Die Krankheit als Heimat

Thomas Melle wirft in „Die Welt im Rücken“ einen schonungslosen Blick auf sein Leben mit der bipolaren Störung

Von Stefan JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Jäger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Meine Krankheit hat mir meine Heimat genommen. Jetzt ist meine Krankheit meine Heimat.“ Das schreibt Thomas Melle gegen Ende seines Buches Die Welt im Rücken. Mit „Heimat“ meint er hier allerdings weniger einen konkreten Ort, sondern vor allem seine Identität. Ein normales Leben, wie auch immer man das definieren mag, ist mit und durch die bipolare Störung, ebenfalls bekannt als manisch-depressive Erkrankung, an der in Deutschland etwa ein bis drei Prozent der Bevölkerung leiden, nicht mehr möglich. Seinen ersten Schub hat Melle, geboren 1975, im Jahr 1999, seinen bis jetzt letzten 2010/11. Damit ist auch der Zeitraum umrissen, in dem es in seinem Buch geht.

Das Schreiben an Die Welt im Rücken ist für den Autor eine Art Therapie, ein Freischreiben von den Schatten der Krankheit. Schon in seine früheren Bücher, beispielsweise in die Erzählungen Raumforderungen (2007) und die Romane Sickster (2011) und 3000 Euro (2014), hat die Krankheit Eingang gefunden: „Sie handeln von nichts anderem und versuchen doch, es dialektisch zu verhüllen.“ Damit müsse jetzt Schluss sein: „Die Fiktion muss pausieren (und wirkt hinterrücks natürlich fort). Ich muss mir meine Geschichte zurückerobern“. Das Buch ist der Versuch, sich „das klassische, von allen Eigenheiten und Widerständen und Löchrigkeiten gezeichnete, aber eben doch: das souveräne Erzählen“, das durch die Krankheit verloren gegangen ist, wieder zu erarbeiten. Der Autor nimmt dabei kein Blatt vor den Mund, sondern wirft einen schonungslosen Blick auf die Zeit der manisch-depressiven Schübe und lässt den Leser dadurch unglaublich nah an sich herankommen.

Im Jahr 1999, noch zu Studienzeiten, ist für Thomas Melle von einem auf den anderen Tag plötzlich alles anders: „Die Panik steckte dumpf in mir, und ich wusste nicht mehr, wo oben und wo unten, wo innen und außen war.“ Er streift orientierungslos durch die Straßen Berlins, die er eigentlich gut kennt, doch in der Manie verwandeln sie sich in ein undurchdringliches Labyrinth, die „ganze Welt ist plötzlich anders strukturiert als bisher angenommen.“ Alles steht mit allem in Beziehung, die üblichen Grenzen scheinen aufgehoben. Melle sieht sich als Mittelpunkt der Welt, in dem alle Botschaften zusammenlaufen; er ist stets mitgemeint, egal, ob es um Fernsehnachrichten geht, um Romanplots oder Gespräche wildfremder Leute. Er entwickelt fixe Ideen, beispielsweise dass er der Messias ist, auf den Hitler schon vorausgedeutet habe, er im ständigen Austausch mit Christoph Schlingensief und Michel Foucault steht und es in den Alpen ein „suhrkamp-gestütztes Ressort“ gibt, wohin sich die „Geisteskrieger“ – gemeint sind Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard und Samuel Beckett, die Melle noch am Leben wähnt – zurückgezogen hätten, wo sie auf seine Ankunft warteten. Oder er verliert sich in Zerstörungsphantasien, etwa gegen seine „Feinde Springer und Daimler-Benz“, dessen Limousinen er „zu futuristischer Schrottkunst zerhauen“ will: „ein Statement gegen den Kapitalismus und gegen die Kunst“. Zum Glück jedoch scheitert das Meiste an der konkreten Umsetzung. Dass er seine Wohnung verkommen lässt, dort wahllos Bücher und LPs aus dem Fenster in den Innenhof schleudert oder dass er Hotelzimmer verwüstet, daran kann er indes nicht gehindert werden.

Die bipolare Störung ist eine Krankheit, die einsam macht, das wird in Melles Buch besonders deutlich. Zwar hat er zuweilen mit vielen Frauen Sex, was typisch für die Manie ist, doch vermag das nicht darüber hinwegzutäuschen, dass dem Autor nach den Krankheitsschüben kaum mehr tragfähige Beziehungen bleiben. Mit seinem unberechenbaren Verhalten, vor allem in den manischen Phasen, stößt er seine engeren Freunde, die sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten um ihn kümmern, vor den Kopf. Immer kleiner wird mit der Zeit die Schar derjenigen, die trotz aller Eskapaden zu ihm halten. Und immer wieder durchkreuzt die Krankheit sämtliche Lebenspläne, was Melle mehr und mehr zum Stigmatisierten werden lässt, der sich von seinem Umfeld signifikant unterscheidet: „Um mich herum wurden bürgerliche Existenzen zusammengelötet, ich glaube, das nennt man Ehe. Darin gab es Kinder und Struktur und Zukunft. Bei mir gab es nicht einmal eine Gegenwart.“ Als er seinem besten Freund ins Gesicht schlägt, wendet auch der sich schließlich von ihm ab. Letztlich ist es trotz aller Einsamkeit eine sich noch während der Krankheit anbahnende Beziehung zu einer Frau, die für Melle in einer besonders schweren Phase lebensrettend ist.

