Armes England

Graham Swift zelebriert einen trostlosen „Festtag“

Von Wieland SchwanebeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wieland Schwanebeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kostümierte Engländer mit serviler Gesinnung und ein wenig milder Standesrebellion im Herzen? Downton Abbey-Alarm! Die Assoziation mit der adeligsten aller jüngeren Seifenopern liegt angesichts der Publikation von Graham Swifts Ein Festtag durchaus nahe und wird vom Verlag auch eigens geschürt – ein Zitat mit der entsprechenden Assoziation ziert den Buchrücken der Hardcover-Ausgabe von dtv. Tatsächlich entsprechen die Koordinaten auffällig denen von Julian Fellowesʼ Serien-Melodram für die anglophilen Kreise: Wir befinden uns im Jahr 1924, der Untergang der Titanic und das Trauma des Ersten Weltkriegs haben dem Land einige Narben geschlagen (die benachbarten Herrenhaus-Clans sprechen vom Filius der Sheringhams schlicht als „de[m] einzige[n] Sohn, der noch übrig war“). Zaghaft erproben die Dienstmädchen neue Freiheiten, wobei sie von der Schwermut ihrer reichen Dienstherren profitieren, die sehnsuchtsvoll die Jugend des Personals bestaunen und dabei möglicherweise „die fahlen Geister“ ihrer im Krieg gefallenen Kinder sehen, und in den Köpfen der reichen Familien wächst die Saat eines sozialen Gewissens: Man singt zwar noch nicht gemeinsam Arbeiterlieder, aber das Dienstmädchen darf sich in der Bibliothek schon mal Bücher ausleihen, sogar solche für Jungs.

Trotz dieser Parallelen bewegt sich Swifts Text – der mit dem Etikett der Novelle etwas angemessener charakterisiert wäre als mit dem des Romans, das der Verlag bemüht – auf gänzlich anderem Terrain als das aus dem Fernsehen bekannte Bäumchen-wechlse-dich-Spiel, das zu gleichen Teilen Ausstattungsporno und Stammbaum-Soap ist. Zwar wird hier wie da die Geschichte einer unerhörten Liebschaft erzählt, doch die an ihr Beteiligten entwickeln kaum so viel Profil, dass der Leser sich groß in sie hineinversetzen könnte. Bei Swift sind es das Dienstmädchen Jane Fairchild und Paul Sheringham, ein Sohn aus gutem Hause, die sich am „Mothering Sunday“ (dem Vorläufer des säkularen Muttertags), kurz vor Pauls standesgemäßer Eheschließung, zum Sex im verlassenen Haus der Sheringhams treffen – ein eingeübtes Arrangement, das beide bereits als Teenager begonnen haben. Davon abgesehen jedoch, dass Paul ihr mittlerweile kein Geld mehr für den Liebesdienst zahlt (Jane fasst ihre Karriere salopp im Dreischritt „Waise, Dienstmädchen, Prostituierte“ zusammen), behauptet die Erzählung keine größere romantische Bindung; routiniert blickt Jane hinterher auf den trocknenden Samenfleck, dessen Form sie an die Kartenumrisse Englands erinnert (ein derber Scherz auf Kosten des schrumpfenden Empire), und erfreut sich im Stillen daran, dass es zur Abwechslung nicht sie ist, die als Teil der „stillen Armee“ diskret die Bettwäsche wechseln wird. Paul bricht auf, um seine Verlobte zu treffen, während Jane nackt im Haus umherläuft, und viel mehr, als dass der Text ab hier in Janes Biografie vor- und zurückblendet und noch eine größere schicksalhafte Wendung aufbietet, passiert gar nicht – allerdings dienen die weiteren, abermals an eine der dramatischeren Zäsuren von Downton Abbey erinnernden Entwicklungen des Tages ihr später als Initialzündung für eine Karriere als gefeierte Schriftstellerin. Noch als fast Hundertjährige, die Königinnen und Könige überlebt hat, wird Jane an diesen Festtag zurückdenken und dabei feststellen, wie sehr sie in ihren erfolgreichen Fiktionen von ihm gezehrt hat.

Wie sich anhand dieser Zusammenfassung bereits erahnen lässt, bemüht Swift zahlreiche Referenztexte aus dem ungefähren zeitlichen Umfeld seiner Handlung, ohne dass er sich im metafiktionalen Irrgarten verlaufen würde: D.H. Lawrences Pferde und die an sie geknüpften Zucht- und Vollblüter-Assoziationen (Der Hengst St. Mawr, 1925) stehen ebenso Pate wie die zeitliche Verschachtelung von Virginia Woolfs Mrs. Dalloway (1925). Den größten Schatten wirft freilich Swifts Kollege Ian McEwan über den Text, denn eigentlich ist Ein Festtag ein verkapptes Remake des ersten, durchaus novellistischen Drittels von McEwans fulminantem Roman Abbitte (2001): Aus einer unstandesgemäßen erotischen Episode entwickelt sich eine verhängnisvolle Katastrophe, die das Leben aller Beteiligten aus der Bahn werfen wird. Auch die Entscheidung, seinen Plot durch eine gealterte, auf ihre künstlerische Initialzündung zurückblickende Schriftstellerin zu rahmen, entlehnt Swift bei McEwans deutlich vielschichtigerem Text. Der direkte Vergleich bekommt dem Festtag leider nicht, denn während einige der auffälligen Entlehnungen noch als künstlerische Hommage durchgehen mögen, fällt dem Leser bald auf, dass sich Swifts Figuren nicht nur wenig zu sagen haben, sondern kaum Profil besitzen – Swifts frühere Romane sind da wesentlich ergiebiger und fundierter im Detail. Zudem mag man der jungen Miss Fairchild die im Text behauptete, künftige Karriere als große Erzählerin nicht abnehmen, denn lässt sich ernstlich an die Existenz einer gefeierten Autorin glauben, deren retrospektiv gefilterte Erinnerungen zur Hälfte aus verklemmtem Schwulst (die Liebenden, so wird sie sich ins Gedächtnis rufen, hatten „die verschiedensten Sachen miteinander gemacht“) und zur anderen Hälfte aus abgegriffenen Sprachbildern (ein Penis ist ein „schlafender Vogel im Nest“) bestehen?

Swift möchte dies im Kontext der Zwischenkriegszeit gern als die emanzipatorische Geschichte einer jungen Künstlerin erzählen, die in einem Zeitalter, in dem „alles einen männlichen Beigeschmack“ hatte, eine männliche Domäne erobert (und deshalb auch, zur Verblüffung ihres Dienstherrn, die großen Abenteuerromane des späten 19. Jahrhunderts liest), aber das büchervernarrte Waisenkind ist mit dermaßen deutlichen Anleihen bei Charlotte Brontës Jane Eyre (1847) entworfen, dass sie nicht einmal der Figur selbst verborgen bleiben. Die Novelle orientiert sich vage an der klischierten Idee, dass nur aus persönlicher Erschütterung große Kunst entstehen kann, und Janes Transgression bleibt denn auch eine Behauptung: „Deshalb konnte kaum etwas einen so großen Schock auslösen wie eine Frau, die nackt eine Bibliothek betrat. Allein die Idee!“

Titelbild

Graham Swift: Ein Festtag. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Susanne Höbel.
dtv Verlag, München 2017.
142 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783423281102

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