Übersetzen anstatt unterscheiden

„Die Auswandernden“ von Peter Waterhouse und Nanne Meyer: ein Plädoyer mit poetischen Mitteln

Von Indra NoëlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Indra Noël

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Herbst 2016 stand Die Auswandernden, ein Text in poetischer Prosa, auf der Shortlist für den Österreichischen Buchpreis. Schon am 24. Oktober 2012, lange vor der medialen Omnipräsenz der sogenannten Flüchtlingsfrage, ging Peter Waterhouse in der essayistischen Rede Gesetz und Entsetzen, gehalten im Wiener Asylgerichtshof, der Sprache von Behörden und Justiz auf den Grund. Das Aufspüren von Fehlübersetzungen sowie die Analyse einiger Konzepte des österreichischen „Fremdenrechts“ leiten seine Forderung nach echten Flüchtlingsrechten, gipfelnd in der Definition, die nicht zwischen mehr oder weniger zwingenden Fluchtgründen unterscheiden will: „Flüchtling ist, wer flüchtet.“ Zum Schluss kündigt der Redner an, es handle sich weniger um eine Rede als um ein Buchprojekt. Ein in einigen Teilen identischer Text wird unter dem Titel FÜGUNGEN. Versuch über Flucht und Recht und Sprache auf der Internetseite des Europäischen Instituts für progressive Kulturpolitik veröffentlicht. Das Buch Die Auswandernden erwähnt nun auf den letzten Buchseiten jene Rede im Asylgerichtshof: Der Ich-Erzähler beschreibt sich als Redner und eine Hauptfigur aus dem Buch, eine Frau mit dem sprechenden Namen Media, als eine Zuhörerin im Gerichtssaal, in den zu dieser Veranstaltung kein einziger Richter gekommen ist.

Bei Spazier- und Behördengängen begleitet der Ich-Erzähler des Buches Media, die mit ihrer Tochter Miranducht aus dem Kaukasus nach Österreich geflohen ist und deren Asylantrag abgelehnt wird. Das georgische Alphabet und einige Daten zur Flucht weisen auf Realia hin. In Erinnerungen an Erlebnisse mit eigenen Familienmitgliedern sowie langen Passagen entlang der Voraussage eines Todesdatums zeigen sich autobiografische Parallelen zwischen Erzähler und Autor. Deutlicher aber als jegliche Handlungsstränge strukturieren den Text die Gespräche des Erzählers mit der sehr sprachbewussten Media sowie sein nahezu meditatives Wieder-Lesen von Texten unterschiedlicher Art.

Dem Erzähler sind Wörter und Sätze fünferlei Herkunft Motor des Denkens: Eine Anekdote auf einer Gedenktafel, die er mit Media liest, leitet Betrachtungen ein, in denen sich übliche Wortbedeutungen erweitern. Neben der im öffentlichen Raum vorgefundenen Sprache sind eine zweite Quelle der Überlegungsanstöße die Wörterbücher, mit deren Hilfe Media Deutsch lernt. Auch ein Lehnwörterbuch liest das Ich auf unkonventionelle Art, indem es beispielsweise Beziehungen zwischen Begriffen entstehen lässt, die einander in ihrer alphabetischen Ordnung eigentlich nur zufällig berühren. Übersetzungen aus dem Englischen, Italienischen und Georgischen sind ein weiteres Mittel, von einem Gedanken zum nächsten zu gelangen. Den Duktus bestimmen dabei Fragesätze, die streckenweise die Zahl der Aussagesätze übertreffen, wodurch das Fragen als die selbstverständlichste Art des Nachdenkens erscheint:

„Die Gedanken schienen zur Lesung in der Bozner Vorstadt zu gehören, sie fügten sich still in die Verse ein, aber als ich in Gedanken das Wort fügen sagte, formte es sich um, zuerst in das Wort Fuge, dann in das Wort fuga, die Flucht. Das Einfügen wie eine Flucht, die Nähe wie ein Abstand? Gedanken wie etwas Unabgeleitetes, wie etwas Weggeleitetes? […] Wanderten die Gedanken, wanderten sie aus?“

Die vierte Sprachform, die vom Erzähler unter die Lupe genommen wird, ist das Amtsdeutsch in Asylgesetzen und Protokollen, in denen Fragesätze nicht zugelassen sind und kaum ein Satz der Sprachkritik des Erzählers standhält. Dadurch, dass er Wortwahl und Aufbau solcher Texte als ungerechtfertigt hinterfragt, prangert er die Konzepte an, die sich wie selbstverständlich mit ihnen verbinden. Wenn sich etwa Media bei der Landung ihres Fluges an einen Zöllner wendet und eine auf beiden Seiten potenziell freundliche Begegnung von den Behörden als „Aufgreifen“ protokolliert wird, so unterstellt diese Wortwahl der einen Person Kriminalität, der anderen Gewalttätigkeit.

