Vom Grenznutzen der Theorie

Eva Ritthaler widmet sich der Darstellung der Ökonomie in deutschen Entwicklungsromanen von Johann Wolfgang Goethe bis Heinrich Mann

Von Peter C. PohlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter C. Pohl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die ökonomische Grenznutzen-Theorie konzentriert sich auf die mathematische Berechnung des Nutzens, den zusätzlich konsumierte Güter haben. Der Nutzen des ersten konsumierten Guts ist nicht mit dem Nutzen vergleichbar, den das zehnte vergleichbare konsumierte Gut hat. Indes man den ersten Roman von Honoré de Balzac vergnüglich verschlungen hat, erscheint der 91. Text der Comédie humaine nicht mehr ganz so bekömmlich; ob Goethe-Aficionados alle 143 Bände der Sophienausgabe gleichermaßen glücklich machen, ist mehr als fraglich. Vielmehr tritt auch bei Literatur Übersättigung ein. Inwiefern kann man das Theorem nun auf die Wissenschaft von der Literatur übertragen? Zweifelsohne konsumieren auch PhilologInnen. Sie können ihre Arbeiten mit Quellen mästen, sich an der Forschungsliteratur gütlich tun und eine große Zahl von Theorien einverleiben. Doch der Vergleich hinkt. Der individuelle Konsum, auf den die Grenznutzenschule als erfolgreiche Strömung der Ökonomie Ende des 19. Jahrhunderts fokussiert, und die akademische Leistung werden nach unterschiedlichen Kriterien bemessen. Beim Konsum beziehungsweise der Lektüre von Forschungserträgen ist Vergnügen nicht zwangsläufig eine Begleiterscheinung und man braucht bisweilen einen guten Magen. Denn Quellenreichtum und Komplexität sind auch dort zu loben, wo bei einer großen Zahl innovativer Momente und theoretischer Erwägungen der Nutzen des Neuen und der Anspruch der Argumentation aus dem Blick zu geraten drohen. Monografien sollen weder an Quellenarmut noch Forschungs- und Theorieferne leiden. Alles drei hat unmittelbaren Nutzen für die Güte wissenschaftlicher Erkenntnisfindung.

In dem seit zwei Jahrzehnten intensiv beforschten Verhältnis von Literatur und Ökonomie sind die Verhältnisse noch etwas komplizierter. Durch die Beschäftigung mit historischen Diskursen und ökonomischen Phänomenen wurden neue Quellen erschlossen; der Sättigungsgrad an zirkulierenden Theorien ist immens, wegweisende Studien sind Legion. Zu nennen sind, natürlich mit Hintergedanken, im Hinblick auf Diskurse und Phänomene: Klassische Ökonomie, Marxismus, Historische Schule der Nationalökonomie, Grenznutzenschule, Kredit, Reklame, Tausch; im Hinblick auf mögliche Theorien: Diskursanalyse, New Historicism, Wissenspoetologie, Theorie des literarischen Feldes; im Hinblick auf einschlägige Studien: Bernd Blaschke Der homo oeconomicus und sein Kredit bei Musil, Joyce, Svevo, Unamuno und Céline, André Lottmann Arbeitsverhältnisse. Der arbeitende Mensch in Goethes „Wilhelm Meister“-Romanen und in der Geschichte der Politischen Ökonomie, Christian Rakow Die Ökonomien des Realismus. Kulturpoetische Untersuchungen zur Literatur und Volkswirtschaftslehre 1850–1900, Joseph Vogl Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen und Thomas Wegmann Tauschverhältnisse. Zur Ökonomie des Literarischen und zum Ökonomischen in der Literatur von Gellert bis Goethe sowie Dichtung und Warenzeichen. Reklame im literarischen Feld 1850–2000. In Anbetracht dieser dreifachen Komplexität steigen die Anforderungen an neue Projekte. Ob es deshalb angeraten ist, sich nur einer älteren Theorie zu bedienen, die ökonomischen Quellen und den eben genannten Forschungsstand komplett (!) auszublenden, kann man nach der Lektüre von Eva Ritthalers Ökonomische Bildung. Wirtschaft in deutschen Entwicklungsromanen von Goethe bis Heinrich Mann nicht behaupten. Der schmale und gut lesbare Band fällt in einigen Punkten hinter den Erkenntnisstand zurück.

