Der kühle Kopf und seine Verbrecher

In „Jeder Mensch hat seinen Abgrund“ gibt ein forensischer Psychiater und Gerichtsgutachter Einblick in seine Arbeit

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was fasziniert uns an Verbrechen? Auf den letzten Seiten seines Buches dreht Norbert Nedopil die Perspektive plötzlich um: Statt auf Täter, Opfer, Verbrechen oder Gesellschaft soll der Leser plötzlich auf sich selbst schauen. Warum hat er zu diesem Buch gegriffen? Was war der Reiz? Der Autor jedenfalls behauptet: „Mich persönlich faszinieren Verbrechen überhaupt nicht“.

Also gut, seien wir nicht albern. Natürlich ist etwas Sensationslüsternes im Spiel, wenn man sich ein Buch bestellt, dessen Untertitel Spurensuche in der Seele von Verbrechern heißt. Aber lüstern wonach eigentlich? Ein bisschen Verstehenwollen, ein bisschen Schaudern, ein bisschen selbstvergewisserndes Kopfschütteln über Abartiges? Nedopils These: „Seelenhygiene“. „Wir spalten das Böse in uns selbst ab, verlagern es nach außen, bearbeiten es dort […] und wir selbst bleiben sauber.“

Ob er wohl auch seinem Verlag schon vor Beginn des Projekts verraten hat, dass ihn Verbrechen nicht faszinieren? Ob Goldmann deshalb zum reißerischen Titel gegriffen hat? Und woher weiß die „SZ“-Redakteurin vom Klappentext eigentlich, dass der Psychiater Nedopil „die seltene Gabe hat, einen Schlüssel zu Menschen zu finden, die nicht entschlüsselt werden wollen“? Da bleiben Fragen offen.

Aber vielleicht war es ja auch andersherum: Nedopil, der seriös-graubärtige Professor, der seit 25 Jahren die forensische Psychiatrie an der Uniklinik München leitet, hat sich über den grellen Titel geärgert und die letzten Seiten quasi als Richtigstellung angefügt? Nicht um verkappte Voyeure zu bedienen, habe er das Buch verfasst, sondern als Aufklärer, um „Verständnis zu vermitteln“. Verständnis dafür, dass wir nicht davon ablassen dürfen, das „dünne Eis der Zivilisation“ tragfähiger zu machen. Jenes Eis, durch das die Gewaltverbrecher gebrochen sind und das überhaupt stets dünner ist, als wir meinen, und das die Barbarei immer nur vorläufig aus unserem Zusammenleben heraushält.

Und tatsächlich, faszinierende Verbrecherstories, schicksalshafte Wendungen, Schockeffekte und literarische Brillanz sucht man zwischen diesen Buchdeckeln vergebens. Nedopil ist kein Schriftsteller, kein Ferdinand von Schirach, er ist Professor. Sein Text ist bestimmt von gutachterlicher Umsicht und Sachlichkeit. Sein Credo ist der „kühle Kopf“. Jede Begutachtung verlange Vorurteilsfreiheit und Respekt vor dem Individuum. Moralische Urteile? Nur in Ausnahmefällen nach Feierabend. Schlaflose Nächte? Ganz selten.

Vom Standpunkt der evidenzbasierten Wissenschaft stellt Nedopil Ursachen und Risikofaktoren für Verbrechen vor: Tätertypen, genetische Einflüsse, Herkunftsfamilien, Gier, Neid, Narzissmus, Sadismus, sexuelle Perversion, Kränkung, Beziehungsdramen. Darüber hinaus juristische Aspekte, die polizeilichen Ermittlungen, Haft, Resozialisierung, therapeutische Möglichkeiten und schließlich die Medien und ihre verzerrte Form der Berichterstattung. Herausgekommen ist ein solides Sachbuch für jedermann, vom Anspruch niederschwellig – mit der Betonung auf nieder: „Menschen in Bedrängnis erfahren oft eine Denkblockade. Die eigene Situation kann nicht mehr logisch überdacht werden, es gibt scheinbar keinen Ausweg, es kommt zum Kurzschluss.“ So hört es sich ein ums andere Mal an, wenn Nedopil die „Abgründe“ von Verbrecherseelen auslotet.

Nun könnte man sich mit der Trockenheit der dargebotenen Informationen ja noch anfreunden, aber leider sind die meisten Inhalte auch einigermaßen vorhersehbar. Dass zerrüttete Familien, schlechte Vorbilder, Alkoholeinfluss, Kränkungen, eigene Gewalterfahrungen und ein impulsiver Charakter Menschen eher zu Tätern machen – man hat es einfach schon oft gehört. Oder kann es sich zumindest denken. Auch die Schutzfaktoren gegen Rückfälligkeit überraschen nicht: Eingehen einer Beziehung, Übernehmen von Verantwortung, Wechsel des sozialen Umfelds, Strukturierung des Alltags durch Arbeit, sinnhafte Freizeitgestaltung. Man kann es dem Autor ja nicht anlasten, dass Vieles aus seinem Fachgebiet in vager Form bereits Allgemeinwissen ist. Dennoch ist nicht nur die Spannung bei der Lektüre rar, auch die Aha-Momente sind es.

Beeindruckend dagegen ist, wie erfolgreich die Verbrechenseindämmung gerade auch in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten war: Seit 1990 hat sich die Zahl der Gewalttoten in Deutschland mehr als halbiert! Auch die von Nedopil sehr gelobte Rückfallprävention in Form sozialtherapeutischer Behandlung nach der Haftentlassung funktioniert: Weniger als ein gravierendes Verbrechen durchschnittlich pro Jahr durch einen entlassenen Straftäter ist zu verzeichnen. Es macht nachdenklich, wie wenig diese hervorragenden Entwicklungen in die Öffentlichkeit dringen. „Wenn Sie solche Statistiken in der Medizin hätten, würden Sie den Nobelpreis kriegen“, sagt Nedopil im Interview. Als Gerichtsgutachter sei dagegen ein Rückfälliger genug, um an den Pranger gestellt zu werden.

Die Kriminalstatistiken sind rückläufig, das mediale Getöse nimmt beständig zu. Good News sind langweilig. „Wie erklären Sie sich die Zunahme von Gewaltverbrechen?“ wird Nedopil immer wieder von Journalisten gefragt. Wenn er dann richtig stellt, dass die Gewalt deutlich zurückgegangen sei, kommt schnell die nächste Frage: „Was kann die Politik tun, um die Zunahme der Gewalt einzudämmen?“

Wer auf der Suche nach einem soliden Einstieg ins Thema ist, leicht zu lesen, schnörkellos und mit einigen Fallbeispielen garniert, der ist mit Nedopils Buch über die Grundlagen der Arbeit eines forensischen Psychiaters und Gutachters gut bedient. Wer mehr oder anderes als das erwartet, sollte sich eher bei den nicht ganz so kühlen Köpfen umschauen.

Titelbild

Norbert Nedopil: Jeder Mensch hat seinen Abgrund. Spurensuche in der Seele von Verbrechern.
Goldmann Verlag, München 2016.
318 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783442314423

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