So einfach ist es nicht

Julian Barnes lässt in „Der Lärm der Zeit“ den Komponisten Dimitri Schostakowitsch die Macht der Angst erleben

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Josef Stalin war der selbsternannt größte Künstler im Reich. Er allein wusste, was Kunst war, er urteilte über ästhetisch und unästhetisch, mithin über Leben und Tod. Seinem Richtspruch konnte sich auch der viel gerühmte Komponist Dmitri Schostakowitsch (1906–1975) nicht entziehen. Nachdem er bereits mit 19 Jahren erste Erfolge gefeiert hatte, geriet seine Karriere 1936 ins Taumeln, als Stalin höchstselbst eine Aufführung der Oper Lady Macbeth von Mzensk besuchte. Unmittelbar darauf erschien in der Prawda ein vernichtender Beitrag, betitelt mit „Chaos statt Musik“. Ohne namentliche Signatur verkündete Genosse Stalin darin sein programmatisches Verdikt gegen jeden „quakenden und grunzenden“ Formalismus. Wochen später, im Frühjahr 1937, wurde Schostakowitsch zum „ersten Gespräch mit der Macht“ bestellt. Unmissverständlich drohte ihm ein Beamter namens Sakrewski, er solle mitteilen, was er über das Mordkomplett wisse, das Marschall Tuchatschewski, Schostakowitschs Fürsprecher, gegen Stalin gehegt habe – ansonsten… Als er zwei qualvolle Tage später wieder vorsprechen musste, war besagter Sakrewski selbst in den Mühlen des Terrors untergegangen – und Schostakowitsch konnte nach Hause gehen. In Angst, dass ihn die Schergen des NKWD später abholen würden, stellte er sich die darauf folgenden zehn Nächte mit gepacktem Koffer in den Hausflur, um seine Familie vor einer rüden Verhaftung zu schützen.

So steht Schostakowitsch in Julian Barnes Der Lärm der Zeit neben der Lifttür, Zigaretten rauchend, während seine Gedanken hin und herfliegen. „Nichts als Wahnsinn in der Welt.“ Michail Tuchatschewski war umgehend erschossen worden, doch Schostakowitsch verschonte der Zufall des Terrors. Nur die Angst blieb zurück. Auch der Vorwurf des Formalismus, also der Verrat am proletarischen Volksempfinden, schwebte weiterhin wie eine Drohung über ihm, selbst nachdem seine fünfte Symphonie öffentlich (und missverständlich) als Wiedergutmachung und Selbstkritik bewertet wurde.

Der Lärm der Zeit erzählt, wie Dmitri Schostakowitsch von der sowjetischen Kulturpolitik in höchsten Ehren und zugleich in steter Angst gehalten wurde. Selbst einer wie er, Komponist des populären „Lieds vom Gegenplan“, war der Willkür Stalins ohnmächtig unterworfen. Gerade weil Schostakowitsch überlebte, lässt sich an seinem Beispiel erkennen, was es bedeutete, zwischen Zufall und Terror, Feigheit und Mut zu überleben. Julian Barnes beschreibt mit großer Einfühlungsgabe und Empathie, wie dieser bedeutende Komponist von den schuldhaften Gewissensbissen zerrieben wird. Er erscheint dabei als eine schwierige Persönlichkeit, die zu Kompromissen bereit war und deswegen mit sich selbst haderte. Sechs Mal empfing er den Stalinpreis. Doch Feigheit und Willfährigkeit sagen sich so leicht, bedeutet Julian Barnes, wenn man in Freiheit lebt. Schostakowitsch selbst verachtete den wohlfeilen Kommunismus von Pablo Picasso oder George Bernhard Shaw, und er warf Igor Strawinsky vor, dass er sich nie für verfolgte Komponisten in der Sowjetunion eingesetzt habe. Die Ohnmacht sät Zwietracht und Missverständnisse.

Barnes legt mit Der Lärm der Zeit keine Biografie vor. Mit dem Wissen aus all den biografischen Zeugnissen zu Schostakowitsch schmiegt er sich eng an seinen Protagonisten an, um hautnah nachzufühlen und mitzuerleben, wie es einem Menschen ergeht, der gezwungen wird, sich selbst untreu zu werden. Es geht Barnes um die Tragik eines großen Künstlers, der von der Macht gedemütigt und entmündigt wird. Er lässt sich mit hineinziehen in das verhängnisvolle Hin und Her, in dem jener gefangen war.

