Blick durch den Staub der Jahrhunderte

Volker Hagedorn erzählt Johann Sebastian Bachs Familiengeschichte

Von Michael PreisRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Preis

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es hätte ein langweiliges Buch werden können: über Recherchen in mitteldeutschen Stadtarchiven und über die Vornamen der weitverzweigten Bach-Familie. Volker Hagedorn aber hat ihren verwirrenden Stammbaum mit den sich wiederholenden Veits, Johanns, Christophs, Christians und anderen vom „Staub der Jahrhunderte“ befreit. „Stimmt es“, so fragt der Autor von Bachs Welt augenzwinkernd, „dass [dieser Staub] Pilzsporen enthält, die bei aktenstöbernden Historikern leichte Rauschzustände erzeugen?“

Aus solchen mutmaßlichen Delirien ist auf mehreren hundert Seiten eine Art historische Reportage erwachsen, und das zumindest im doppelten Sinne: Erstens hütet sich Volker Hagedorn davor, diese „Familiengeschichte eines Genies“, die über Jahrhunderte reicht, in die Erzählform eines historischen Romans zu kleiden und den dokumentarischen Anspruch aufzugeben angesichts unsicherer Quellen. Zweitens wechselt er immer wieder zwischen der Zeit der Bachs und seiner eigenen. Und während die erzählte Zeit in ihren „fiktionalen Nahaufnahmen“ manchmal fast so wirkt, als sei Volker Hagedorn selbst dabei gewesen, sind die immer wieder eingeschobenen Passagen auf der Ebene der Erzählzeit nicht fiktional, sie sprechen nicht literarisch, sondern referieren eher und beschreiben Umgebung und Atmosphäre, in denen Hagedorn recherchiert. Dieses Buch erzählt ein praktizierender Musiker und Kulturjournalist, kein Romanschriftsteller.

Quellenarbeit

Frei mit den Quellen verfährt er allerdings trotzdem gleich zu Beginn: Veit Bach, der Ururgroßvater Johann Sebastians, wurde in Hagedorns Version der Geschichte von Wegelagerern überrascht, als er sich – aufgebrochen aus Pressburg – mit seinen beiden Söhnen gerade eine Meile hinter Nürnberg befindet. Ob es diesen Überfall tatsächlich gegeben hat, ist nicht belegt. Der Autor dieser Geschichte gibt das auch gar nicht vor. Stattdessen gesteht er offen, dass der Überfall auf die Bachs, „präzise in einem Brief geschildert“, tatsächlich 1613 dem italienischen Komponisten Claudio Monteverdi passierte.

Volker Hagedorn benutzt also eine historisch beglaubigte Begebenheit, um ein mögliches Ereignis lebendiger zu gestalten, für das ihm kein gleichwertiger Beleg vorliegt. Es ist zwar nicht bekannt, ob man den Bachs am Wegrand aufgelauert hat. 1591 aber hätten auch Veit und seine Söhne durchaus von Straßenräubern überfallen werden können. Indem Hagedorn das nicht ganz Unwahrscheinliche präsentiert, zeigt er von Beginn seiner Geschichte an, dass er mit den Quellen sorgfältig verfährt, aber nicht pedantisch, und dass er die Nähe zu seinen Figuren sucht, während er in einer souveränen Distanz zum Thema schreibt. Noch an mehreren Stellen in Bachs Welt arbeitet Volker Hagedorn so nachvollziehbar kreativ mit den Quellen, zum Beispiel in der Schilderung der Pest mit den Augen Alessandro Manzonis.

