Unter dem Deckmantel der Familienidylle

In seinem Debütroman „Meine fünf Jahre als Vater“ zeichnet Bjarte Breiteig ein ungewöhnliches Bild von einem Missbrauchstäter

Von Anita RotmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anita Rotmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bjarte Breiteig war bislang vor allem für seine Kurzgeschichten bekannt. Von dem norwegischen Autor erschienen im Luftschacht Verlag der Erzählband Von nun an (2010) und Phantomschmerzen (2013) in deutscher Übersetzung. Seine Geschichten kreisen um Menschen, die sich in ungewohnten und daher unheimlichen Situationen wiederfinden, die meist von einem inneren Schmerz oder tiefer Sehnsucht erfüllt sind. „Mit seinen hauchzarten psychologischen Zeichnungen von Menschen und ihren Lebensbedingungen öffnet dieses Buch die Seele“, schrieb Carsten Klook von „Die Zeit“ über Phantomschmerzen. Weitere Pressestimmen betonten die Kunst des Autors, mit schlichter Sprache eine Intensität zu erschaffen, die gerade durch bewusste Auslassungen ihre Wirkung entfalte. Jetzt hat der 42-jährige Osloer mit Meine fünf Jahre als Vater sein Romandebüt geliefert – und erneut bewiesen, dass es oftmals das Unausgesprochene ist, das eine Atmosphäre des Grauens erzeugt.

Der Roman beginnt mit einem Abendessen. Ein Familienvater sitzt mit seinen beiden Söhnen, die im Kindergartenalter sind, und seiner Frau Gina am Tisch, als die Polizei an der Haustür klingelt. Martin, der seit kurzem als freier Schriftsteller tätig ist, nimmt den unerwarteten Besuch nur widerwillig entgegen: Er hat gerade begonnen, seine erste Erzählung zu verfassen und sich auf einen Abend am Schreibtisch gefreut. Die beiden Polizisten fragen ihn, ob er eine Selma Strøm, vier Jahre alt und die Tochter einer gewissen Lillian, kenne; sein Wagen wurde am Sonntagabend vor dessen Haus gesichtet. Martin bestreitet das, gibt an, an besagtem Abend bei seiner an Alzheimer erkrankten Mutter gewesen zu sein – doch er lügt. Die Polizisten sagen nicht, um was es geht, dennoch wird dem Leser durch Andeutungen des Ich-Erzählers bald bewusst, dass es hier um Kindesmissbrauch geht. Die sorgsam aufgebaute Fassade der heilen Familienwelt beginnt zu bröckeln.

Es stellt sich heraus, dass Martin die alleinstehende Mutter des Opfers und gemeinsame Freundin des Ehepaares nicht nur kennt, sondern auch eine Affäre mit ihr hat – mehr noch: Sie waren schon einmal ein Paar, bis er Gina kennenlernte und Lillian mit ihr betrog. Schließlich lernte Lillian den Schriftsteller Sølven kennen, mit dem sie die gemeinsame Tochter bekam. Nach kurzer Zeit verließ dieser jedoch Frau und Kind.

Der weitere Handlungsverlauf ist von diversen Rückblenden geprägt, in denen sich Martin an das Kennenlernen mit Lillian und Gina erinnert. In dieser Art Dreiecksbeziehung scheint er den sensiblen, fürsorglichen Part zu übernehmen. Er ist es, der Lillian immer wieder über ihre schweren depressiven Phasen auch über die Zeit der Trennung hinaus hinweghilft. Er ist es, der die ehrgeizige Gina bei ihren beruflichen Ambitionen unterstützt und sämtliche häusliche Pflichten sowie die Erziehung der beiden Söhne bereitwillig übernimmt, da seine Frau „nicht gerade in solchen Mama-Dingen aufgeht“. All diesen Herausforderungen widmet er sich mit Geduld und einem ungewöhnlich stark ausgeprägten Einfühlungsvermögen – und das trotz seiner eigenen psychischen Labilität.

Das Bild, das Breiteig von seinem Protagonisten zeichnet, ist ein unerwartetes. Schnell wird deutlich, dass es sich bei Martin keineswegs um einen brutalen, gewalttätigen Pädophilen handelt, sondern um einen hoch sensiblen, emotional gebrochenen Mann, der sich permanent und mit strengem Blick selbst reflektiert, während er sich für die Menschen in seiner Umgebung aufopfert. Dieser Mann ist schnell zu Tränen gerührt: „Denn da war es bereits wieder, das altbekannte Brennen hinter den Augen – diese Schwäche, die mir all die Jahre über so viele Demütigungen eingebracht hatte und die mir auch jetzt nicht erspart bleiben sollte.“ Regelmäßig wird er von Verlustängsten übermannt, sobald Gina und die Kinder das Haus verlassen. Bei diesen Wesenszügen fällt es als Leser nicht schwer, Mitgefühl für Martin aufzubringen. Andererseits ist da diese Dunkelheit, die er selbst in sich erahnt und die sich im Laufe der Handlung immer weiter auszubreiten scheint: „Ich hatte etwas Erschreckendes an mir. Etwas Brutales. Ich, der ich mich zuweilen wie ein grauer Durchschnittsmensch fühlte, wie ein Pantoffelheld, ein unbeholfener Bursche – ich war eine Bedrohung.“ Er ist sich seines Handelns ständig bewusst und bereit, die Konsequenzen dafür zu tragen: „Ich hatte immer gewusst, dass ich meine Strafe bekommen würde – nur nicht wann, oder wie. Und ich wollte bestraft werden.“

Einzig und allein die äußere Form des Textes lässt an einigen Stellen zu wünschen übrig. So zeugt das Buch von ungewöhnlich vielen und daher sofort ins Auge stechenden Übersetzungsfehlern und unordentlich gesetzten Passagen. Doch glücklicherweise mindern diese das Lesevergnügen nicht.

Es ist das Ungesagte, das Ausgesparte, das Breiteigs Roman über das hochsensible Thema Kindesmissbrauch so besonders macht. Der Autor erspart der Leserschaft explizite Schilderungen des Missbrauchs, er nähert sich dem Thema, indem er sich in die Gedankenwelt des Protagonisten begibt: feinfühlig, behutsam und in schnörkelloser Sprache. Der Text erzeugt einen Sog, der den Leser immer tiefer in die Geschichte hineinzieht. Was bleibt, ist eine beklemmende Leere und der Gedanke an die Folgen des Missbrauchs, denn am Ende stellt der Protagonist die provokante Frage, ob der langwierige Prozess und die Fragen der Polizei dem Kind womöglich noch mehr geschadet hätten als der Missbrauch selbst. Das Breiteig sich damit auf dünnem Eis bewegt, ist ihm sicher bewusst. Man mag darüber empört sein oder nicht – Literatur kann und sollte kritisch hinterfragen, auch wenn es manchmal unangenehm ist.

Titelbild

Bjarte Breiteig: Meine fünf Jahre als Vater. Roman.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Bernhard Strobel.
Luftschacht Verlag, Wien 2016.
319 Seiten, 24,20 EUR.
ISBN-13: 9783902844590

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