Verbunden mit dem Verlust an Freunden ist der generelle soziale Abstieg: Melle macht Schulden, weil er aufgrund der Bipolarität kaum mehr einer geregelten (schriftstellerischen) Tätigkeit nachgehen kann, ruhe- und ziellos von Stadt zu Stadt zieht, wo er zum Teil „auf irgendwelchen Grünflächen“ übernachtet, und seine Wohnungen häufig verliert, weil er sie im Wahn entweder selbst kündigt oder sie von seinen Vermietern gekündigt wird. In der letzten schweren Krankheitsphase lagern Melles verbliebene Habseligkeiten in einem Container und er fristet sein Dasein in einem Übergangsheim. Manchmal hat er so wenig Geld, dass er sich „Maggi in den Rachen“ schüttet, „einfach, um den Geschmack von Nahrung im Mund zu haben.“ Der Autor wird mehrfach – entweder auf Drängen seiner Freunde oder auch zwangsweise durch die Polizei – in die Psychiatrie eingewiesen, aus der er, durch Tabletten noch nicht ganz ruhiggestellt, nach einigen Tagen flüchtet. Die Frage, ob die Klinikaufenthalte hilfreich gewesen seien, beantwortet Melle lakonisch: „Nein, sie haben rein gar nichts gebracht. Oder doch: Die anderen konnten zweitweise aufatmen. Die Gesundung aber kam durch andere Faktoren.“ Seine Kritik an den psychiatrischen Kliniken, in denen er gewesen ist, lassen an Rainald Goetzʼ Roman Irre denken, etwa wenn Melle schreibt, dass die Psychiatrie ein „Sammelsurium von Fehlexemplaren“ sei, „die, grob durcheinandergemischt, entsprechend wild miteinander reagieren“, oder bekennt, dass er sich an manche Zeiträume in der Psychiatrie überhaupt nicht mehr erinnern könne, weil er dort mit Medikamenten derart vollgepumpt wurde.

Die Welt im Rücken ist ein Buch, das aufrüttelt und verstört, eines, das die Leser „mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt“ (Franz Kafka). Obwohl sogenannte Selbsterfahrungsberichte über verschiedenste psychische Krankheiten mittlerweile auf dem Buchmarkt massenhaft vorhanden sind, ist Melles Text einzigartig, weil es der Autor schafft, einen in das Geschehen hineinzuziehen und einen – soweit das überhaupt möglich ist – realitätsnahen Eindruck von der Krankheit zu vermitteln. Dabei wird er trotz aller Nabelschau nie larmoyant. Bei aller Drastik und Schwärze des Themas kann man sich ob der Abstrusitäten manchmal ein Lächeln kaum verkneifen – das einem jedoch postwendend im Hals stecken bleibt. Hinzu kommt Melles lebendiger Erzählstil, der das Buch schon allein deshalb aus dem großen Brei der Selbsterfahrungsberichte heraushebt. Nicht umsonst stand es auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2016. Es gibt nicht wenige, die Thomas Melle den Preis gegönnt hätten.

Ganz anders Maxim Biller, der im Literarischen Quartett (14.10.2016) bekundete, es sei eine Katastrophe, dass Melles Buch überhaupt erschienen ist. Und er wisse nicht, ob er an das Buch überhaupt literaturkritische Wertmaßstäbe anlegen könne. Auch wenn seinem Werturteil hier nicht zuzustimmen ist, berührt er doch einen wichtigen Punkt, denn Die Welt im Rücken ist kein Roman und nur bei Verwendung eines dehnbaren Literaturbegriffs überhaupt als solcher zu bezeichnen. Am ehesten ist sein Text ein mit literarischen Mitteln erzählter autobiografischer Bericht. Betrachtet man ihn als genuin literarisches Produkt, so kann man durchaus bemängeln, dass es darin einige Wiederholungen gibt, da die drei beschriebenen manisch-depressiven Schübe zwangsläufig Parallelen zueinander aufweisen. Das liegt aber mehr an der Natur der Sache als an Melles Erzählstil. Langweilig ist das Buch keineswegs.

Interessante Einsichten gibt Melle in Die Welt im Rücken nicht nur in seine Krankheitsgeschichte, sondern ebenso in den Literaturbetrieb. Beispielsweise beschreibt er mehrere Engagements als Drehbuchautor bei verschiedenen Theatern in Deutschland, wo man seine krankheitsbedingten Beleidigungen und Affronts meist lediglich als gewöhnliche Marotten eines Jungautors zu deuten scheint. Man fragt sich als Leser, wer denn hier die „Verrückteren“ sind. Schonungslos ist Melles Blick auf die Lesungen beim Wettbewerb um den Bachmann-Preis in Klagenfurt, denn dort gehe es „vor allem um den sich selbst feiernden Betrieb aus Kritikern, Agenten und Verlegern, und die Autoren stehen irgendwo wie billige Nutten herum und bieten ihr rohes Fleisch feil.“ Seine Lesung bringt er, obwohl er sich „schon monatelang in diesem halbdeliranten Zustand aus Psychose und Alkoholkonsum“ befindet, halbwegs glimpflich über die Bühne, auch wenn er kurz daran denkt, sich wie Rainald Goetz dort vor vielen Jahren die Stirn aufzuschlitzen – aber das wäre dann doch ein „sehr albernes Zitat gewesen“.

Titelbild

Thomas Melle: Die Welt im Rücken.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2016.
348 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783871341700

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