In der Technik, historische Zeugnisse aneinander zu montieren, erinnert Bachs Welt fast ein bisschen an Parodieverfahren in der Bachfamilie selbst. Johann Sebastian war sich nicht zu schade, aus seinen eigenen Werken abzuschreiben, die Zitate zu kombinieren und daraus etwas Neues zu kreieren – und seine Söhne taten es ihm gleich: Man muss sich nur die Matthäuspassion von Carl Philipp Emanuel Bach anhören, wo Vieles nur geklaut ist vom Vater. Zu den Zeiten der Bachs scherte man sich wenig um Originalität, wie sie die Romantiker später lieben lernten. Parodien waren eine Art höheres Recycling, das die ursprüngliche Komposition ehrte, deren Ursprung man vielleicht gar nicht kannte.

Eine historische Reportage

Am Ende von Volker Hagedorns Bach-Buch laufen die Fäden dieser historischen Reportage zusammen. Die Vergangenheit der Bachs trifft auf unsere Gegenwart. In einem eigenen Kapitel erzählt der Autor von der Odyssee des Altbachischen Archivs, einer der wichtigsten Quellen zu dieser legendären Musikerdynastie. Und mehr noch blendet Volker Hagedorn hier die Ebenen übereinander: Einerseits schildert er erneut, wie spannend es sein kann, sich mit der Geschichte der Quellen zu beschäftigen. Andererseits macht er sehr anschaulich, dass diese Geschichte und ihre Interpretation die Geschichte der Bachs ist, wie und soweit wir sie uns eben überhaupt zugänglich machen können.

In ebendiese Realität lässt Volker Hagedorn uns ganz eintauchen, indem er die Ereignisse rund um das Altbachische Archiv heraufbeschwört: Die Geschehnisse reichen über den Kalten Krieg bis in die Ukraine, wo gut 200.000 alte Notenseiten lange lagerten, bis sie im Dezember 2001 zurück nach Deutschland überführt wurden. Auch damals war es heikel, über solche gewaltigen Kulturgüter zu verhandeln. Ob das Altbachische Archiv heute überhaupt zu retten gewesen wäre?

Medienkritik

Passagenweise könnte man Hagedorns Geschichte als historischen Roman missverstehen, so anschaulich und packend ist sie auf der Ebene der erzählten Zeit geschrieben, so nahe führt sie die Leser an längst vergangene Ereignisse heran, seien es Familienfeste – wie die große Hochzeit in Ohrdruf am 29. April 1679, einige Jahre vor der Geburt von Johann Sebastian Bach – oder die Zeitläufte, mit denen die Bachs konfrontiert wurden: der Dreißigjährige Krieg, die Pest, die späten Hexenverfolgungen.

Der „Druck von unten“ spielte bei diesen Hetzjagden eine große Rolle, so schildert es Friedrich von Spee in seiner Cautio Criminalis, und dieser Druck lässt Volker Hagedorn nicht zufällig an die Sozialen Netzwerke in unserer Zeit denken. Hagedorns Beispiel liegt im Kontrast zu seiner Methode nahe: Die besagten Netzwerke lassen sich als Medien verstehen, die mittlerweile eine Nachrichtenrealität eigener Geltung schaffen, indem sie ihre Medialität geradezu systematisch ausblenden und damit die Selektionsmechanismen unsichtbar machen, nach denen sie Informationen generieren, streuen und damit Stimmungen erzeugen sowie eine ganz eigene Form von Präsenz.

Volker Hagedorns Blick auf die Bachs dagegen präsentiert sich als viel vorsichtiger. Er unterscheidet sehr genau zwischen Nähe und Unmittelbarkeit. Und das hat Konsequenzen für uns Leser: Wir sind – insgesamt gesehen – entschieden nicht mittendrin, dafür aber ganz dabei. Wie Hagedorns zwischendurch eingestreute musikalische Analysen das Ohr öffnen für so manchen noch zu entdeckenden Schatz aus Tönen, so schärft die Komposition dieses intelligenten Buches ein Stück weit den Blick für die Welt, in der wir uns alltäglich bewegen.

Titelbild

Volker Hagedorn: Bachs Welt. Die Familiengeschichte eines Genies.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016.
416 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783498028176

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