vorgang des Lesens. Denn der Leser setzt die Reihe der von Jochen Schmidt angeführten Bilder unweigerlich fort. Nicht nur, aber insbesondere an jenen Stellen, an denen der Ich-Erzähler Listen von Träumen und Wünschen begonnen hat, an die er sich erinnert, entstehen Verbindungen, Veränderungen der Bedeutung vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen; es sind Ergänzungen vom Standpunkt des Lesers aus. Die Handlung ist nicht zu trennen von dem, was sie auslöst, die Ästhetik der Rezeption ungewöhnlich intensiv. Verstärkt wird der Eindruck der Nähe mittels allgemeingültiger Kindergartenerfahrungen, Bezügen zu Filmen und Liedern, die zum Repertoire jedes Mittdreißigers in der heutigen Zeit gehören dürften, und nicht zuletzt wegen der modernen Aufgabenteilung des Paares. Die Mutter scheint fast ausnahmslos im Büro zu sein, den Alltag bestreitet der Vater mit Karl. Die Beziehung des Erzählers zu Klara ist referentiell; der Leser lernt sie über ihre liebevollen Einkaufslisten und To-do-Listen, SMS und Erziehungsplänen für Karl kennen. Zuckersand hat ein hohes Identifikationspotenzial.

Beruhigend wirkt der Besuch eines Geschäfts mit japanischem Spielzeug, Scherzartikeln und kleinen Erfindungen. Denn er beweist Vater, Sohn und Leser, dass auch in einer sich schnell verändernden Welt künftig Raum für Fantasie und verrückte Ideen bleibt. Eine Spraydose mit heißer Luft, ein Nuckel mit verschiedenen Vibriermodi und eine Taschenlampe für Erdbeben schaffen Gelassenheit und Hoffnung – Hoffnung darauf, dass auch eine komplexe Welt, die den Frieden verweigert, mit Kinderaugen und Freude gesehen werden kann. Der Roman von Jochen Schmidt hat somit auch eine reinigende Wirkung auf seinen Leser. Zuckersand ist ein einfühlsames, ungewöhnliches, kurzweiliges und intensives Leseerlebnis.

Titelbild

Jochen Schmidt: Zuckersand. Roman.
Mit Illustrationen von Line Hoven.
Verlag C.H.Beck, München 2017.
206 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783406705090

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch