Phantasie und darüber hinaus

Zwei Science-Fiction-Klassiker von H.G. Wells neu übersetzt

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Erfindung ist kein Selbstzweck, und man kann sich nichts Alberneres und Verstiegeneres vorstellen, als wenn so etwas von schlechten Schriftstellern versucht wird, die dieses elementare Prinzip nicht verstehen. Jeder kann sich umgekrempelte Menschen oder hantelförmige Welten oder eine Schwerkraft, die abstößt, ausdenken. Was solche Vorstellungen interessant macht, ist ihre Überführung in alltägliche Umstände und der strenge Ausschluss anderer Wunderdinge aus der Geschichte. Dann wird sie menschlich.

Mit diesen Worten kommentierte H.G. Wells (1866–1946) in seinem Vorwort zu einer 1934 veröffentlichten Anthologie Seven Famous Novels die Aufgabe einer phantastischen Literatur: Es könne nicht einfach darum gehen, Schweine oder Häuser fliegen oder Leute sich in Tiere verwandeln zu lassen. Nicht alles dürfe in phantastischer Literatur beliebig möglich sein, denn „wo alles passieren kann, ist nichts mehr von Interesse“. Mit anderen Worten: Nicht auf das Phantastische als solches komme es an, sondern entscheidend sei, hier und da ein einzelnes phantastisches Element in eine dem Leser ansonsten bekannte Umwelt einzuführen, um so, im Sinne einer allgemeineren Gesellschaftskritik, „unsere natürlichen Reaktionen des Staunens, der Furcht oder der Bestürzung auszulösen und zu verstärken.“

Staunen, Furcht und Bestürzung vermögen Wells’ Romane wie The Time Machine (1895) und The War of the Worlds (1898) – beide bereits Teil der erwähnten Sammlung von 1934 – in der Tat auch noch mehr als 100 Jahre nach ihrem Erscheinen auszulösen. Das macht sie zweifellos zu Klassikern ihres Genres, der Science-Fiction, dessen Etablierung H.G. Wells ja maßgeblich zu verdanken ist – zeitgenössisch sprach man allerdings von Scientific Romance –, und vielleicht auch zu Klassikern der Weltliteratur überhaupt. Hierzulande darf an dieser Stelle freilich der allfällige Hinweis nicht fehlen, dass das Genre von der deutschsprachigen Literaturkritik immer noch konsequent unterschätzt wird.

Mit beiden Büchern gelang es Wells, später immer wieder aufgegriffene Topoi der Literatur- und Kulturgeschichte zu prägen: Der Begriff der Zeitmaschine geht auf ihn zurück und der Vorstellung, durch die Zeit zu reisen oder dass eine außerirdische Zivilisation eine Invasion der Erde beabsichtigen könnte, gab Wells eine bis in die Gegenwart nachwirkende Bildwelt mit. Der Erfolg beider Stoffe in der Literatur, im Rundfunk (einschließlich einer Orson-Welles-Adaption des Kriegs der Welten, an die man sich heute immer noch erinnert, weil sie 1938 angeblich eine Massenpanik in den Vereinigten Staaten ausgelöst haben soll) und im Kino spricht für sich. 2005 war es Steven Spielberg, der den Krieg der Welten für Hollywood verfilmte, mit Tom Cruise in der Hauptrolle der hier nach Amerika verlegten Handlung.

Dass es schon dem Autor um mehr ging, als nur einen phantastischen Stoff publikumswirksam zu präsentieren, ist beiden Büchern heute noch deutlich anzumerken. In der Zeitmaschine resümiert der Ich-Erzähler seine Begegnung mit einem namenlosen Zeitreisenden – der habe ihm und anderen Gästen erst von der Erfindung einer Maschine berichtet, die es möglich mache, sich nicht nur durch den Raum, sondern auch durch die Zeit zu bewegen. Daraufhin habe er auch wirklich eine Reise durch die Zeit unternommen und seinen ungläubigen Zuhörern von der Welt im Jahr 802.701 berichtet. Zu dieser Zeit sei die Menschheit in zwei Teile zerfallen: in die geschlechtslosen Eloi, die unbedarft und sorgenlos in einem scheinbaren Paradies lebten, und die unterhalb der Oberfläche im Dunkeln wohnenden Morlocks, die dort die zum Überleben der Eloi notwendige Arbeit verrichteten, sich aber auch vom Fleisch von Zeit zu Zeit nächtens eingefangener Eloi ernährten.

In Krieg der Welten hingegen blickt der Erzähler auf eine gescheiterte Invasion der Marsianer auf der Erde zurück, genauer gesagt in England. Streng genommen kann von einem regelrechten Krieg der Welten gar nicht die Rede sein, denn das britische Militär erweist sich dem außerirdischen Gegner in keiner Weise als gewachsen. Wohl weil sich die Lebensumstände auf ihrem Heimatplaneten mehr und mehr verschlechtert haben, schicken die Marsbewohner einige zylinderförmige Raketen Richtung Erde, wo sie in Surrey vor den Toren Londons aufschlagen – gewissermaßen vor den Füßen des Erzählers, der gerade an einem Aufsatz „über die wahrscheinliche Entwicklung der sittlichen Vorstellungen im Zuge des weiteren zivilisatorischen Prozesses“ arbeitet. Was von diesen Überlegungen bleibt, mag man sich vorstellen, da die Marsianer nicht zögern, mithilfe dreibeiniger Kampfmaschinen, ihrem Hitzestrahl und einem – heute deutlich an die späteren Giftgaseinsätze im Ersten Weltkrieg erinnernden – schwarzen Rauch Tod und Vernichtung über das Londoner Umland zu bringen. Tausende Menschen sterben entweder sofort oder nachdem sie von den Marsianern gefangen werden, die sich vom Blut ihrer Opfer ernähren. Eine Massenpanik ist die Folge, die Wells eindringlich imaginiert. Dass es nicht zur völligen Unterwerfung der Menschheit kommt, ist schließlich bloß die Folge eines Umstands, den die Invasoren wohl nicht einkalkuliert haben – und zugleich wirkt es wie eine ultimative Kränkung der von sich selbst so eingenommenen menschlichen Vernunft des wissenschaftlich-technischen Zeitalters. Von einer überlegenen Intelligenz erbarmungslos unterworfen, kommen dem Menschen schließlich Mikroorganismen zu Hilfe, an denen die Außerirdischen sterben – „dahingerafft von Bakterien, nachdem alle menschlichen Mittel versagt hatten, von den niedrigsten Wesen, die Gott in seiner Weisheit auf die Erde gesetzt hat.“

