Zwischen Hoffen und Verzweifeln

In seinem neuen Roman „Die Dunkelheit zwischen den Sternen“ erzählt Benjamin Lebert von einem Kinderheim in Kathmandu

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie heißen Achanda, Shakti und Tarun – drei von 15 Kindern zwischen 6 und 15 Jahren, die in einem Heim Zuflucht gefunden haben, das für sie zu einer Art Ersatzelternhaus geworden ist. Ihre richtigen Eltern haben sie vor Jahren verkauft – in Zwangsarbeit oder Prostitution. Von dort gelang ihnen die Flucht und auf Kathmandus Straßen hat sie schließlich Śarana, dessen Name „Zuflucht“ bedeutet, aufgelesen und sie in sein durch Spenden betriebenes Recovery Home aufgenommen, eine wohltätige Einrichtung, in der sich die Kinder frei fühlen und auf bessere Zeiten hoffen können. Drei freiwillige deutsche Helfer stehen dem Hausvater und der Hausmutter dieses Heims zur Seite, Menschen, die aus einer für die Kinder unvorstellbar fernen Welt kommen, in der es allen gut geht und in die sie zurückkehren können, wann immer sie wollen.

Die Dunkelheit zwischen den Sternen ist Benjamin Leberts (Jahrgang 1982) siebter Roman. Nach dem großen Erfolg seines mit 17 Jahren publizierten Erstlings Crazy (1999), den er mit den folgenden Büchern, die teilweise sehr kontrovers diskutiert wurden, nicht zu übertreffen vermochte, sind auch Leberts aktuelle Helden wieder junge Menschen auf der Suche nach sich selbst und ihrem Platz in der Welt. Allein ein zweimonatiger Aufenthalt in einem nepalesischen Kinderheim, der zu Ende ging, kurz bevor die verheerenden Erdbeben vom April/Mai 2015 einsetzten und im Kathmandutal und den umliegenden Regionen fast 5.000 Todesopfer forderten, hat den Autor mit Menschen bekannt werden lassen, für die jene Suche noch eine ganz andere Dimension besitzt als für die Helden seiner bisherigen Bücher. Hatten diese Probleme, sich mit ihren jeweiligen Eigenheiten, verschiedenen Lebensvorstellungen Zukunftserwartungen und nicht zuletzt Behinderungen in die bestehende Gesellschaft hineinzufinden, so handelt es sich bei Kindern wie den drei im Roman beschriebenen um Ausgestoßene, um Menschen, die niemand – nicht einmal die eigenen Eltern – mehr haben will, weil sie eine existenzielle Belastung darstellen.

Das die Hauptstadt Nepals erschütternde Beben vom 25. April 2015 ist der Punkt, auf den sich die Handlung in Leberts Roman zubewegt. In zehn Abschnitte unterteilt, deren erster mit „Noch neun Tage“ überschrieben ist, während der Leser am Ende des Buches im „Heute“ der Katastrophe ankommt, werden in jedem dieser Romanteile aus drei unterschiedlichen Perspektiven das Leben im Heim, die kleinen Freuden und großen Sehnsüchte der Kinder, ihr Sehnen nach Geborgenheit, Eifersüchteleien und der Kampf untereinander um Anerkennung in einer Welt, die jedem von ihnen bisher nur Enttäuschungen und Demütigungen bescherte, beschrieben. Dabei gilt es immer wieder, seine Erwartungen herabzuschrauben, mit Enttäuschungen fertig zu werden und Rückschläge hinzunehmen – aber auch an seinen Träumen und Hoffnungen, die noch das Beste in jedem dieser Leben sind, festzuhalten.

Shakti hat sich in den deutschen „Brother“ verliebt, obwohl ihr von Anfang an bewusst ist, wie unterschiedlich ihrer beider Erfahrungen sind und es keinen gemeinsamen Nenner gibt, worauf sich eine Zukunft aufbauen ließe: „Du weißt nichts vom Kämpfen. Gar nichts. Du lebst in einem schönen, friedlichen Land, wo die Träume beschützt werden …“ Achanda seinerseits spart auf ein Motorrad, mit dem er hofft, Shakti in ein gemeinsames Leben entführen zu können. Damit dieser Traum kein bloßer Traum bleibt, muss er freilich immer öfter von seinem geraden, ehrlichen Weg abweichen, stehlen und zwielichtigen Gestalten bei der Erfüllung ihrer dubiosen Wünsche zur Seite stehen. Tarun schließlich, der Jüngste und Zornigste der drei, hat sich in den Kopf gesetzt, ein Mädchen zu retten, das offensichtlich im Haus einer reichen Frau gewaltsam festgehalten wird. Ob Kalpana, wie er die seine Hoffnung verkörpernde Unbekannte nennt, tatsächlich existiert oder nur genauso eine Fantasie des hitzköpfigen Jungen ist wie seine Vorstellung eines großen Feuers, das kommen und die Erde von Leid und Elend reinigen wird, bleibt bis zum Schluss unklar.

Und selbst der Leiter des Recovery Home, Śarana, hilfsbereit, geduldig und nie aus der Ruhe zu bringen, sieht sich eines Tages vor die Entscheidung gestellt, entweder mit den knappen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, weiterzuwirtschaften oder das viele Geld, dass ihm ein alter Mann für Shakti anbietet, für die Erweiterung seines Heims zu verwenden. Die Folgen seiner schweren Herzens getroffenen Entscheidung muss das 14-jährige Mädchen allerdings nicht mehr tragen – im Chaos des mit zerstörerischer Gewalt über Kathmandu hereinbrechenden Bebens tötet es aus Notwehr seinen neuen Besitzer.

Die Dunkelheit zwischen den Sternen setzt sich mit Kinderschicksalen auseinander, wie es sie millionenfach heute auf unserem Planeten gibt. Benjamin Lebert hat seinen Roman bewusst aus den Perspektiven seiner drei Helden geschrieben, alle Eurozentrik beim Blick auf die Situation vermieden. Um die Drastik ihrer Schicksale noch zu verstärken, versetzt er sich an mehreren Stellen des Romans zusätzlich in die Situation eines alten, sein Leben lang geprügelten Hundes, dessen Instinkte ihm freilich das Heraufkommen des Bebens eher anzeigen als den Menschen, die ihm nie Gutes wollten. Nicht anders als diesem Tier ist es den beiden Jungen und dem Mädchen, die der Roman neun Tage lang begleitet, in ihren bisherigen Leben ergangen. Allein Achanda, Shakti und Tarun sind nicht ganz ohne Hoffnung. Wie Sterne an einem dunklen Himmel – darauf bezieht sich das Bild im Titel des Romans – leuchten Träume und Sehnsüchte in ihr Dasein hinein. Aber reicht deren Licht aus gegen die unendliche Schwärze ringsum? Leberts Buch lässt am Ende offen, ob seine Helden das Beben überleben. Im Gedächtnis des Lesers aber bleiben sie noch lange.

Titelbild

Benjamin Lebert: Die Dunkelheit zwischen den Sternen. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
303 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783103973129

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch