Von einem, der auszog, um zu helfen

Die Geschichte des argentinischen Indios Eisejuaz

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dies ist ein ungewöhnlicher Roman. Seine Autorin, Sara Gallardo (1931-1981), ist in Deutschland unbekannt, abgesehen von ein paar Erzählungen, und das Thema ein überraschendes Novum in der neueren Literatur Argentiniens: Erzählt wird die Geschichte eines Indios, der in den Anden in der Nähe von Salta lebt – also fast schon in Bolivien.

Eisejuaz, Sohn eines Kaziken, der bei seinem Aufenthalt in einer Missionsstation auch einen christlichen Namen erhielt, Lisandro Vega, ist bärenstark und hat auch den Charakter, Anführer seines stark dezimierten Volkes zu werden. Aber er lehnt ab, was ihm die Indios übel nehmen, denn sie brauchen jemanden, der sie beschützten könnte, und vor Eisejuaz haben alle – vor allem die Weißen – großen Respekt. Er war Soldat, arbeitete dann aber lieber in einer Hotelküche, spülte dort die Teller, später verdingte er sich in einem Sägewerk, wo man ihn sehr schätzte, schließlich nahm er nur noch Gelegenheitsjobs an, um Essen und Trinken zu erhalten, d.h. er vergeudete alle seine Fähigkeiten. Warum?

Lisandro glaubte stets, eines Tages das Wort des Herrn gehört zu haben, der ihm befahl, einen Menschen zu retten. Als der ihm unbekannte Paqui, ein Weißer, nun todkrank vor ihm auf der Straße liegt, nimmt er ihn mit zu sich nach Hause und pflegt ihn. Ist er seine Aufgabe? In Rückblenden erfahren wir das Schicksal von Eisejuaz, den Tod seiner jungen Frau, die Schwierigkeiten, die er mit seiner physischen Kraft hat und die er immer wieder unter Kontrolle bringen muss. Ein anderes, gewaltiges Problem ist der Alkohol: Erzübel der Indios, die keine ordentliche Arbeit bekommen, zu wenig zu essen haben und im selbstgebrannten Schnaps die einzige Abwechslung finden. Das Los der wenigen überlebenden Indios Argentiniens ist unübersehbar von Not und Elend geprägt: Für sie gibt es keine Schulen, außer in den Missionarsstationen, sie besitzen kein eigenes Land mehr, werden schlecht bezahlt und ausgebeutet. Indios stinken, sind barbarisch und nicht zu zivilisieren, so behaupten es jedenfalls die Weißen. Da hilft nur noch der Glaube auf ein besseres Leben im Jenseits.

Wie sehr sich die Situation der Indios in einem Jahrhundert verschlechtert hat, wird in einem Vergleich deutlich. Wenn man den großartigen autobiographischen Bericht von Lúcio V. Mansilla, Una excursión a los ranqueles (1870), liest, der 1925 in Auszügen unter dem Titel Die letzten wilden Indianer der Pampa auch in Deutschland publiziert wurde, sieht man plötzlich, wie falsch all diese gängigen Vorurteile sind. Die argentinischen Regierungen hatten die Indios in immer neuen Kriegen im 19. Jahrhundert nahezu komplett ausgerottet, lieber sollten europäische Immigranten das weite Land bevölkern. Mansilla, Chef einer der vielen Militärexpeditionen gegen die Indios, lernte jedoch einige Kaziken näher kennen und war tief beeindruckt: Er sah keine Barbaren, sondern erlebte Gastfreundschaft und höfliche Sitten innerhalb des Clans, bewunderte die Kunstfertigkeit von Schmuck und Töpferwaren und vieles mehr. Es waren funktionierende Gemeinschaften, die sich zivilisiert verhielten – mehr noch als die Soldaten. Das konnte und wollte niemand in Buenos Aires glauben: Die Feldzüge gingen weiter, bis die Indios unterworfen und dezimiert waren.

Sara Gallardo ist die erste Autorin, die sich hundert Jahre später wieder mit den Indios beschäftigt und ihren Protagonisten sogar in der Ich-Person reden lässt. Viele Jahre hat sie sich, eine Weiße aus Buenos Aires, intensiv mit den Lebensbedingungen der indigenen Bevölkerung der Provinz Salta beschäftigt. Sie publizierte Reportagen und Artikel über das, was sie beobachten konnte. Schließlich entstand der Roman Eisejuaz, in den reale Erfahrungen und Lebensgeschichten von Indios eingeflossen sind.

Eisejuaz hört Stimmen und ist fest davon überzeugt, zu etwas berufen zu sein. Immer wieder erhält er Anweisungen, mal im Traum, mal bei der Arbeit… und muss diesen vagen Geboten folgen. Wie abwesend vergisst er dann stets alles um sich herum, will klarere Auskünfte erhalten. Auch sein Verhältnis zu den Tieren ist bemerkenswert: Er sieht Schlangen, kurz bevor sie angreifen wollen, Tiger schlagen einen Bogen um sein Haus, mit Eidechsen kann er reden.

Wegen seiner ‚Berufung‘ sorgt er also für Paqui, den er nicht mag und dem er nicht vertraut, verschafft ihm Essen und sogar Alkohol, denn ihn zu pflegen ist seine Pflicht. Auch als dieser ihn verrät und Lügenmärchen über ihn verbreitet, verliert Eisejuaz nicht seine feste Überzeugung, dass er getan hatte, was er musste. Später kommt es zwar zu einer Art ausgleichender Gerechtigkeit zwischen Paqui und ihm, aber all dies ist ihm nicht wichtig – er hatte nur seinen Stimmen folgen, dadurch zur Ruhe kommen und vielleicht sogar das Heil erlangen wollen. Der Kampf, den er ständig mit seiner Kraft, sich selber und seinen Stimmen führt, wird in einem langen Monolog – dem Roman – einprägsam und für den Leser nachvollziehbar erzählt.

Sara Gallardo gelingt es überzeugend, die Sprache von Eisejuaz sowie seine Zerrissenheit zwischen altüberlieferten, manchmal animistischen Denkformen und der Akkulturation der dominanten spanischen Kultur, die ihm selbst gar nicht bewusst war, wiederzugeben. Zur Überraschung vieler Argentinier wählte der Autor und Literaturwissenschaftler Ricardo Piglia 2001 das Werk für seine Bibliothek der 50 wichtigsten Bücher des Landes aus – ein postumer Ritterschlag für die Autorin.

Auch der Übersetzer Peter Kultzen verdient ein besonderes Lob: Die rhythmische Diktion des Indios ins Deutsche zu übertragen, sein fehlerhaftes Spanisch mit vielen indigenen Redewendungen wiederzugeben, ohne dabei auf deutsche Regionalismen als Hilfsmittel zurückzugreifen, war eine enorme Herausforderung: Er hat sie bravourös gemeistert.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Sara Gallardo: Eisejuaz.
Übersetzt aus dem argentinischen Spanisch und mit einem Nachwort von Peter Kultzen.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2017.
176 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783803132857

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