Auf der anderen Seite solcher Sprache verortet der Erzähler die Literatur. Literarische Texte, die „auswandern aus den informierenden und meldenden Sprachen in die das Verlernen unterrichtende“ sind ihm Maßstab und wahrer Sprachkurs. Mit den Passagen literarischer Texte, namentlich Adalbert Stifters Erzählung Turmalin, Johann Wolfgang Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten und A Tale of Two Cities von Charles Dickens, aus denen er wiederholt zitiert, überführt er die Welt der festlegenden Sätze in eine Welt der Ungewissheiten – „übersetzen“ nennt es der Text, indem er sich auf den Fährmann aus dem Märchen beruft, das unter der Überschrift „Fortsetzung“ Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten beschließt. Aus Walter Benjamins Definition zum Traktat zitiert der Erzähler Sätze über die „Darstellung als Umweg“ und das „unablässige Atemholen“, die er als die „schönsten der Welt“ bezeichnet. Zusammen mit der Literatur gehört somit auch die Poetologie, in diesem Falle Benjamins Vorrede zum Ursprung des deutschen Trauerspiels, zum Reservoir, aus dem der Erzähler die Sprache schöpft, auf die es ihm ankommt.

Diese fünf Formen sprachlicher Quellen, die in Die Auswandernden auszumachen sind, werden durch unzählige Fäden miteinander verknüpft. Um diesen zu folgen, muss sich der Leser auf eine eigenwillige Erzählweise einlassen, die unlogische, absurde, selbst traumähnliche Szenen nicht ausschließt. Mit welchen Schleifen und Wiederholungen der Text von einem Konzept zum anderen mäandert, zwischen den Wortbezügen kurzschließt, erinnert an dekonstruktivistische Lektüren und ist keine neue Methode. Die Auswandernden geht aber über das freie Sprachspiel der Poststrukturalisten hinaus und bezieht trotz seines Infragestellens klar Position: „Wer war Aufgreifer? Der Grenzpolizist oder die Sprache? […] Baute das Wort Anhaltezentrum ein Lager? Zäunte das Wort wie der Zaun, mauerte es wie die Mauer, grenzte es wie die Grenze? […] Sah es aus wie ein Wort ohne Gewissenskonflikt?“

Der uralten Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Denken, für politische Debatten weiterhin so aktuell wie in der Vergangenheit, begegnet Waterhouse nicht mit sachlichen Argumenten. Bezeichnen ließe sich sein Sprechen in der Rolle des Redners und Buchautors eher als eine Art Grundlagenforschung, ein Hineindringen in die Konzepte, mit denen allgemein „über“ die Flüchtenden gesprochen wird. Ganz gleich, ob sich andere Menschen ihnen gegenüber engagiert oder ablehnend verhalten, entsteht in der Öffentlichkeit der Eindruck, dass die Flüchtenden von außen betrachtet und definiert werden. Diese Gewalt übt Waterhouses Text nicht aus, er postuliert ganz aus postkolonialer Perspektive, nicht trotz, sondern wegen der unterschiedlichen Sprachen sei wahres Gespräch möglich – und zwar immer erst dann, wenn der andere nicht zu deuten sei.

Belehrend ist der Ton nicht. Dennoch kann, wer das Buch Die Auswandernden liest, es als Sprachschule betrachten. Die „Auswandernden“ des Buchtitels stehen im Partizip Präsens, sie sind nicht nur ausgewandert, sondern diese Tätigkeit oder dieser Zustand hält an, ist noch im Verlauf. Mit dem Titelwort bezeichnet der Erzähler neben Flüchtenden und Sterbenden, die aus dem Leben auswandern, auch die Wörter selbst. Das Konzept des Auswanderns geht weit über den Kontext der Flucht hinaus: „War die Literatur keine schreibende Kunst, sondern eine Kunst der Auswanderung?“ – „Versteckte sich überall das Wort Auswanderung?“. Es bezeichnet gelungene Gespräche, Übergänge zwischen Gedanken und Wörtern, auch innerhalb der deutschen Sprache, wo Worte in andere Worte übersetzt werden. Beim Übersetzen in jeglicher Form gelingt es dem Erzähler, dem Trennenden das Verbindende vorzuziehen.

In ein anderes Medium übersetzt die Illustratorin Nanne Meyer den Text: Auf je sieben Bild-Doppelseiten folgen jeweils neun Doppelseiten Text, mit acht solcher Serien nimmt die visuelle Auseinandersetzung mit Waterhouses Text auch vom Umfang her einen wesentlichen Raum ein. Meyers Illustrationen zeigen Schlüsselmotive, etwa Flugzeuge, Koffer, Landkarten, Brücken, Berge oder Figuren. Die gegenständlichen Zeichnungen von hoher emotionaler Aussagekraft und nahezu universalem Symbolgehalt verbinden sich mit abstrakten Elementen wie Punkten, Linien oder Rastern. Wie der Text legen die Bilder Verbindungen zwischen den Konzepten; sie tun es auf die ihrem Medium eigene Weise durch die räumliche Sprache des Innen oder Außen, farblich kontrastierender Flächen, visueller Grenzziehungen und -überschreitungen. Da die grafisch sehr präzisen Zeichnungen weder kryptisch noch zu eindeutig sind, bieten sie dem Betrachtenden einen Assoziationsspielraum, der ermutigt, das Nachdenken über den Text weiterzuführen. Auch die Bilder reflektieren ihre Motive explizit mit, denn wie ausgeschnitten und aufgeklebt erscheinen auf jeder Bildseite Einzelwörter und kurze Zitate aus dem Text. Diese wirken wie Wortkärtchen für Lesende, die ihre Muttersprache noch einmal neu lernen und vor dem Hintergrund dieser Bilder infrage stellen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Peter Waterhouse / Nanne Meyer: Die Auswandernden.
starfruit publications, Fürth 2016.
256 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783922895282

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