Eva Ritthaler beansprucht mit ihrer Dissertationsschrift jedoch anderes. Im Hinblick auf ihren Gegenstand, immerhin den Entwicklungsroman von 1795 (Johann Wolfgang Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre) bis 1909 (Thomas Manns Königliche Hoheit), will sie sich nicht nur einzelnen Bereichen der Ökonomie widmen. In der Einleitung heißt es über „Untersuchungen zum Medium des Geldes (vgl. Simmel, Breithaupt und Hörisch)“: „Sie befassen sich […] nur mit Teilaspekten der Wirtschaft und nicht mit dem Komplex als solchem.“ Der Verfasserin geht es folglich, wie beiläufig bemerkt auch Georg Simmel, ums ökonomische Ganze. Im Hinblick auf diesen Anspruch überrascht dann die Konzentration auf die Figurenanalyse. Die Figuren werden als Ausdruck von Interdependenzgeflechten verstanden, wie sie im Zentrum von Norbert Eliasʼ Zivilisationstheorie stehen. Die Untersuchung des mimetischen Widerspiegelungspotenzials literarischer Figuren ist eine nicht ganz zu Unrecht aus der Mode gekommene Methode  – obsolet nicht zuletzt deshalb, weil dabei die Vielschichtigkeit literarischen Darstellungsvermögens ins Hintertreffen gerät. Gerade die Romane von Goethe bis zu den Gebrüdern Mann verhandeln ja auch die Möglichkeiten des Erzählens, die Freiheiten und Zwänge der Gattung Roman: Es geht um Schreibweisen, die sich verändern und in diversen soziokulturellen Kontexten mitsamt ihrer diskursiven Spezifika Bedeutung haben, sei es im Transfer, als Korrelat oder kritische Reflexion von ökonomischer Theorie und Wirklichkeit. Die Entkoppelung von Geld und Realwirtschaft weist Parallelen zu selbstreferenziellen Zeichenprozessen, den Semiosen der Romantik auf (Vogl). Die Versuche des bürgerlichen Realismus, die komplexen Zusammenhänge von Produktion und Konsumption über Narrative zu vereinfachen, ähnelt der ‚Poetik‘ der Historischen Schule der Ökonomie (Rakow).

Mit dem Beharren auf Norbert Elias als einziger theoretischer Position und der Figurenanalyse als wichtigstem methodischen Baustein umgeht die Arbeit die Erkenntnisse der neueren Forschung. Sie blendet überdies auch die Kritik an Elias aus: Hans Peter Duerrs fünfbändige Studie Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, in der er auf überzeugende Weise Grundannahmen Elias’ widerlegt, bleibt unerwähnt. Duerr weist darauf hin, dass sich auch vormoderne und nicht-westliche Gesellschaften durch komplexe Verflechtungen zwischen ihren Mitgliedern festigen. Mit Duerr wäre auch das von der Verfasserin bemühte holzschnittartige Bild vom Mittelalter zu korrigieren gewesen. Auf der anderen Seite hat die Arbeit auch Vorzüge: Die Auswahl der literarischen Quellen überzeugt. Neben häufig bearbeiteten Texten wie Goethes und Gottfried Kellers Bildungsromanen finden auch Jeremias Gotthelfs Uli-Romane, Karl Immermanns Epigonen, Friedrich Spielhagens Hammer und Amboß Eingang in die Analyse. Mit Im Schlaraffenland von Heinrich Mann findet sich ein satirischer Text am Schluss der Studie, der „einen Abgesang auf die Vorstellung von Ökonomie als einem persönlichkeitsbildenden Faktor“ darstellt. Die gattungstypologische Klammer des Gegenstandsfelds, der Entwicklungsroman, ist passgenau: Die Gattung stehe deshalb im Zentrum, weil im exemplarischen Werdegang ihrer Protagonisten die vielfältigen intersubjektiven Verflechtungen moderner Individuen und die damit einhergehenden Zwänge affektiver Kontrolle sichtbar werden. Überdies ist die Gliederung einleuchtend: In den Einzelanalysen, die jeweils cirka 20 Seiten umfassen, werden zunächst die Romanhandlungen nacherzählt und die Figurenkreise konzise erfasst, dann gibt es jeweils Unterkapitel zu den Werdegängen der Protagonisten. Schließlich sind „Fazit und Ausblick“ innerhalb des theoretischen und methodischen Forschungsdesigns vorzüglich gelungen.

Das Forschungsdesign selbst jedoch ist kritikwürdig – und dies nicht allein in punkto Theorie. In den Einzelanalysen finden sich Forschungen der 1970er- und 1980er-Jahre überproportional vertreten. Ein Beispiel sei hier wahllos aufgegriffen: Auf den Seiten 57 bis 61 bedient sich die Arbeit nacheinander einiger Studien und Aufsätze aus den Jahren 1959, 1985, 1972, 1959, 1974, 1977, 1983, 1969 und 1955.  Was diese Artikel und Monografien gemäß der damals kurrenten – das heißt ideologiekritischen, psychoanalytischen und sozialgeschichtlichen – Paradigmen zutage fördern, stärkt zwar Ritthalers Argumentation. Doch die Stimmigkeit zwischen der vorliegenden Arbeit und dem älteren Forschungsstand unterstreicht auch das Unzeitgemäße des Vorhabens. Überdies kommen relativ viele Kompendien zum Einsatz. Die Studien zum Bildungsroman von (nach Datum ihres Erscheinens) Melitta Gerhard, Rolf Selbmann, Jürgen Jacobs und Ortrud Gutjahr haben gewiss Verdienste, zielen aber eher auf Studierende, die sich erstmals mit der Materie beschäftigen. Innovative Zugänge zum Bildungsroman wie die von Rüdiger Campe und Franco Moretti, aber auch ältere Arbeiten wie die von Michael Titzmann und Wilhelm Voßkamp wurden nicht berücksichtigt. Ein weiteres Manko liegt in dem diffusen Wirtschaftsbegriff. So ist es unklar, ob die weitere Differenzierung des sozialen Geflechts durch arbeitsteilige Produktion und Handelsketten nun Ökonomie ist oder ob es sich dabei nicht eigentlich um einen Ausdruck von Zivilisation handelt. Ökonomie und Zivilisation sind aber nicht zwingend gleichzusetzen. Zur historisch-systematischen Erschließung der Art und Weise, wie die Texte wirtschaftliche Phänomene modellieren, hätte es aber profunderer ökonomiegeschichtlicher und -theoretischer Kenntnisse bedurft. Alles fügt sich der Elias’schen Großerzählung von der Affektsteuerung. Ob das nach dem Abgleich mit Karl Marx und Joseph Schumpeter (Stichwort: kreative Zerstörung) noch der Fall wäre, ist zweifelhaft.