In der Art und Weise, wie Wells sich in der Zeitmaschine die Zukunft der Menschheit denkt, wie er sich die Entwicklung der Marsianer bis zu ihrer Invasion der Erde im Krieg der Welten vorstellt, darin erweist er sich deutlich als Kind seiner Zeit, ihrer sozialdarwinistischen und eugenischen Vorstellungen und insbesondere als Schüler Thomas Henry Huxleys, bei dem er studiert hat. Die Trennung von Eloi und Morlocks präsentiert der Zeitreisende seinen Zuhörern und uns Lesern als Konsequenz jener Klassentrennung von Oberschicht und Arbeitern, wie sie Wells in seiner Zeit vorfindet und als Sozialist auch kritisiert. Und ebenso erscheinen die Marsianer, gewissermaßen geschlechtslose Gehirne mit Tentakeln, die ohne ihre Maschinen völlig hilflos sind, als Ergebnis einer Evolution, in der Muskelkraft, Ernährung, aber auch Gefühle zunehmend bedeutungslos werden. In beiden Fällen schreibt Wells das Verständnis seiner Gegenwart im Geiste Thomas Henry Huxleys und Charles Darwins in eine ferne Zukunft fort, da fehlen auch Prädikate wie „Degeneration“ und „Entartung“ nicht.

 Doch nicht nur in der Welt der Eloi und Morlocks liegt ein sozialkritischer Hinweis auf das eigene England. Genauso darf man in der marsianischen Invasion einen Spiegel britischer Ängste sehen, in denen die Seemacht durch eine ausländische Invasion ihrer Heimatinseln überwältigt wird. Aber natürlich ist es auch der eigene imperialistische Unterwerfungs- und Vernichtungsgeist der europäischen Kolonialmächte, den man bei den Marsianern wiederfindet. Doch was kann man im Geiste des Sozialdarwinismus letztlich dagegen einwenden, wenn eine überlegene Intelligenz die unterlegene unterwirft und ausrottet? Der Erzähler des Kriegs der Welten jedenfalls mahnt zur Vorsicht im Urteil über den außerirdischen Gegner:

[B]evor wir zu hart über sie urteilen, sollten wir uns daran erinnern, welche gnadenlose und totale Vernichtung unsere Spezies nicht nur über Tiere wie den dahingeschwundenen Bison und den Dodo gebracht hat, sondern auch über ihre eigenen niedriger stehenden Rassen. In einem Ausrottungskrieg der europäischen Einwanderer wurden die Tasmanier trotz ihrer Zugehörigkeit zur Menschheit im Zeitraum von fünfzig Jahren vollständig vom Antlitz der Erde getilgt. Sind wir solche Apostel der Barmherzigkeit, dass wir uns beklagen dürften, wenn die Marsianer uns im selben Geiste bekriegten?

Beide Wells-Klassiker sind nun dank der Leistung Hans-Ulrich Möhrings in überzeugenden Neuübersetzungen erschienen. Dass es den beiden so wirkungsreichen Romanen bislang an Präsenz auf dem deutschen Buchmarkt gefehlt hätte, wird man zwar nicht sagen können. Doch beide Bände bieten nun zusätzlich umfangreiches Anhangmaterial, so unter anderem das eingangs zitierte Vorwort, kürzere Erzählungen aus dem weiteren Umfeld der beiden Romane und im Falle der Zeitmaschine eine gestrichene Episode, in der der Zeitreisende bei seiner Rückkehr aus der Zukunft etwas übers Ziel hinausschießt und an Silvester 1645 beinahe von religiösen Eiferern umgebracht wird. Hinzu kommen schließlich noch zwei glänzende Nachworte aus der Feder des Leipziger Anglisten und ausgewiesenen Wells-Kenners Elmar Schenkel, der den Büchern so nebenbei noch eine kleine Kulturgeschichte des Außerirdischen und der Zeitreise beigibt. Beide Editionen bedeuten daher eine mehr als nur lohnenswerte Bereicherung für den interessierten Leser.

Titelbild

H. G. Wells: Der Krieg der Welten. Roman.
Mit einem Nachwort von Elmar Schenkel.
Übersetzt aus dem Englischen von H.-U. Möhring.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
303 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783596950294

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Titelbild

H. G. Wells: Die Zeitmaschine. Eine Erfindung.
Mit einem Nachwort von Elmar Schenkel.
Übersetzt aus dem Englischen von H.-U. Möhring.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
235 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783596950300

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