Wie auf Golgatha kräht der Hahn dreimal. In drei Kapiteln berührt Der Lärm der Zeit drei bemerkenswerte Szenen im Leben des Komponisten, die sich um drei Gespräche mit der Macht ranken und dreimal die Oper Lady Macbeth von Mzensk ins Spiel bringen. Dreimal übt Schostakowitsch Verrat an sich und dreimal wird er von der Macht im Staat dafür gedemütigt. „Eine Seele konnte auf dreierlei Arten zerstört werden: durch das, was andere einem Menschen antaten; durch das, was ein Mensch sich selbst antat, weil andere ihn dazu trieben; und durch das, was ein Mensch sich aus freien Stücke selbst antat.“

So wie das erste beginnt auch das zweite Kapitel mit dem Satz: „Er wusste nur eins: Dies war die schlimmste Zeit.“ 1948/49 war Schostakowitsch soweit rehabilitiert, dass ihn Stalin persönlich an einem Märztag 1949 anrief, um ihn für einen Friedenskongress im New Yorker Waldorf Astoria aufzubieten. Schostakowitsch wehrte sich, so gut es ging, um schließlich nachzugeben. In New York wurde er begeistert empfangen. Umso erschreckender wirkte es, als er eine offizielle Verunglimpfung an die Adresse Strawinskys verlas – den er persönlich für den „größten Komponisten des Jahrhunderts“ hielt. Wie um sich selbst zu schützen, hatte Schostakowitsch gar nicht auf den Text geachtet, der ihm zum Vorlesen ausgehändigt wurde.

Die beklemmende Atmosphäre des ersten Kapitels lockert sich in diesem zweiten und gibt einer grüblerischen Stimmung Raum. Es ist alles nicht so einfach. Im dritten Kapitel, das mit dem Wissen um die „allerschlimmste Zeit“ einsetzt, weicht dieses Grüblerische mehr und mehr einer verzweifelten Illusionslosigkeit. Die unmittelbare Bedrohung war verschwunden, Stalin war tot, und unter „Nikita Kukuruz“ wurde die Macht „vegetarisch“. Schostakowitsch freilich stand die schwerste Probe bevor. 1960 wurde ihm dringlich der Vorsitz im Komponistenverband angetragen, was auch einen Eintritt in die Partei bedingte. Abermals wehrte er sich nach Kräften, und abermals blieb er „dem Prinzip der Feigheit“ treu. Im Gefolge dieses dritten Verrats unterzeichnete er auch einen „widerlichen Brief gegen Solschenizyn“ (den er sehr schätzte) mit.

Dmitri Schostakowitsch hat zeitlebens versucht, sich mit Ironie zu wappnen. Doch gegen das Ende hin musste er erkennen, dass Ironie auch schal werden kann, und selbstgefällig: Man konnte „nicht ironisch in die Partei eintreten“.

Das Lebensbild, das Julian Barnes zeichnet, trianguliert zwischen Macht, Moral und Musik. Mit Rückgriff auf Nikolai Gogols Erzählung Das Porträt hofft Dmitri Schostakowitsch, dass es zwischen Integrität oder Korruption eine dritte Möglichkeit geben möge: „Integrität und Korruption“. Ein schmaler Grat, denn wer integer war, überlebte nicht, wer korrupt war, hatte sich aufgegeben, doch wer beides zugleich sein wollte, lebte mit der ständigen Schuld, das eigene Gewissen verraten zu haben.

Barnesʼ subtiler Roman ist in zweierlei Hinsicht aktuell. In Russland, Ungarn oder der Türkei, um nur einige Länder zu nennen, werden Künstler tagtäglich mit dem Vorwurf mangelnder Loyalität konfrontiert. Das bedeutend im schlimmsten Fall Gefängnis und Verfolgung unter anrüchigen Terrorismusparagraphen, wie beispielsweise gegenüber der türkischen Autorin Aslı Erdoğan. Steht man im Fokus eines diktatorischen Systems, muss ständig abgewogen werden, wie viel eine Künstlerin oder ein Künstler wagen kann oder will. Barnes lässt durchblicken, dass solche Fragen auch für seine Leser in Freiheit eine Dringlichkeit haben, denn die ganz normalen Demütigungen des Alltags können vielerlei Form annehmen.

Auf den ersten und den letzten Seiten wird in Kursivschrift eine kleine Begebenheit erzählt: Auf der Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn steigt Schostakowitsch mit einem unbekannten Mitreisenden an einem unbekannten Bahnhof kurz aus. Sie trinken mit einem beinlosen Bettler ein Glas Wodka. Schostakowitsch füllt die Gläser: „Er war kein Barkeeper und die Menge an Wodka war in jedem Glas unterschiedlich“, sodass, „als die Gläser mit ihrer unterschiedlich hohen Füllung in gemeinsamem Klirren aneinanderstießen“, einen „Dreiklang“ erzeugten.

In diesem beiläufigen Dreiklang auf einem namenlosen Bahnhof, nur das Ohr des Musikers nimmt ihn wahr, ist die Dreiheit dieses Romans aufgehoben. Wie verhängnisvoll das Leben des gescholtenen, gedemütigten und sonderbaren Menschen Schostakowitsch auch immer war, dieser einsame Dreiklang bleibt das Vermächtnis des bedeutenden Komponisten: ein Dreiklang inmitten des Lärms und zugleich gegen den Lärm der Zeit. Julian Barnes hat diesem so mutigen wie feigen Menschen seine Reverenz erwiesen.

Titelbild

Julian Barnes: Der Lärm der Zeit. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Gertraude Krueger.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017.
245 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783462048889

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