Der Umgang mit den literarischen Texten tendiert aus den genannten Gründen zur Oberflächlichkeit. Leider werden auch die Abgründe der psychogenetischen Dimension, die Elias wichtig sind, nicht immer mit ausgeleuchtet. Das lässt sich an der Interpretation von Gustav Freytags Soll und Haben zeigen. Ritthaler schreibt, dass der Protagonist Anton Wohlfart „beschließt […], diesen Beruf [Kaufmann] zu erlernen.“ Tatsächlich aber wird von Antons Vater, der sein Leben als braver Beamter fristet, der Wunsch, Kaufmann zu werden, auf den Sohn übertragen. Er schwärmt seinem Filius von dem Beruf häufiger vor und fragt ihn dann, ob er Kaufmann werden will, was dieser nicht anders als bejahen kann. Die fehlende Möglichkeit des Vaters, das Begehren nach Neuem auszuleben, der Zwang, am Ort zu bleiben, die sich durchaus mit Elias lesen lassen, bleiben unerwähnt. Daher ist auch ungenau zu sagen, dass „[d]ie Welt des Handels […] sich für Anton erstmals [öffnet], als er nach dem Tod seiner Eltern in die Firma eintritt.“ Vielmehr hat die Familie jedes Jahr zu Weihnachten ein Paket mit Kaffee und weiteren Spezereien erhalten, und es ist der Wunsch nach den Waren aus der Ferne, der ja allererst durch dieselben und den Vater initiiert wird, dem Anton nachgeht. Wenn Ritthaler schreibt, dass der Kaufmann nach Freytag „durch den regen Gütertausch die gegenseitige Verständigung und Vergemeinschaftung fördert“, dann fügt sich das zwar einerseits dem grand reçit der Zivilisationstheorie, andererseits handelt es sich dabei um einen Gedanken, der eine Entsprechung in der Historischen Schule der Nationalökonomie hat, die von den Grenzboten-Autoren Freytag und Schmidt rege rezipiert wurde (vgl. Rakow). Es handelt sich weniger um eine Beschreibung der Realität im Kapitalismus als vielmehr um ein verkürztes und verklärtes Narrativ, das Bindungen anbietet, wo längst keine mehr vorhanden sind.

Das Theorem gesteigerter Interdependenz, mit dem Ritthaler wirtschaftliche Produktionssteigerung, Welthandel und Zivilisationsgrad kurzschließt, droht zur Ideologie zu verkommen. Denn wenn in Zivilisation und Ökonomie stets Triebverzicht, Zweckrationalität und Selbstzwänge am Werk sind, kehrt man der triebhaften, irrationalen und maßlosen Seite der Ökonomie den Rücken zu. Dass literarische Darstellungen sowie weitere ökonomische Theorien gerade diesen Punkt im Auge haben, das Moment also, an dem entweder Zivilisation und Ökonomie auseinander gehen oder aber sich eine Dialektik der Zivilisation vollzieht, bleibt unreflektiert. Gerade die irrationalen Aspekte der Ökonomie, beispielsweise die Wiederkehr des Rituals in der (kameralistischen) Turmgesellschaft in Wilhelm Meister, die ödipale Herkunft von Anton Wohlfarts Kaufmann-Wunsch in Soll und Haben oder aber die Anekdote der Revalenta arabica in Gottfried Kellers Der grüne Heinrich, finden keine Beachtung. In summa lässt sich daher sagen, dass die Arbeit von noch größerem Nutzen wäre, wenn sie mehr Theorie, mehr nicht-literarische Quellen und mehr Forschungsstand konsumiert hätte. Dennoch stellt Eva Ritthalers Studie eine eigenständige Auseinandersetzung mit der Gattung Entwicklungsroman im langen 19. Jahrhundert dar. Ausgehend von der Annahme steigender zivilisatorischer Forderungen in der Moderne gelingt es ihr über weite Strecken zu zeigen, dass die Handlungsmotivierung und die Figurenentfaltung immer mehr durch ökonomische Prinzipien reguliert werden.

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Eva Ritthaler: Ökonomische Bildung. Wirtschaft in deutschen Entwicklungsromanen von Goethe bis Heinrich Mann.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2017.
201 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783826061103

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